Mathematische Modellierung: Warum sind Kieselsteine oval?
Beim Steinehüpfen hilft es, einen möglichst flachen Stein zu erwischen. An einem Kiesstrand ist die Auswahl meist groß. Die dortigen Kieselsteine wurden durch die Kraft des Wassers immer wieder bewegt und übereinandergerieben, wodurch sie ihre charakteristische glatte Form erhalten. Wie genau dieser Prozess vonstattengeht, ist allerdings schwer zu erklären. Schon vor mehr als 2300 Jahren dachte Aristoteles darüber nach. Er kam zu dem Schluss, dass der ständige Abrieb die Kieselsteine in Kugeln verwandeln müsse. Aber der Kies, den man in Flüssen oder Küstenregionen vorfindet, ist keineswegs kugelförmig – die Steine sind meist abgeflacht und oval.
In den folgenden Jahrhunderten versuchten Fachleute immer wieder, die Entstehung der flachen Formen zu erklären. Sie führten dazu Experimente durch oder konzipierten theoretische Modelle. Aber Durchbrüche blieben lange Zeit aus. In den letzten Jahren wurden jedoch etliche Anwendungsbereiche des Nischengebiets deutlich, weshalb es sich zu einem wichtigen Forschungszweig entwickelt hat.
In der Weltraumforschung spielen Abriebphänomene beim Weltraummüll eine wichtige Rolle
Möchte man beispielsweise verstehen, wie Küstengebiete infolge des steigenden Meeresspiegels abgetragen werden, muss man die zu Grunde liegenden Mechanismen des Gesteinsabriebs kennen. Auch die Eigenschaften von Verbundwerkstoffen, die Kieselsteine enthalten, hängen von deren genauer Form ab. So zeigen computergestützte Modelle, dass der Durchmesser die Last bestimmt, bei der es zu einem Bruch kommt. Zudem kann die Geometrie abgenutzter Steine Hinweise auf die geologische und ökologische Geschichte von Gesteinsschichten liefern. In der Weltraumforschung spielen Abriebphänomene etwa beim Weltraummüll eine wichtige Rolle. Die Form der Trümmer ist entscheidend, um das Risiko einzuschätzen, das sie für Satelliten und bemannte Raumfahrtmissionen darstellen. Das ist nur eine kleine Auswahl der Gründe, weshalb sich inzwischen viele verschiedene Fachgebiete diesem Phänomen widmen.
Die ovalen Steinformen in der Nähe der schottischen Küstenstadt Dunbar beschäftigten im Jahr 1877 den Geologen W. T. Black so sehr, dass er eine Art Katalog anlegte, in dem er seine Funde anhand ihrer Abmessungen kategorisierte. In seiner Abhandlung ließ Black die Arbeiten von Aristoteles unerwähnt – und tatsächlich widersprechen seine Beobachtungen der Schlussfolgerung des antiken Philosophen. Unter den klassifizierten Objekten fand der Geologe kaum kugelförmige Elemente. »Es wirkt, als gehe die abgerundete Form der Kieselsteine auf ähnliche Vorgänge zurück wie beim Abrieb von Kernseife nach häufigem Gebrauch: nämlich eine gleitende Bewegung in der Handfläche und ein gelegentliches Herumrollen der Masse«, schrieb er.
In den darauffolgenden Jahren berichteten andere Geologen über ähnliche ovale Formen von Strandkieseln, aber offenbar führten sie keine experimentellen Untersuchungen durch. Um die Widersprüche zwischen Aristoteles' Theorie und den Beobachtungen zu erklären, sind sorgfältige Experimente und theoretische Modellierungen erforderlich. Die Mathematik hinter dem Abriebprozess ist ziemlich kompliziert. Im 20. und 21. Jahrhundert erzielten Fachleute langsam Fortschritte in diesem Nischenthema, aber mit den Details sind sie noch heute beschäftigt.
Experimente ließen sich nicht erklären
Vor mehr als 100 Jahren führte Robert Strutt (der vierte Lord Rayleigh) die ersten Experimente durch, um die Formen von Steinen zu ergründen, die sich durch Abrieb ergeben. Dafür schliff er Kreidestücke ab und erkannte, dass abgeflachte ovale Scheiben entstanden, die denen von Kieselsteinen sehr ähnelten.
Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein mathematisches Modell dazu. Doch 1942 gelang William Firey erstmals ein Durchbruch auf dem Gebiet. Er fasste die intuitive Vorstellung, dass spitze Formen schneller erodieren als Flächen, in eine einfache und elegante Formel zusammen: Die Abtragungsrate an einem Punkt x auf der Oberfläche eines Steins ist proportional zur Krümmung im Punkt x. Das Modell von Firey wird daher als reines Krümmungsmodell bezeichnet. Indem er dieses Prinzip durch eine Differentialgleichung (eine Gleichung, die von Variablen und deren Ableitungen abhängt) ausdrückte, konnte Firey beweisen, dass konvexe Steine irgendwann kugelförmig werden. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte erweiterten andere Fachleute das Krümmungsmodell, doch sie führten alle zu sphärischen Formen, die den Beobachtungen widersprechen.
