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Energie: Wie belastbar ist Deutschlands Stromnetz?

Deutschlands Stromnetz steht in der Diskussion: Fehlen Trassen? Wohin mit überschüssigem Ökostrom? Wie kann man Spitzenlast abfangen? Technisch scheinen diese Fragen kein Problem zu sein. Entscheidend ist eher, wie mit ihnen ökonomisch und politisch umgegangen wird.
Strommasten

Noch gilt das deutsche Stromnetz als eines der stabilsten auf der Welt: Gut 15 bis 20 Minuten muss jeder Bundesbürger jährlich auf Elektrizität verzichten, während Menschen in Italien, Großbritannien oder Spanien teilweise über eine Stunde im Dunkeln stehen. Doch das deutsche Stromnetz droht marode zu werden. Besonders augenfällig wurde das vor einigen Jahren: Nach heftigen Schneefällen knickten am Adventswochenende vom 26. und 27. November 2005 im Münsterland und den anliegenden Regionen riesige Strommasten wie Streichhölzer unter den fallenden Schneemassen ein. Rund eine viertel Million Menschen mussten danach ohne Strom auskommen – teils tagelang. Der Energieversorger RWE räumte ein, dass ein Großteil der 44 000 Strommasten seines Hoch- und Höchstspannungsnetzes über ein halbes Jahrhundert alt sei. Tausende von ihnen stammten noch aus der Vorkriegszeit; zahlreiche waren spröde geworden.

Für viele Experten kam die Katastrophe nicht überraschend. Ungewiss, wie die damals von der EU und dem Bund angestrebte Liberalisierung der Strommärkte konkret umgesetzt werden sollte, fuhren die Versorgungsunternehmen ihre Investitionen in den Netzausbau drastisch zurück: Betrugen sie im Jahr 1993 noch rund vier Milliarden Euro pro Jahr, so erreichten sie zehn Jahre später mit weniger als zwei Milliarden Euro pro Jahr ihren Tiefpunkt. Danach stiegen die Investitionen zwar langsam wieder an, sie erreichten aber selbst 2011 mit 3,6 Milliarden Euro nicht mehr den Wert von vor gut 20 Jahren. Ähnliches gilt für das deutsche Mittelspannungsnetz: Mittlerweile hat rund ein Drittel der Betriebsmittel seine Lebenserwartung von rund 35 Jahren längst überschritten. Und auch der Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik VDE konstatiert in einer Studie von 2006, dass die Investitionen in das deutsche Stromversorgungssystem seit den 1980er Jahren um zirka 40 Prozent zurückgegangen seien.

Es wird also viel geredet über die Notwendigkeit, das Stromnetz den neuen Erfordernissen mit dezentraler Energieerzeugung und in ihren Mengen schwankenden Produzenten wie Sonne oder Wind anzupassen. Doch es passiert wenig. Das war schon anders, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Zwischen 1970 und 1993 wurde das deutsche Hochspannungsnetz um 60 Prozent auf gut 84 000 Kilometer Länge ausgebaut – vornehmlich getrieben durch den Neubau von Kernkraftwerken. Insgesamt ist das deutsche Stromnetz heute etwa 1,8 Millionen Kilometer lang, wovon der Löwenanteil auf die Nieder- und Mittelspannungsebene entfällt. Etwa 110 000 Kilometer lang ist das Netz der Hoch- und Höchstspannungsleitungen, das Betriebsspannungen von bis zu 380 Kilovolt (kV) verträgt.

