Indien: Wer schuf diese innovativen Steinwerkzeuge?
Eine dramatische Verbesserung der Werkzeugherstellung kennzeichnet den Übergang von der älteren zur mittleren Altsteinzeit: In ersterer nahmen die Menschen einen geeigneten Steinbrocken und schlugen so lange störendes Material ab, bis ein taugliches Werkzeug übrig blieb, zum Beispiel ein Faustkeil. In der mittleren Altsteinzeit bearbeiteten sie den Ausgangsbrocken so lange, bis sie mit einem einzigen gezielten Schlag das Werkzeug selbst herauslösen konnten: den so genannten Abschlag, etwa eine dünne Klinge.
Geht dieser technologische Wandel auf den anatomisch modernen Menschen zurück, oder handelt es sich um eine Innovation, die verschiedene Menschenarten in unterschiedlichen Regionen unabhängig voneinander machten? Ausgrabungen in Indien lassen diese Frage nun in neuem Licht erscheinen.
Denn der charakteristische Übergang von der alten zur neuen Technik zeigt sich auch in einer Ansammlung von mehr als 7000 Steinwerkzeugen, die Forscher in Attirampakkam an der indischen Südostküste zu Tage förderten. Das Überraschende: Laut Altersbestimmung sind die Funde bis zu 200 000 Jahre älter als für diese Weltregion erwartet.
Das Team um Kumar Akhilesh und Shanti Pappu vom indischen Sharma Center for Heritage Education datiert die Werkzeuge anhand der Fundschichten auf ein Alter zwischen 385 000 und 172 000 Jahren, wie die Forscher im Fachmagazin "Nature" schreiben.
Laut bisheriger Lehrmeinung kamen unabhängig voneinander in Europa die Neandertaler und in Afrika die direkten Vorfahren des anatomisch modernen Menschen auf die Idee, aus den Abschlägen ihre Werkzeuge zu gestalten – und zwar vor 300 000 bis 200 000 Jahren. Nach Südasien soll diese so genannte Levallois-Technik allerdings erst vor weniger als 100 000 Jahren durch die Wanderungsbewegungen des damaligen Menschen gelangt sein. Der Fund in Attirampakkam legt nun nahe, dass der moderne Homo sapiens entweder schon viel früher Asien besiedelte oder dass es bei den damaligen Einwohnern des Subkontinents ebenfalls zu dieser Innovation kam.
Technologietransfer "out of Africa"?
Fossilfunde sind in Indien kaum erhalten, auch in Attirampakkam wurden keine menschlichen Überreste gefunden. Deshalb ist offen, wer hinter den Abschlägen steckt. Schließt man aus, dass zur damaligen Zeit Vorfahren des modernen Homo sapiens dort lebten, bleiben nur Neandertaler oder Denisova-Menschen als Kandidaten übrig. Weltweite Klimaveränderungen könnten dazu geführt haben, dass Menschengruppen leichteres Werkzeug bevorzugten.
Doch kürzlich publizierte Studien machen auch das andere Szenario plausibel. Demnach trat der anatomisch moderne Mensch in Afrika schon viel früher auf als angenommen, nämlich um 300 000 Jahre vor heute. Gleichzeitig verlegen Funde aus Israel die frühesten Anfänge der Auswanderung aus Afrika auf die Zeit vor 185 000 Jahren. Aus beidem ergibt sich die Möglichkeit, dass das Aufkommen der Levallois-Technik in Europa wie in Asien an unsere direkten Vorfahren geknüpft ist und nicht an die vor Ort lebenden archaischen Menschenformen.
Immer deutlicher schält sich heraus, dass die tatsächlichen Abläufe zu jener Zeit weit komplexer waren, als Forscher in den vergangenen Jahrzehnten annahmen. Für den Anthropologen John Hawks von der University of Wisconsin in Madison verliert das Konzept der Wanderung "out of Africa" als Schlüsselmoment der Menschheitsgeschichte zusehends an Erklärungskraft. Wie er auf seinem Blog schreibt, sei der eigentliche Auszug aus Afrika ein "winziges Ereignis, das über die letzten Jahrhunderttausende vielfach wiederholt wurde". Weil es zudem immer wieder Vermischungen der Neuankömmlinge mit den Alteingesessenen gab, bildeten sich mehrfach Gruppen heraus, deren Abstammung sich nicht mehr einfach in das herkömmliche Raster von archaischen und modernen Formen des Menschen einpassen lässt.
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