Grund dafür ist wohl eine Annahme, die auf Aristoteles zurückgeht und in Fireys Arbeit ebenfalls auftaucht: Demnach unterliegen die Kieselsteine einer »isotropen« Reibung. Das bedeutet, die Steine werden gleichmäßig aus allen Richtungen abgeschliffen. In diesem Fall kämen alle Punkte auf der Oberfläche des Steins mit gleicher Wahrscheinlichkeit mit der Abriebebene in Kontakt. Ein Beispiel für isotropen Verschleiß bietet eine Steintrommel, in der alle Objekte zu Kugeln werden, wenn man lange genug wartet.
In den Modellen von Aristoteles oder Firey stellt die Kugel ein stabiles Gleichgewicht dar. Jede Form, die sich einer Kugel nähert, wird mit der Zeit noch kugelförmiger. Aber das trifft nicht auf Kieselsteine zu. Rayleigh beobachtete beispielsweise »eine Tendenz, sich von einer Kugel zu entfernen«. Wenn ein kugelförmiger Stein mit gleicher Wahrscheinlichkeit in jeder Richtung abgeschliffen wird, befindet er sich in einem Gleichgewicht. Doch sobald es an einer Stelle etwas mehr Abrieb gibt, entfernt er sich von der Kugelform und kehrt nicht zu ihr zurück.
Die bedeutende Rolle des Zufalls
Um das in einem mathematischen Modell zu beschreiben, haben wir zunächst untersucht, welche physikalischen Prozesse dazu führen. Uns fiel schnell auf, dass nicht alle Punkte auf der Oberfläche eines Steins mit gleicher Wahrscheinlichkeit mit dem Strand in Berührung kommen. Der Abriebprozess ist also nicht notwendigerweise isotrop. Geht man davon aus, dass die dafür erforderliche Energie ausschließlich von unvorhersehbar einlaufenden Wellen stammt, ist der Kontaktpunkt des Steins mit dem Strand eine zeitlich veränderliche Zufallsvariable. Jedes Mal, wenn ein Kieselstein auf den Boden trifft, wird ein kleines Stück seiner Oberfläche abgetragen. Dazu haben wir folgendes Modell vorgeschlagen: Die Abtragsrate an der Stelle x des Steins ist proportional zur dortigen Krümmung multipliziert mit der erwarteten Kontaktzeit.
Nun mussten wir also noch herausfinden, wie sich die zufällige Kontaktzeit modellieren lässt. Diese hängt sowohl von der Form des Steins als auch von der Wellendynamik ab. In sehr seichtem Wasser bleiben die Kieselsteine öfter in einer stabilen Position liegen. Die geringe Energie der Wellen führt dazu, dass die Steine auf dieser Seite zu einer flachen Oberfläche abgeschliffen werden, ähnlich wie bei einer Schleifmaschine. Bei starkem Wellengang steigt hingegen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass alle Punkte der Steinoberfläche etwa gleich oft mit dem Strand in Berührung kommen. Damit unterliegt der Kieselstein einem nahezu isotropen Abrieb und wird eher kugelförmig.
Bei der Modellierung eines komplizierten physikalischen Prozesses, wie es hier der Fall ist, muss man in der Regel einen Kompromiss zwischen Präzision und Einfachheit schließen. Der genaue Abriebvorgang hängt zum Beispiel auch von aero- und hydrodynamischen Kräften ab, der relativen Härte der Stein- und Sandpartikel und sogar von den winzigen Schwankungen der Gravitationskräfte. Allerdings ist es nahezu unmöglich, ein so detailreiches Modell auszuwerten. Deswegen ist es oft wichtiger, sich auf die wesentlichen Aspekte zu konzentrieren.
Stellen Sie sich einen faustgroßen, aber nicht kugelförmigen Stein vor, der von Wasserwellen auf einem ebenen Sandstrand umhergerollt wird. Angenommen, das Wasser rollt den Stein in eine aufrechte Position, so dass seine potenzielle Energie proportional zur Höhe des Wellenbergs ist. Wenn die erwartete Anzahl von Wellen, die erforderlich ist, damit der Stein an Punkt x1 aufliegt, doppelt so hoch ist wie die erwartete Anzahl von Wellen, damit Punkt x2 mit dem Strand in Berührung kommt, dann wird x1 im Laufe der Zeit halb so oft aufliegen wie x2. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Stein an einem bestimmten Punkt aufliegt, hängt also vom Kehrwert der erwarteten Zeit bis zum Auftreffen auf diesen Punkt ab.