Kleiner Zuwachs erforderlich

Angesichts des Umfangs des Hoch- und Höchstspannungsnetzes irritiert dann vielleicht, dass der Zubaubedarf von wenigen tausend Kilometer zusätzlicher Leitungen bis zum Jahr 2020 als Argument herhalten muss, den Ausbau erneuerbarer Energien in Frage zu stellen. Denn so stark müssen die Trassen nach Berechnungen der Deutschen Energie-Agentur (dena) ausgebaut werden, um die windreichen Energieerzeugungsgebiete im Norden mit den Industriestandorten im Süden Deutschlands zu verbinden. Um die Beeinflussung von Natur und Umwelt so gering wie möglich zu halten, ist im Netzentwicklungsplan der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber zudem vorgesehen, dass möglichst bestehende Eisenbahn- oder andere Trassen als Routen mitgenutzt werden sollten. Die Netzbetreiber schätzen die Kosten für den Umbau auf rund 20 Milliarden Euro. Doch kommt der Netzausbau nicht so schnell voran wie von dena erhofft: Bereits 2005 hatte sie eine erste Netzstudie veröffentlicht und darin bis 2015 einen Ausbaubedarf von 850 Kilometern ausgemacht. Bislang wurde davon aber erst ein Bruchteil fertig gestellt. Ob das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das im August 2011 in Kraft trat, nun Wirkung zeigt, muss sich in den nächsten Jahren erweisen.

Stromnetz | Unsere heutigen Stromnetze sind nur schlecht auf die Zunahme der alternativen Energieerzeuger vorbereitet. Um Schwankungen im Netz auszugleichen – etwa bei Flaute für die Windkraft –, müssen die Energieversorger konventionelle Kraftwerke auf Abruf bereitstellen.

Es gibt aber auch Widerspruch zur dena-Studie: Strom sparen, intelligente Netze, die den Bedarf und die Erzeugung von Elektrizität geschickt in Einklang bringen, sowie ein beschleunigter Ausbau der Windenergie im Süden Deutschlands machten einen Großteil der geplanten Leitungen überflüssig, schätzt etwa der Naturschutzbund Deutschland (NABU). In die gleiche Kerbe schlägt der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE). "Je mehr regenerative Kraftwerkskapazitäten wir in den einzelnen Regionen haben, desto geringer fällt der Bedarf an Fernübertragungsleitungen aus", sagt dessen Präsident Dietmar Schütz und fordert insbesondere die industriell starken südlichen Bundesländer auf, ihren Rückstand bei der Windenergie aufzuholen.

Entspannen dürfte sich die Situation ferner, wenn spätestens im Jahr 2022 die letzten Atommeiler vom Netz gehen: Sechs dieser Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von fast acht Gigawatt stehen im Norden und speisen natürlich von dort in das von der Windkraft stark beanspruchte Netz ein. Diese Leitungskapazitäten stünden den Erneuerbaren dann zur Verfügung. Zuvor schon gehen auch Kernkraftwerke im Süden wie Grafenrheinfeld im Jahr 2015 vom Netz.

Unwucht im System

Für den gesamten Umbau kalkulieren die Experten etwa zehn Jahre. Wegen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Zubau an erneuerbaren Energien und der dafür notwendigen Netzanbindung kommt es aber zunehmend zu Ungleichgewichten: Während große Offshore-Windparks heute bereits entstehen, fehlen oft noch die Leitungen, um den Strom ins Netz einzuspeisen. "Insbesondere die Fertigstellung der Südwestleitung zwischen Thüringen und Franken ist von großer Bedeutung, damit die sichere Abschaltung des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld im Dezember 2015 gelingen kann", fordert daher Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur. Fehlen diese, führt das zu absurden Situationen: So wurde nun per Gesetz geregelt, dass die Betreiber allein für die Betriebsbereitschaft ihrer Anlagen finanziellen Ausgleich erhalten; die Erzeuger erhalten also Geld für eine nicht lieferbare Ware, weil im Vorfeld die Transportmöglichkeiten unzureichend geplant und umgesetzt wurden.

Dazu passen die jüngsten Störfälle beziehungsweise Probleme bei der Stromversorgung: Im sehr kalten und trockenen Februar vergangenen Jahres gab es offensichtlich einige Engpässe bei der flächendeckenden Stromversorgung, worauf die Bundesnetzagentur Untersuchungen einleitete. Grund, warum nicht genügend Strom in einzelne Netzabschnitte eingespeist worden war, seien offensichtlich Prognosefehler der Kraftwerksbetreiber oder Versorger gewesen – sowie kommerzielle Interessen von Händlern an der Leipziger Strombörse. Nach Angaben von Marktbeobachtern sei das ein seit Jahren bekanntes Phänomen.

