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Medizin studieren: Wer kriegt einen Studienplatz?

Wer Medizin studieren will, muss oft extreme Wartezeiten in Kauf nehmen. Eine Website verrät nun jedem, wie seine Chancen auf einen Studienplatz stehen.
Studierende an der Universität

Wer in Deutschland Medizin studieren will und kein Einserabitur hat, braucht unter Umständen einen sehr langen Atem. Sieben Jahre muss aktuell warten, wer die Hochschulreife nur mit der Note 2,0 oder knapp darunter erlangt hat. Das ist länger, als ein Medizinstudium im Regelfall dauert. Im Jahr zuvor betrug die Wartezeit noch zwölf Semester. Müssen Studierende bald gar acht Jahre Wartezeit einplanen, wenn sie zwar hochmotiviert sind, aber in der Schule nur zum guten Mittelfeld gehörten?

Eine Antwort darauf findet sich im Netz: Wissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben vor Kurzem ein Onlinetool entwickelt, mit dem Bewerber ihre vermutlichen Chancen vorausberechnen können, innerhalb einer zumutbaren Zeit einen Studienplatz in Medizin zu ergattern.

Und das Ergebnis, das das "Zulassungsorakel" (www.zulassungsorakel.de) am Ende ausspuckt, ist womöglich so niederschmetternd, dass die Bewerber sich lieber beizeiten für ein anderes Studienfach entscheiden. Zum Wintersemester 2014/15 beispielsweise – das sind die letzten vorliegenden Zahlen – gab es bundesweit 8999 Studienplätze, um die sich 43 002 Interessenten bewarben. Das sind 4,8 Bewerber pro Platz.

Direkt an die Uni – nur über die Abinote?

Als Berechnungsgrundlage für ihr Tool nutzten die Informatiker die Daten der Stiftung für Hochschulzulassung, auch bekannt als Hochschulstart.de. 250 000 Studierende und 36 Hochschulen galt es auszuwerten. "Wir haben sämtliche Bewerberprofile – erfolgreiche wie nicht erfolgreiche – zwischen 2009 und 2013 analysiert und auch die Kriterien erfasst, nach denen Hochschulen, die eine Medizinerausbildung anbieten, ihre Bewerber aussuchen", erläutert der Informatiker und Nachwuchsgruppenleiter Achim Rettinger.

Hochschulstart.de (das 2008 die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen, ZVS, ablöste) ist das Nadelöhr, durch das alle Bewerber hindurchmüssen. Zumindest all jene, die sich für einen Studiengang mit örtlicher oder mit bundesweiter Zulassungsbeschränkung – wie etwa Medizin – interessieren. Die Stiftung übernimmt das Bewerbermanagement für die Hochschulen. Für Medizin heißt das: 20 Prozent der Studienplätze werden zentral nach Abiturnoten vergeben, weitere 20 Prozent nach Wartezeit seit dem Abitur. Die restlichen 60 Prozent werden von den Hochschulen nach individuellen Kriterien vergeben. Diese reichen – neben der Abinote, die immer auch berücksichtigt werden muss – vom erfolgreich absolvierten bundeseinheitlichen Test für medizinische Studiengänge (TMS, kurz: Medizinertest) bis hin zu einschlägigen Praktika, Ausbildungen in einem medizinischen Beruf, nachgewiesenen sportlichen Höchstleistungen oder ersten Preisen bei "Jugend forscht".

Blick in die Zukunft |

Anhand von Daten zur bisherigen Zulassungspraxis lässt sich eine Abschätzung abgeben: Wie wahrscheinlich ist es, in der aktuellen Bewerbungsrunde einen Studienplatz in angemessener Wartezeit zu bekommen?

Mehr Details über das zu Grunde gelegte Berechnungsverfahren finden sich in der Publikation des Forscherteams: Dominik Jung, Lorenz Kemper, Benedikt Kaempgen, Achim Rettinger: Predicting the Admission into Medical Studies in Germany: A Data Mining approach (Open Access, KIT).

All diese Zahlen, Daten und Kriterien haben Achim Rettinger und sein Team aus Doktoranden und Masterstudierenden analysiert und daraus schließlich ein datengetriebenes mathematisches Modell entwickelt.

Orakel lernt aus der Erfahrung

Wie funktionieren die Orakelalgorithmen? Die Bewerber geben ihre Abiturnote sowie das Jahr des Abiturs an, außerdem die Zahl der Wartesemester (wenn man zwischendurch für ein anderes Studienfach eingeschrieben war, zählen diese Semester nicht als Wartesemester mit), ob sie den Medizinertest absolviert und welches Ergebnis sie erzielt haben, ob sie in der Wartezeit eine Ausbildung abgeschlossen haben, und ob es sich dabei um eine für das individuelle Auswahlverfahren der Hochschulen beziehungsweise für den Medizinerberuf relevante Ausbildung handelt (zum Beispiel als Krankenpfleger oder Rettungssanitäter). Ferner sind sechs Favoritenhochschulen anzugeben, an denen man gerne studieren würde.

Am Ende verkündet das Orakel dann, ob man "leider keine Chance" hat oder aber eine gute Chance hat, an einer der angegebenen Unis einen Studienplatz zu ergattern. Man kann verschiedene der Variablen ändern – wie etwa die Auswahl der Hochschulen oder die Wartezeit.