Echte Wellen sind nicht exakt periodisch oder vorhersehbar wie eine Sinus- oder Kosinusfunktion. Sowohl die Zeiten zwischen aufeinanderfolgenden Scheitelpunkten als auch deren Höhe sind Zufallsvariablen. In der Ozeanografie geht man davon aus, dass die Wellenberge einem Potenzgesetz folgen, der so genannten Pareto-Verteilung. Pareto-Zufallsvariablen zeichnen sich dadurch aus, dass die erwartete Zeit, bis eine Welle der Höhe l auftritt, proportional zu lp ist, wobei die Potenz p ein fester Wert ist. Falls beispielsweise p = 3, dann ist die erwartete Anzahl der Wellen, um einen Wellenberg mit einer Höhe von mindestens 2 Metern zu erreichen, 2p = 23 = 8. Das heißt man muss im Schnitt achtmal so lange warten, um einen 2-Meter-Wellenberg zu sehen, wie für eine 1-Meter-Welle.
Die durchschnittliche Kontaktzeit eines Punkts auf der Steinoberfläche mit dem Strand hängt also vom Faktor p der zu Grunde liegenden Pareto-verteilten Wellenenergie ab: Die erwartete Kontaktzeit ist proportional zu (1/h)p. Da die Abtragungsrate an einem Kontaktpunkt proportional zur Krümmung an diesem Punkt ist, ergibt sich daraus: Die Abtragungsrate an einem Punkt x ist proportional zur Krümmung an der Stelle geteilt durch die p-te Potenz des vertikalen Abstands h(x) von x zum Massenschwerpunkt des Steins.
Eine Gleichung ohne bekannte Lösung
Das Modell enthält drei wesentliche Faktoren, die die Form des Steins beeinflussen: erstens die Krümmung des Steins am Kontaktpunkt, zweitens der vertikale Abstand h(x) des Kontaktpunkts vom Massenschwerpunkt und drittens die Potenz p des Pareto-Wellenprozesses, die die Intensität der Wellen widerspiegelt. Diese drei Punkte hängen nicht voneinander ab. Wie das reine Krümmungsmodell von Firey und dem Mathematiker Ben Andrews besteht auch unser Modell aus einer Gleichung, die zunächst einfach zu formulieren ist. Allerdings handelt es sich dabei um eine »nichtlineare partielle Integrodifferentialgleichung«, die sich nicht exakt lösen lässt. Insbesondere kann man nicht berechnen, welche genaue ovale Formen die Steine haben.
Das war aber gar nicht unser Ziel. Wir wollten bloß ein einfaches und intuitives Modell finden – selbst wenn es mit der heutigen Mathematik nicht lösbar ist. Möglicherweise gibt es keine bekannte Grenzgleichung oder keinen Beweis für die Entwicklung der Steinform.
Glücklicherweise lassen sich die Gleichungen aber mit Hilfe von Computern näherungsweise lösen. Rayleigh wies ausdrücklich darauf hin, dass die Steine nicht ellipsenförmig sind. Er untermauerte das experimentell, indem er von einem Kieselstein mit elliptischer Form ausging, der nach Abrieb eine nicht elliptische Form annahm. Heute weiß man, dass die ovalen Grenzformen tatsächlich keine Ellipsen sind, aber ihre exakte Gleichung, die einer Lösung unserer Integrodifferentialgleichung entsprechen würde, ist noch nicht entdeckt worden.
Die Frage nach der Form von Kieselsteinen führt zu Antworten, die die Geologie des Mars erklären
Die entstehenden Formen von Objekten, die Abrieb ausgesetzt sind, haben sich zu einem wichtigen Forschungsgebiet entwickelt – sowohl theoretisch als auch experimentell. 2017 hat die Ungarische Akademie der Wissenschaften an der Budapester Universität für Technologie und Wirtschaft zu dem Zweck eine Forschungsgruppe für Morphodynamik gegründet. Diese hat bedeutende Fortschritte bei der Formung von Strand- und Flusssteinen gemacht. Zwei der beteiligten Forscher, der Geophysiker Douglas Jerolmack von der University of Pennsylvania und der Mathematiker Gábor Domokos von der Universität Budapest, haben zum Beispiel Gesteine untersucht, die der Marsrover Curiosity gesammelt hat. Sie wollten wissen, ob man durch die Form der Objekte auf ihre Entstehung schließen kann.
Ihr Team entwickelte die erste Methode, um die Transportdistanz von Flusskieseln auf der Erde anhand ihrer Geometrie abzuschätzen, und zog daraus Rückschlüsse auf die Geschichte der Flüsse auf dem Mars. Planetenforscher haben heftig debattiert, wie viel Wasser es auf dem Roten Planeten gab und wie es sich bewegte – Fragen, die Aufschluss darüber geben könnten, ob der Mars einst Leben beherbergen konnte. Jerolmack und Domokos kamen zu dem Schluss, dass die Flüsse mächtig genug waren, um Kieselsteine Dutzende von Kilometern weit zu rollen. Damit führt die Frage nach der Form von Kieselsteinen, die sich Aristoteles vor mehr als 2000 Jahren stellte, zu Antworten, die die alte Geologie unseres Nachbarplaneten erklären.
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