Zudem könne es je nach Wetterlage immer mal wieder zu angespannten Lagen kommen, bekennt die Bundesnetzagentur – etwa wenn der Stromverbrauch in kalten Wintern hochgehe und gleichzeitig sonnenschein- und windarmes Wetter vorherrsche. Doch darauf sei man vorbereitet. Zumindest sei eine kritische Zuspitzung ihrer Ansicht nach nicht absehbar. Im vergangenen Winter war die Lage außerdem weit weniger angespannt gewesen als im Winter davor: Damals blieben Gaslieferungen aus Russland aus, weswegen einige Gaskraftwerke ihre Produktion herunterfahren mussten. Sie fielen als stabilisierender Faktor im Netz aus, während eine starke Kältewelle den Bedarf hochschraubte. In Notfällen wie diesem wird dann die vorgehaltene Kaltreserve hochgefahren, deren Kapazität die Bundesnetzagentur auf 2500 Megawatt taxiert: Kohle- und Gaskraftwerke wie der Block 3 des Großkraftwerks Mannheim, die nur zum Zweck der Engpassbehebung betriebsbereit gehalten werden. Alternativ speisen Kraftwerke im benachbarten Ausland, etwa aus Österreich, Strom in die deutschen Netze ein.

In den letzten Jahren floss der Strom jedoch ohnehin meist in umgekehrter Richtung, denn Deutschland exportiert seit Jahren gewaltige Mengen an Strom. Daran hat auch der Atomausstieg nichts geändert. Im Gegenteil: Deutschland führt derzeit so viel Strom aus wie nie. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts Destatis lieferte die Bundesrepublik mit 66,6 Milliarden Kilowattstunden (66,6 Terawattstunden; TWh) im Jahr 2012 fast viermal mehr Strom ins Ausland als im Jahr zuvor. Importiert hat es im gleichen Zeitraum 43,8 Terawattstunden, so dass die Produzenten einen Überschuss von 1,4 Milliarden Euro erwirtschafteten – selbst wenn manchmal sogar Geld dafür gezahlt werden musste, ihn aus dem deutschen Netz zu bekommen.

Diese Statistik hat auf den ersten Blick wenig mit dem inländischen Leitungsnetz und seinem Ausbau zu tun. Zur Stabilisierung und zum Austausch an Elektrizität sind die nationalen Stromnetze jedoch zu einem europäischen Verbundnetz zusammengeschlossen. Eine Stellschraube dafür, wie stark die nationalen Netze ausgebaut werden müssen, ist das Zugeständnis, dass ein Land nicht zu jeder Zeit seinen Energiebedarf autark decken können muss. Falls in einem Land also wirklich einmal keine Sonne scheinen und kein Wind wehen sollte, so bezieht es eben Strom von seinem Nachbarn, bei dem es gerade stürmt oder der Himmel frei ist. Große Mengen an Strom lassen sich dann über so genannte Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungstechnik weiterleiten, denn über große Distanzen verliert Wechselstrom bis zu 40 Prozent seiner Nennleistung, während es bei Gleichstrom auf einer rund 1000 Kilometer langen Strecke nur drei bis sieben Prozent sind. Schon heute ist die Hochspannungs-Geichstrom-Übertragung daher weltweit vielfach im Einsatz. Leistungen von mehr als 1200 Megawatt lassen sich damit wirtschaftlich übertragen. Denn die geringeren Stromverluste kompensieren rasch die noch vergleichsweise hohen Umrichterkosten in den Umspannwerken. Technisch wäre damit die Stabilisierung des Stromnetzes kein Problem – es darf nur nicht überall daran gezerrt werden.

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