ADHS-Therapie: »Allein beim Kind anzusetzen, ist nicht sinnvoll«
Ein übersteigerter Bewegungsdrang, Impulsivität und Konzentrationsschwierigkeiten gehören zu den Hauptsymptomen einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Für betroffene Kinder und ihre Familien stellt die Störung oft eine große Herausforderung dar: Sie beeinträchtigt nicht nur die schulischen Leistungen, sondern auch den Umgang mit Gleichaltrigen. Mit Medikamenten und Verhaltenstherapie bloß die Symptome der Betroffenen zu lindern, sei häufig nur mäßig erfolgreich, erklärt der Pädiater Oskar Jenni im Interview. Statt Kindern dauerhaft mehr Kontrollfähigkeiten abzuverlangen, als sie aufbringen können, müsse man auch das Umfeld miteinbeziehen.
Herr Professor Jenni, der Heidelberger Psychotherapeut und ADHS-Spezialist Helmut Bonney erklärte einst in »Gehirn&Geist«: »ADHS ist keine Krankheit.« In Ihrem Buch »Die kindliche Entwicklung verstehen« bestätigen Sie, dass es keinen eindeutigen Test gibt und verschiedene Störungsmodelle für ADHS diskutiert werden. Welchen Sinn macht dann überhaupt eine Aussage wie »Dieses Kind hat ADHS«?
Oskar Jenni: Das kommt sehr auf den Kontext an. Eine Diagnose ist zunächst einmal ein Etikett, das den Betroffenen Zugang zu Hilfe und Unterstützung ermöglicht. Man sollte mit der Diagnose »ADHS« aber umsichtig sein, denn sie birgt sowohl Vor- als auch Nachteile. Ein Vorteil ist, dass die Diagnose für die Familien entlastend sein kann. Bei verzweifelten Eltern und ihren Kindern, die oft auf eine schon länger andauernde Leidensgeschichte zurückblicken, kann sich eine gewisse Erleichterung einstellen, wenn sie den Problemen einen Namen geben können. Und natürlich ist ADHS insofern eine Krankheit, als es sich hier um eine behandlungswürdige Störung handelt. Doch gleichzeitig steht viel mehr dahinter als ein gut definiertes und einheitliches Störungsbild mit klarer Abgrenzung zum Normalen und einer einzigen Ursache. ADHS ähnelt einer Spektrums-Störung und kann vielfältige Hintergründe haben.
Sie sprachen von Vor- und Nachteilen der Diagnose. Wo liegen die größten Gefahren?
Es gibt eine Reihe von Risiken: So kann die Diagnose auf einer Fehleinschätzung beruhen, wenn man etwa Kinder, die nur etwas zu »hibbelig« für ihr Alter erscheinen, zu Unrecht pathologisiert. Oder wenn die Diagnose dazu führt, dass man das Problem allein beim Kind ansiedelt. ADHS ist nicht einfach eine Störung beim Individuum, sondern hängt auch stark von den Umweltbedingungen ab, unter denen das Kind lebt, zum Beispiel dem Erziehungsstil der Eltern, dem häuslichen Umfeld oder dem schulischen Setting. Lediglich ein Medikament zu verschreiben, als liege die Lösung allein im Kopf des Kindes und nicht ebenso in der Art und Weise, wie mit ihm umgegangen wird, ist der falsche Weg.
Zumal Ritalin ja lediglich die Symptome dämpft, richtig?
Ja, die Gabe von Methylphenidat beeinflusst vorübergehend den Botenstoffhaushalt in Hirnregionen, die an der Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt sind. Das betrifft vor allem Areale im Stirnhirn wie den präfrontalen Kortex. Setzt man das Medikament ab, ist bald wieder alles wie zuvor. Damit lässt sich keine nachhaltige Veränderung erzielen.
Wie beurteilen Sie den Grad der Stigmatisierung von Kindern mit ADHS?
Er ist durchaus hoch. Laut Untersuchungen will ein beachtlicher Teil der Erwachsenen mit »ADHS-Kindern« lieber nicht viel zu tun haben; die Betroffenen werden häufig als »anstrengend« abgestempelt. Hier kann die Diagnose das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich bezweckt: Sie soll ja Wege zu einer besseren Bewältigung des Alltags weisen und nicht noch die Isolation verstärken. Eine Diagnose, die gewisse Kinder als Problemkinder ausweist, ist kontraproduktiv.