"Das Orakel zeigt auch, dass es sinnvoll sein kann, flexibel bei der Wahl seiner Favoritenhochschulen zu sein", sagt Achim Rettinger. "Oft hat man an vermeintlich unattraktiven Hochschulstandorten nämlich mit einer gewissen Anzahl von Wartesemestern auch mit einem Notendurchschnitt schlechter als 1,5 eine Chance, während man für eine Bewerbung an einer Exzellenzuniversität wie Heidelberg auch mit vielen Wartesemestern und zusätzlichen Skills wie einer vorherigen Ausbildung zum Krankenpfleger vermutlich chancenlos bleibt."

Allerdings: 2013 wurden in Deutschland beispielsweise nur drei Bewerber zugelassen, die eine Abiturnote von 2,0 und schlechter hatten. Für Achim Rettinger macht das Tool deshalb auch aus einem anderen Grund Sinn: "Vielen Studierenden würde es bei ihrer Lebensplanung helfen, wenn sie ungefähr einschätzen können, wie lange sie voraussichtlich warten müssen. Und ob sich das dann für sie noch lohnt – oder ein Kurswechsel hin zu einem anderen Fach vernünftiger wäre."

Teure Aktualität

Und wie treffsicher ist das Orakel? "In über 90 Prozent aller Fälle liegen wir mit unseren Vorhersagen richtig. Dass es nicht 100 Prozent sind, liegt daran, dass die Vorhersagemodelle aus konkreten Daten lernen. Deshalb kommt es vor, dass nicht jeder mögliche künftige Student auch in unseren Daten vorkommt und somit unser Modell bei seltenen Personenprofilen nicht korrekt generalisieren kann", sagt Rettinger.

Das Problem ist auch: Die Daten des Zulassungsorakels sind derzeit auf dem Stand von 2013. Um es wirklich für Studierende nutzbar zu machen und eine gleich bleibend hohe Trefferquote der prognostizierten Chancen auf einen Studienplatz zu erreichen, müsste es regelmäßig um aktuelle Datensätze ergänzt werden, so dass den Nutzern stets die Zahlen des gerade zurückliegenden Semesters zur Verfügung stünden. "Das muss allerdings finanziert werden, denn es ist eine aufwändige Arbeit, um die sich ein Mitarbeiter regelmäßig kümmern muss", sagt Rettinger.

Das Zulassungsorakel könnte für Institutionen wie die Arbeitsagenturen oder auch für Hochschulstart.de brauchbar sein. "Es könnte ein interessantes Tool sein, um Trendentwicklungen zu verfolgen", sagt etwa Patrick Holtermann, Pressesprecher von Hochschulstart.de. Doch für den regulären Einsatz im Bewerberportal komme das Zulassungsorakel nicht in Frage. "Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Prognose des Orakels wirklich zutrifft, relativ hoch ausfällt, so wäre das für uns noch immer schlichtweg zu unsicher, denn als Stiftung des öffentlichen Rechts sind wir schließlich zu juristisch einwandfreiem Handeln verpflichtet", sagt Holtermann. Zudem veränderten sich die Bedingungen und somit die Chancen von Semester zu Semester. "Stellen Sie sich vor, ein Bewerber gibt seinen Plan, Medizin zu studieren, auf Grund der Orakelprognose entmutigt auf. Und hinterher stellt sich heraus, er hätte dennoch eine Chance gehabt." Eine Klagewelle aufgebrachter Bewerber gegen Hochschulstart.de wäre wohl die Folge.

Oder doch auf dem Klageweg?

Der juristische Weg ist ohnehin ein Mittel der Wahl für viele erfolglose Bewerber, die sich mit einer schlechten Prognose nicht abfinden wollen. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe prüft derzeit, ob die aktuelle Fassung des Hochschulrahmengesetzes geändert werden muss, um der Wartespirale ein Ende zu bereiten. Hintergrund ist die vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nach Karlsruhe weiterverwiesene Frage, ob es zumutbar ist, dass die Wartezeit die Dauer des Studiums übersteigt. "14 Wartesemester sind skandalös. Das Verfassungsgericht muss sich endlich dazu äußern", sagt der Marburger Rechtanwalt Reinhard Karasek, Mitglied des Verbundes "Rechtsanwälte gegen Numerus Clausus". Er verhilft seit etwa 15 Jahren klagenden Bewerbern zu Studienplätzen, die meisten davon in der Medizin. Karasek räumt ein, dass die Chancen auf Erfolg jedoch geringer geworden seien als noch in den 1990er Jahren.

Kompliziert wird das Ganze vor allem durch die so genannte Kapazitätsverordnung, die unter Berücksichtigung von wissenschaftlichem Personal und – bezogen auf die Medizin – von Patientenzahlen in den Unikliniken vorgibt, wie viele Studierende eine Hochschule auszubilden hat. Damals, kurz nach der Wende, hätten vor allem Hochschulen in den neuen Bundesländern – wohl auch aus Unerfahrenheit mit dem neuen System – ihre Kapazitäten falsch berechnet. Somit seien die Chancen für eine Klage dort sehr gut gewesen.

Heute wollen die Universitäten kein Risiko mehr eingehen und lassen sich umfassend von Juristen beraten, bestätigt Joseph Pfeilschifter, Dekan des Fachbereichs Medizin an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main und Mitglied des Präsidiums des Medizinischen Fakultätentages. "Unsere persönlichen Kriterien für die Bewerberauswahl sind deshalb eine Mischung aus Abiturnote und dem Ergebnis des Medizinertests. Es sind die beiden einzigen Kriterien, die wirklich gerichtsfest sind, deshalb sind wir von der Berücksichtigung so genannter weicher Kriterien wie soziale Kompetenzen oder Berufsausbildungen im medizinischen Bereich abgerückt." 20 von 36 Hochschulen mit Universitätsmedizin machen deshalb von dem Test Gebrauch.

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