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Verhaltensforschung: Wer ist hier der Boss?

Einer sollte wissen, wo es lang geht. Oder gehen sollte. Denn in großen Gruppen ist es nicht immer ganz so einfach, sich auf eine Richtung zu einigen. Wer weiß schon, wer etwas weiß? Und ob das auch das Richtige ist?
Vogelschwarm
Wohin soll es dieses Jahr in den Urlaub gehen? Was? Das steht noch nicht fest? Dann wird es aber höchste Zeit, den Familienrat zusammenzutrommeln und den Sommer zu verplanen. Schließlich gilt es eine Menge zu berücksichtigen, um die heißeste Phase des Jahres nicht mitten auf dem Kamener Kreuz zu verbringen. "Information" heißt das eine Schlüsselwort, "Informationstransfer" das andere. Einer muss wissen (oder in Erfahrung bringen), wo es schön, komfortabel, günstig, interessant, entspannend, kurz: ideal ist, und wie man dort hinkommt. Sein Wissen tut er dem Partner und den Kindern kund, die dann völlig unerwartet Wunschziele auf der anderen Seite des Globus äußern, für die ebenso andere finanzielle Mittel aufzubringen wären. Nach einigen Argumenten, Stänkeleien und diversen Machtwörtern steht dann endlich fest: Es geht wieder zur Oma aufs Dorf.

Was im kleinen Rahmen schon problematisch werden kann, sollte sich bei großen Gruppen deutlich schwieriger gestalten. Wie entscheiden beispielsweise riesige Fischschwärme, in welche Richtung sie schwimmen sollen? Wer bestimmt, an welcher Furt eine Gnuherde über den Fluss setzt? Welches Tier führt seine Artgenossen zu einem sicheren Wasserloch? Welche Gans findet den Weg ins Winterquartier? Besonders Gemeinschaften ohne autoritären Anführer sind darauf angewiesen, dass einzelne Individuen mit den nötigen Informationen im entscheidenden Moment die Leitung übernehmen. Nur: Woher wissen die anderen Tiere, wem sie folgen sollen? Und was sollen sie tun, wenn zwei oder mehr Leithammel in verschiedene Richtungen drängen?

Ein Team von Wissenschaftlern um Iain Couzin von der Princeton-Universität hat sich dieses Problems mit mathematischer Genauigkeit angenommen und das Verhalten größerer Tiergruppen auf der Wanderschaft mit einigen Formeln modelliert. Dabei verlangten die Wissenschaftler von den einzelnen Individuen nur die Einhaltung weniger Regeln: Jedes Tier reagiert auf seine Nachbarn, zu denen es einen Minimumabstand wahrt, ohne sich von der Herde zu entfernen. Eine bestimmte Anzahl der virtuellen Tiere bekam den Drang, in eine vorgegebene Richtung zu marschieren, während es der großen Masse egal war, wohin die Reise ging. Allerdings wusste kein Individuum, wer mit Vorgabe unterwegs war und wer ohne. So ging es in vielen Runden per Computer auf die Wanderschaft ins Ungewisse.

Wie erwartet, lief die Reise besser, je mehr Tier wussten, wo das Ziel lag. Die Gruppe blieb enger beisammen und traf früher ein. Das war jedoch vor allem bei kleineren Herden der Fall. Bei hohen Individuenzahlen genügte schon ein geringerer Anteil ortskundiger Mitglieder. Noch mehr Pfadfinder steigerten die Effektivität nicht nennenswert und könnten die Gruppe sogar unverhältnismäßig viel Ressourcen kosten, wenn man beispielsweise an einen wandernden Bienenschwarm denkt, dessen Immen sich den Schwänzeltanz der ersten Scouts abschauen müssten, statt anderen Aufgaben nachzukommen.

Besonders schwierig wird die Entscheidung, wenn es mehrere Leittiere in unterschiedliche Richtungen zieht. Wem soll man als einfaches Herdenmitglied dann folgen? Das kommt darauf an, antwortet das Computermodell. Wenn die Anzahl der Wegexperten für zwei Richtungen gleich ist, wählt die Herde eben den Mittelweg – und würde im echten Leben an beiden Wasserlöchern vorbeilaufen. Es sei denn, die bevorzugten Richtungen liegen weit auseinander. In solchen Fällen entscheidet der Zufall darüber, welchen Pfad die Truppe einschlägt.

Vorbildlich demokratisch geht es hingegen zu, wenn die eine Expertengruppe zahlenmäßig überwiegt. Selbst bei einem kleinen Unterschied entscheidet sich die Herde für den Vorschlag der Mehrheit der Wissenden. Dieser Effekt ist noch größer, wenn die informierten Tiere sich durch einen kleinen Zusatz in ihrer Gleichung über den eingeschlagenen Weg beeinflussen lassen: Wer überstimmt wurde, resigniert, der Sieger nutzt seinen Vorteil zu einem rigoroseren Kurs.

Damit eine unwissende Masse sich auf eine Richtung einigen kann, genügt es also, dass einige Mitglieder, die sich nicht einmal kennen müssen, Bescheid wissen. Diese brauchen weder besonders groß oder stark, noch auf irgendeine Weise autoritär zu sein. Ihr leichter Druck auf ihr Ziel hin und das anpassende Ausweichen der Herde reichen aus, um die Gemeinschaft zu lenken. Schon erstaunlich, wie akkurat simple mathematische Gleichungen mitunter das komplexe Verhalten des wahren Lebens widerspiegeln können.

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