Oft steht der Verdacht im Raum, Kinder würden mit Ritalin ruhiggestellt, damit sie in der Schule und zu Hause besser funktionieren. Teilen Sie diese Kritik?
Es ist grundsätzlich bedenklich, wenn pharmazeutische Mittel nicht eingesetzt werden, um gravierende Leiden zu lindern, sondern um besonders aktive Kinder irgendwie »herunterzuholen«. Aus meiner Sicht passiert dies jedoch nicht systematisch. Eher noch wird Ritalin von Studierenden als »Konzentrationsbooster« in Prüfungsphasen missbraucht. Um an das verschreibungspflichtige Präparat heranzukommen, lassen sich so manche sogar eine ADHS-Störung bescheinigen. Solchen Trends sollten wir entschieden entgegentreten.
Laut aktuellen Statistiken erhalten etwa 3 von 100 Kindern eine ADHS-Diagnose. Wie viele davon werden mit Ritalin behandelt?
Man sollte bei schwereren Beeinträchtigungen immer auch eine medikamentöse Unterstützung erwägen, aber eben nicht nur. Man darf sich das nicht so vorstellen, als würden wir Ärzte ein kindliches Verhalten erkennen oder eine schwierige Situation vorfinden, eine Blickdiagnose stellen, ein Rezept schreiben – und das war's dann. Bevor die Diagnose gestellt wird, erfolgt ein aufwändiges Abklärungsverfahren in mehreren Schritten: Zunächst wird der Arzt sorgfältig schauen, welche konkreten Probleme und welche Ressourcen das betroffene Kind hat. Wir begleiten die Familien meist über einen längeren Zeitraum und versuchen, auf unterschiedlichen Ebenen – im schulisch-pädagogischen Bereich, bei der Erziehung, in der Freizeitgestaltung, auch durch psychoedukative Aufklärung – positive Veränderungen zu bewirken. Eine ADHS-Problematik kann sehr unterschiedliche Schwerpunkte und Verläufe haben. Darauf sollte man flexibel von Kind zu Kind und von Familie zu Familie eingehen.
Unsere dreiteilige ADHS-Serie im Überblick:
Teil 1: Übersehene Mädchen (G&G 4/2023)
Teil 2: Was hilft bei ADHS?
Teil 3: ADHS bei Erwachsenen (G&G 6/2023)
Für die Behandlung von ADHS empfehlen Sie besonders eine »umfeldzentrierte Therapie«. Was ist darunter zu verstehen?
Kerngedanke dabei ist die Idee der Passung. Kinder sind unterschiedlich und zeigen eine große Bandbreite an Eigenarten, Talenten und Bedürfnissen. Genauso unterschiedlich können die Bedingungen sein, unter denen sie leben. Einige sind mit den vielfältigen Anregungen im Alltag eher überfordert; andere brauchen mehr Anleitung und Führung. Wie die Forschung zeigt, bringt es wenig, bloß beim Kind anzusetzen und ihm etwa durch therapeutische Übungen oder mittels Ritalin zur mehr Selbstkontrolle verhelfen zu wollen. Man muss vielmehr das gesamte soziale Gefüge in den Blick nehmen.
Schließt das auch die Möglichkeit ein, einfach geringere Anforderungen an das Konzentrationsvermögen etwa in der Schule zu stellen? Oder wächst Konzentration nicht gerade dadurch, dass man sie fordert und trainiert?
Beides. Anforderungen sind wichtig, dennoch sollte man einem Kind nicht dauerhaft mehr kognitive Kontrollfähigkeit abverlangen, als es aufbringen kann. Es geht darum, bei Überforderung Entlastung zu schaffen und gemeinsam mit den Kindern, Eltern und Lehrern Möglichkeiten zu suchen, wie man langfristig eine bessere Fokussierung erreichen kann.
Es gibt augenscheinlich viele Dinge, die körperliche und geistige Unruhe fördern: Zuckerreiche Ernährung, Überstimulation, fehlender Ausgleich zum Lernalltag, soziale Medien und so weiter. Wie findet man heraus, welche Stellschraube im Einzelfall die richtige ist?
Indem man eine begründete Vermutung entwickelt und dann etwas ausprobiert. Es spricht nichts dagegen, mehrere Dinge zugleich anzugehen, also beispielsweise mehr Struktur in den Alltag zu bringen, dem Kind mehr Bewegungsspielraum zu ermöglichen, die Ernährung anzupassen und Atem- oder Entspannungstechniken zu üben. Wichtig ist, möglichst alle Beteiligten einzubinden, das heißt neben dem Kind auch die Eltern, Geschwister, Lehrer und Mitschüler.
