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Zeitmessung: Wer hat an der Uhr gedreht?

Prima für Langschläfer: Das Neujahr 2006 dauert eine Sekunde länger als sonst. Zumindest bei uns in Deutschland. Dagegen verzögert das Einfügen einer Schaltsekunde in der Silvesternacht das Knallen des Sektkorkens für die Engländer und Amerikaner.
Harrison-Chronometer H4
"Die Sonne geht auf und unter und zieht über mich hinweg. Der Mond geht auf und unter und zieht über mich hinweg. Und die Sterne ziehen .." So einfach stellt sich Wawa, der sprechende Waran aus der Augsburger Puppenkiste in dem Stück Urmel aus dem Eis den Wandel der Gestirne und der Zeiten vor, wenn er sich in seine "Mupfl" zurückzieht, um dort ungestört nachdenken zu können. Was der Waran, dem Professor Tibatong auf der fernen Insel Titiwu das Sprechen beibrachte, nicht ahnt: So präzise dreht sich unser Globus gar nicht. Was im Großen durch das Schaltjahr ausgeglichen werden muss, passiert im Kleinen zunehmend durch das Einführen einer so genannten Schaltsekunde.

Es begann im Jahr 1967. Damals einigten sich die Herren über die Zeit sowie die Hüter des SI-Einheitensystems – jeweils internationale Konsortien –, die Sekunde nicht mehr als den 86 400sten Bruchteil eines Tages festzulegen, sondern über eine exakt messbare Frequenz zu definieren. Geeignet schien die Periodendauer einer Mikrowellenstrahlung, die Cäsium-Isotope der Massenzahl 133 bei einem bestimmten elektronischen Übergang abgeben. Daraufhin bauten die Kontrolleure der Zeit auf dieser Basis Atomuhren, die genau 9 192 631 770 Mal in der Sekunde ticken. Besser gesagt: Die Erbauer einigten sich darauf, dass dieses wiederholte Tick-Tack eine Sekunde sei. Derartige Chronografen arbeiten beachtlich genau. Sie gehen in dreißig Millionen Jahren gerade mal um eine Sekunde nach. Hätte ein Dinosaurier das große Sterben überlebt und bereits eine solche Uhr besessen, hätte er sie bis heute nur zweimal um jeweils eine Sekunde neu stellen müssen.

Sumatra-Beben gab Erde einen gewaltigen Kick

Im Vergleich dazu eiert die Erde geradezu durchs All. Das zeigen zumindest astronomische Messungen, die als Fixpunkte so genannte Quasare – weit entfernte und extrem leuchtstarke quasistellare Objekte – anvisieren. Der Globus dreht sich mal schneller, meist aber langsamer als in der Vergangenheit. Schuld daran sind viele Effekte: die Gezeitenwirkungen des Mondes und der Sonne, globale Großwetterlagen, Meeresströmungen, die unterschiedliche Verteilung der Magmamassen im Erdinneren oder aber auch Naturkatastrophen. Das schwere Beben vom Dezember 2004 vor der Küste Sumatras erschütterte unseren Planeten beispielsweise derart gewaltig, dass es der Erdkugel einen – für Wissenschaftler messbaren – Stoß versetzte. So stellten Forscher des Jet Propulsion Laboratory der Nasa fest, dass es die Polachse um einige Zentimeter verschob. Gleichzeitig gab es der Erdrotation einen zusätzlichen Kick: Sie drehte sich danach um fast drei Mikrosekunden schneller. Die Wissenschaftler erklären das damit, dass etwas mehr Masse zum Erdmittelpunkt driftete, was die Rotation beschleunigte – vergleichbar mit einem Eiskunstläufer, der seine Arme an den Körper presst, um seine Pirouette zu beschleunigen.

Vor derlei Naturereignisse haben sich die Hüter der Zeit durch das Einführen der Atomzeit unabhängig gemacht. Heute ermitteln mehr als 250 Atom-Chronometer die so genannte "koordinierte Weltzeit" oder Universal Time Coordonné UTC. In Deutschland ist beispielsweise die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig mit im Boot. Doch da die träge Erde langsam in die Jahre kommt und dem Pulsschlag dieser technischen Apparate hinterher hechelt, führten die Zeitwächter immer wieder mal Schaltsekunden ein. Im Jahr 1972 verordneten die Uhrmacher ihren Chronometern sogar eine Pause von gleich zehn Sekunden. Seither kam im Schnitt alle 18 Monate eine Schaltsekunde hinzu – seit 1972 insgesamt 22 Mal, zuletzt im Jahr 1998. Sie werden entweder am 30. Juni oder am Ende des Jahres eingefügt. "Negative" Schaltzeiten – also das Überspringen einer Sekunde – ist ebenso denkbar, war aber bislang noch nicht erforderlich.

Eine Minute mit 61 Sekunden

Nun ist es wieder so weit. Der Internationale Dienst für Erdrotation und Referenzsysteme (International Earth Rotation and Reference Systems Service, IERS) beschloss, dem jetzt ablaufenden Jahr eine zusätzliche Sekunde zu verpassen. Um Mitternacht des 31. Dezembers 2005 kommt nach 23.59.59 Uhr ausnahmsweise 23.59.60 Uhr, bevor die Zeitmesser auf 00.00.00 umschlagen. Damit dauert der Silvesterabend dieses Jahr mit 86 401 Sekunden einen Augenblick länger als üblich – zumindest in Greenwich und westlich davon. Alle anderen haben wegen der unterschiedlichen Zeitzonen erst am Neujahr etwas davon.

Ob auch künftig mit dem Einfügen einer zusätzlichen Sekunde die Uhren an die Erddrehung angepasst werden sollen, steht aber in den Sternen. "Vor allem die Amerikaner wollen die Schaltsekunde abschaffen", erklärt Axel Nothnagel, Geodät an der Universität Bonn, der am jahresendzeitlichem Anpassungsprozess beteiligt ist. "Bei manchen Anwendungen ist die Synchronität voneinander unabhängiger Computersysteme enorm wichtig", erläutert er. "Und da kann eine derartige Korrektur ein gefährliches Sandkorn im Getriebe darstellen."

Auswirkungen hat das beispielsweise auf das weltraumgestützte Global Positioning System GPS. Die Betreiber dieses Satellitensystems müssen ihre Chronometer regelmäßig mit irdischen Atomuhren synchronisieren. Wegen relativistischer Gravitationseffekte – einer Erkenntnis, die wir Albert Einstein zu verdanken haben – würden sie sonst schnell falsch gehen und keine genaue Positionsbestimmung zulassen. Würde da etwas schief gehen, hätte es spürbare Auswirkungen auf alle Navigationsgeräte, die diesen Systemen vertrauen.

Gegner der Schaltsekunde schlagen daher vor, nicht zu kleckern, sondern zu klotzen: Sobald die Abweichung auf mehr als eine halbe Stunde anwachse, so deren Forderung, solle man die Uhren um eine ganze Stunde nach hinten stellen. Nach Schätzungen von Nothnagel wäre das etwa im Jahr 2600 der Fall. Setzt sich diese Ansicht durch, könnten sich die Freunde langer Sommerabende freuen: Im Vergleich zu heute, würde es dann erst eine halbe Stunde später dunkel werden. Doch ist die "große" Lösung unter den Experten strittig – und das wohl kaum, weil man den Ur-Urenkeln das sommerliche Vergnügen missgönnt.

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