Direkt zum Inhalt

Reizdarmsyndrom: Stress im Bauch

Lange galt das Reizdarmsyndrom als vor allem psychisch bedingt. In Wahrheit ist es jedoch komplizierter: Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass die Darm-Hirn-Achse und das darmeigene Nervensystem maßgeblich an den Beschwerden beteiligt sind.
Im Bild ist der Rumpf einer Person, die ihre Arme um ihren schmerzenden Bauch legt
Magen-Darm-Beschwerden gehören zu den häufigsten Krankheitsursachen in Deutschland. Das Hirn spielt eine Rolle dabei.

Kurz vor der wichtigen Präsentation oder dem Bühnenauftritt zwingt einen der grummelnde Bauch, schnell die nächste Toilette aufzusuchen. Im Urlaub wird der Darm wiederum manchmal so träge, dass der Stuhlgang tagelang ausbleibt. Viele Menschen kennen solche Beschwerden – treten sie nur gelegentlich auf, sind sie zwar lästig, aber meistens harmlos. Anders sieht es aus, wenn sie eine Person über Monate immer wieder plagen und ihren Alltag merklich einschränken. Dann könnte nämlich ein Reizdarmsyndrom dahinterstecken. Die Erkrankung betrifft rund zweieinhalb bis zehn Prozent aller Menschen weltweit, darunter mehr Frauen als Männer. Neben Verdauungsstörungen wie Durchfall und Verstopfung zeichnet es sich insbesondere durch chronische Bauchschmerzen aus. Häufig geht es mit psychischen Problemen einher: 20 bis 70 Prozent aller Betroffenen leiden unter Depressionen oder Angststörungen.

Bevor ein Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden kann, muss man klären, ob die Beschwerden sich auf eine andere Ursache zurückführen lassen. Seine Symptome überlappen etwa mit denen von Zöliakie, Geschwüren im Magen-Darm-Trakt sowie Erkrankungen der Leber oder der Bauchspeicheldrüse. Diese sind jedoch eindeutig über Bildgebung, Biopsie und Blutwerte nachweisbar. Ähnlich verhält es sich mit den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, die mit bestimmten Immunprozessen und charakteristischen Schwellungen im Verdauungstrakt einhergehen. Beim Reizdarmsyndrom findet man keine sichtbaren Krankheitsherde. Daraus folgt aber nicht, dass die Beschwerden ohne Zutun der betroffenen Organe zu Stande kommen. Tatsächlich spricht mittlerweile vieles für eine Störung der Darm-Hirn-Achse, die entscheidend zu seiner Entstehung beiträgt.

»Das Reizdarmsyndrom hat eine recht ausgeprägte genetische Komponente«Andreas Stengel, Universitätsklinikum Tübingen

Ein Zusammenspiel aus Effekten

»Lange dachte man, man müsse die eine Ursache oder den einen Biomarker für das Reizdarmsyndrom finden«, erläutert Andreas Stengel, stellvertretender ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen. Dieser Ansatz scheiterte jedoch: Zahlreiche Untersuchungen brachten keine universellen Krankheitsmechanismen zu Tage. Heute erklärt man sich die Beschwerden vielmehr über das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Demnach entspringt das Syndrom einer Mischung aus physiologischen, psychischen und sozialen Einflüssen. Auf biologischer Seite weiß man von Erbgutfaktoren, die Personen anfälliger machen. »Das Reizdarmsyndrom hat eine recht ausgeprägte genetische Komponente«, erläutert Stengel. »Wenn beide Elternteile betroffen sind, ist das Krankheitsrisiko für das Kind erhöht.« Ebenso begünstigen frühe traumatische Erfahrungen, dass die Krankheit einmal ausbricht. Werden derart vorbelastete Menschen zusätzlich mit bestimmten Auslösern konfrontiert, können sie das Syndrom entwickeln.

Zu den möglichen Triggern zählen zum Beispiel chronischer Stress, ein einschneidendes Lebensereignis oder Entzündungen im Körper. Etwa jeder fünfte Fall entsteht laut Stengel im Anschluss an einen Infekt. Dieses so genannte postinfektiöse Reizdarmsyndrom trete nicht nur nach Befall des Magen-Darm-Trakts auf, sondern auch infolge von Atemwegserkrankungen wie Covid-19. Die Neurowissenschaftlerin Sigrid Elsenbruch, Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum, hat eine mögliche Erklärung: »Entzündungsprozesse machen das Gehirn sensibler für Schmerzen«, erklärt sie. Trotzdem sei das Syndrom vornehmlich keine entzündliche Erkrankung, betont Stengel: »Die Entzündungsmarker sind nur geringfügig verändert, so dass sie für sich allein genommen das Ausmaß der Beschwerden nicht erklären können.«

»Das, was wir als unangenehmes Bauchgefühl spüren, machen Magen und Darm allein«Andreas Stengel, Universitätsklinikum Tübingen