Was ist denn genau das Ziel einer umfeldzentrierten Therapie?
Das Ziel der ADHS-Therapie ist, die Erwartungen an das Kind und den Umgang mit ihm besser an seine momentanen Fähigkeiten anzupassen und so beide Seiten – Kind und Umfeld – möglichst gut unter einen Hut zu bringen.
»Kinder reifen verschieden schnell. Hier gilt es, die eigenen Ansprüche zu überdenken«
Warum spielen bei der ADHS-Diagnose bis heute Hirnscans oder andere körperliche Parameter keine Rolle?
Es gibt zwar durchaus interessante neurobiologische Besonderheiten bei ADHS-Kindern, etwa im Transmitterhaushalt im Frontalhirn. Allerdings sind diese nicht eins zu eins mit bestimmten Symptomen verknüpft und nicht so leicht feststellbar, als dass man sie als zuverlässiges Diagnoseinstrument einsetzen könnte. Vielleicht gelingt uns dies eines Tages, aber noch sind wir nicht so weit.
Sind die unterschiedlichen Entwicklungstempi von Kindern ein Teil des Problems?
Richtig! Häufig haben Eltern, aber auch Lehrpersonen eine zu enge Vorstellung davon, was Kinder in welchem Alter können müssen. Kinder reifen nun einmal verschieden schnell. Hier gilt es einerseits, die eigenen Ansprüche zu überdenken und sich in Geduld sowie Gelassenheit zu üben, und andererseits, zusammen mit entsprechend sensibilisierten Fachkräften die bestmöglichen Fördermaßnahmen zu wählen.
Worin sehen Sie die Gründe für den Anstieg der ADHS-Diagnosen in den vergangenen Jahren?
Ich glaube, in dieser Hinsicht haben wir inzwischen ein gewisses Plateau erreicht. Vor 15 oder 20 Jahren gab es tatsächlich einen rasanten Anstieg, und der Hauptgrund dafür lag sicherlich in der gestiegenen Sensibilität für Aufmerksamkeitsprobleme bei Kindern und Jugendlichen. Früher ging man oft einfach darüber hinweg und glaubte, das Problem wachse sich aus. Oder man überließ die betroffenen Familien ihrem Schicksal. Außerdem ist die Zahl der Anregungen und Ablenkungen für Kinder und Jugendliche enorm gewachsen, Ruhephasen oder ausgleichende Aktivitäten wie Bewegung und Sport kommen häufig zu kurz. Durch den gesellschaftlichen Erwartungs- und Leistungsdruck machen sich viele Eltern darüber hinaus sehr schnell Gedanken darüber, ob bei ihrem Kind ein Entwicklungsdefizit vorliegt, das etwa dem schulischen Erfolg im Weg stehen könnte.
Heißt das, wir sehen heutzutage mehr ADHS, weil wir mehr danach suchen?
Natürlich spielt der verbreitete Wunsch nach optimaler Förderung und Potenzialentfaltung eine wichtige Rolle. Eltern sind heute sehr um die Bildungschancen ihrer Kinder bemüht und sorgen sich, sobald »Sand im Getriebe« zu sein scheint. Der Stellenwert von guten Noten und Gymnasialempfehlung sowie die Konkurrenz um Studienplätze sind im Vergleich zu den 1970er beziehungsweise 1980er Jahren gewachsen – und damit auch das Gefühl, man dürfe keine Chancen verpassen, müsse hyperaktive und unaufmerksame Kinder besser unterstützen. Zu einem gewissen Grad schlagen sich solche gesellschaftlichen Trends durchaus darin nieder, welche Verhaltensweisen als problematisch und behandlungswürdig gelten.
Sind Kinder und Jugendliche dieser Tage im Schnitt unruhiger als früher, oder sind die Ansprüche an sie gestiegen?
Es spricht nur wenig dafür, dass Kinder heute grundsätzlich anders sind als früher. Die Lebensumstände und Anforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, haben sich dagegen stark gewandelt – denken wir nur an die medialen Angebote und die neuen Formen der Onlinekommunikation. Die Fähigkeiten von Kindern, sich selbst zu regulieren und Verlockungen zu widerstehen, sind in unserer Zeit sicherlich stärker gefordert.
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