Wie Reize vom Darm zum Hirn gelangen

Faktoren wie Stress oder Infekte, die nicht dem Magen-Darm-Trakt entspringen, sind jedoch offensichtlich im Stande, das Geschehen im Verdauungsapparat zu beeinflussen. Möglich macht das vor allem die enge Verbindung zwischen Gehirn und Bauch: die Darm-Hirn-Achse. Über Nervenbahnen sowie Hormone und andere Signalstoffe im Blutstrom tauschen die Organsysteme Signale miteinander aus. Um aus dem Takt zu kommen, braucht der Darm das Gehirn zudem nicht einmal zwingend. In seinen Schichten steckt ein spezielles neuronales Geflecht, das enterische Nervensystem. »Evolutionär betrachtet ist es älter als das Gehirn, aber auch kleiner«, betont Stengel. »Man spricht deshalb vom ›little brain‹ im Bauch und vom ›big brain‹ im Kopf.« Ist man akut gestresst, reagiere das Bauchhirn oftmals schneller, erklärt er: »Das, was wir als unangenehmes Bauchgefühl spüren, machen Magen und Darm allein.«

Generiert wird es durch Neurone des vegetativen Nervensystems. Sie besitzen spezielle Rezeptoren, die auf starke Dehnungen oder übermäßigen Druck reagieren. Werden sie aktiv, leiten sie die Signale aus dem Darm zuerst ins Rückenmark weiter, wo diese in einen Reflexbogen gelangen. Der sendet die Reize ohne Umweg über das Gehirn an das enterische Nervensystem, das normale Funktionen des Darms wie dessen Bewegungen steuert. Als Konsequenz nimmt etwa die Darmaktivität zu oder ab oder der Bauch beginnt zu grummeln und zu rumoren.

Damit wir diese Änderungen als unangenehm empfinden, müssen die Signale jedoch im Gehirn verarbeitet werden. Dazu werden sie im Rückenmark nicht nur in den Reflexbogen eingespeist, sondern auch in den Hirnstamm geleitet und gelangen von dort ausgehend in Areale, die für die Schmerzverarbeitung zuständig sind (siehe »Wie viszeraler Schmerz entsteht«). Bei der Erzeugung von Schmerzen, die von inneren Organen ausgehen, sind unter anderem die Inselrinde und der sekundäre somatosensorische Kortex beteiligt.

Anders als gesunde Menschen spüren jene mit Reizdarmsyndrom Dehnungen im Darm in der Regel häufiger und früher

Derartige Signale aus dem Inneren des Körpers nehmen wir erst wahr, wenn sie eine gewisse Intensität erreichen. Die meisten bleiben unter dieser Schwelle; von ihnen bekommen wir also gar nichts mit. Anders als gesunde Menschen spüren jene mit Reizdarmsyndrom Dehnungen im Darm in der Regel häufiger und früher – bei ihnen besteht also eine Hypersensitivität. Schmerzhafte Reize im Organ empfinden sie zudem als intensiver. »Einige Jahre lang galt das Konzept, dass alle Reizdarmpatienten eine Hypersensitivität haben. Sie wurde sogar als Marker für die Erkrankung gesehen«, erzählt Elsenbruch. Inzwischen habe sich diese Meinung allerdings etwas relativiert. Es gäbe nämlich Betroffene, bei denen man keine Überempfindlichkeit nachweisen könne.

Gleichwohl arbeiten viele Forscherinnen und Forscher daran, die Hypersensitivität beim Reizdarmsyndrom besser zu verstehen. Ein Team um Laureen Crouzet vom französischen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Lebensmittelwesen und Umwelt (INRAE) fand 2013 heraus, dass die Zusammensetzung der Darmbakterien an seiner Entstehung beteiligt ist. Die Fachleute entnahmen Stuhlproben von Betroffenen und verabreichten sie Ratten mit keimfreiem Verdauungstrakt. Daraufhin wuchs im Darm der Tiere ein ähnliches Mikrobiom heran wie in dem der Menschen. Das hatte für die Nager unangenehme Konsequenzen – sie reagierten nun etwa mit verstärkten Bauchkrämpfen auf Dehnungsreize in ihrem Darm. Die Fachleute deuteten dies als Zeichen einer neu aufgetretenen Überempfindlichkeit, vermutlich ausgelöst von bestimmten Stoffwechselprodukten der eingebrachten Bakterien.

Wie viszeraler Schmerz entsteht | Damit uns Darmdehnungen und -bewegungen wehtun können, müssen sie zuerst im Gehirn verarbeitet werden. Rezeptorzellen im Verdauungstrakt nehmen die Veränderungen wahr und leiten Reize in das Rückenmark. Über aufsteigende Nervenbahnen gelangen sie in bestimmte Kerne im Stammhirn. Von hier aus werden sie an den primären somatosensorischen Kortex, Teile des zingulären Kortex und die Insula weitergeleitet. Im Anschluss gelangen sie in weitere Bereiche des zingulären Kortex sowie in die Amygdala und den Thalamus. Die Areale tragen dazu bei, dass die ankommenden Reize hinsichtlich ihrer Intensität und ihrer emotionalen Auswirkung bewertet werden. Über Kerne im Stammhirn wandern die verarbeiteten Signale entlang der absteigenden Nervenbahn zurück ins Rückenmark und in den Darm, wo wir sie nun als unangenehm wahrnehmen.

Menschen mit Reizdarmsyndrom spüren Schmerzen im Verdauungstrakt nicht nur früher und stärker. Sie scheinen zum Teil generell wachsamer gegenüber körperlichen Reizen zu sein und diese tendenziell eher negativ zu bewerten. »Wenn ich besonders empfindlich und aufmerksam bin, merke ich ganz früh, dass etwas nicht in Ordnung ist«, erklärt Elsenbruch. »Dann reagieren verstärkt Hirnregionen, die solche Signale mit einer Bedeutung und einer Emotion wie etwa Angst versehen.« Dazu zählt beispielsweise der Thalamus, der als »Tor zum Bewusstsein« gilt und sensorische Signale weiterleitet. Auch die Inselrinde trägt dazu bei, indem sie unter anderem an der emotionalen Bewertung von Schmerzen mitwirkt. In Teilen des zingulären Kortex wird die Bedeutsamkeit der Emotionen eruiert. Die Aktivität dieser Areale nimmt zu. Ob die veränderte Reizverarbeitung in den Regionen die chronischen Schmerzen beim Reizdarmsyndrom bedingt oder ob sie eine Folge der Erkrankung ist, lässt sich anhand der Daten noch nicht sagen.

Psyche und Verdauung im Wechselspiel

Interessant ist zudem, wie stark das Syndrom mit psychischen Leiden überlappt. Langzeitstudien offenbarten, dass Personen mit Anzeichen einer Angststörung oder einer Depression ein stark erhöhtes Risiko hatten, später in ihrem Leben an einem Reizdarmsyndrom zu erkranken – und dass Reizdarmpatienten umgekehrt häufiger Ängste und depressive Störungen als andere Menschen entwickelten. In diversen Untersuchungen stellten Fachleute gemeinsame Auffälligkeiten im Gehirn Betroffener beider Gruppen fest. Einige Hirnregionen verloren an Volumen, so etwa der für das Gedächtnis wichtige Hippocampus und der mediale präfrontale Kortex. Letzterer wirkt unter anderem daran mit, künftige Handlungen zu planen.

Auch Sigrid Elsenbruch beschäftigt sich mit diesem Zusammenhang. Im Jahr 2010 analysierten sie und ihr Team, inwiefern Ängste und depressive Symptome beeinflussen, wie Menschen mit Reizdarm Schmerzen verarbeiten. Dazu fragten sie 27 Frauen, unter denen 15 Betroffene waren, ob und in welchem Ausmaß sie depressive und Angstsymptome verspürten. Dann führten sie bei ihnen einen endoskopischen Eingriff durch, bei dem sie einen aufblasbaren Ballon in den Enddarm der Probandinnen einbrachten. Diesen dehnten sie anschließend, bis die individuelle Schmerzschwelle der Behandelten erreicht war.

Bei der Prozedur lagen die Frauen in einem Scanner, der ihre Hirnaktivität aufzeichnete. Wie erwartet, spürten Erkrankte den Dehnungsschmerz im Schnitt früher als Gesunde. Aufnahmen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) zeigten bei Patientinnen mit überdurchschnittlichen Angstsymptomen eine erhöhte Aktivität in Teilen des zingulären Kortex, während sie unter Schmerzen litten. Dieses Areal ist sowohl bei Angst als auch bei der Schmerzverarbeitung involviert. Bei jenen mit Reizdarm sowie stärkeren depressiven Symptomen stieg bei Schmerz die Aktivität im präfrontalen Kortex und in Teilen des Kleinhirns an. Zusammen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass psychische Beschwerden die Schmerzverarbeitung von Betroffenen beeinflussen und womöglich zur starken Schmerzempfindlichkeit beitragen.

Stress scheint ein wichtiges Bindeglied zwischen Angst, Depressionen und Reizdarmsyndrom zu sein

Zusätzlich testete das Team, wie die erkrankten Frauen den Dehnungsreiz in unterschiedlichen Verfassungen wahrnahmen. Einmal versetzte es sie dazu mit einer anspruchsvollen Aufgabe unter psychischen Druck, ein andermal durften sie sich entspannen. In der stressigen Situation wurden Inselrinde und präfrontaler Kortex besonders aktiv, und zwar sowohl bei schmerzhaften als auch bei schmerzlosen Dehnungen. Selbst im entspannten Zustand zeigten die beiden Areale sowie der Thalamus noch höhere Aktivitätswerte als jene von gesunden Frauen. Das werteten die Fachleute als ein Zeichen dafür, dass Menschen mit Reizdarmsyndrom die neuronale Schmerzantwort schlechter regulieren können.

Die darmeigene Stressachse

Die Versuche zeigen: Stress ist offenbar ein wichtiges Bindeglied zwischen Angst, Depressionen und Reizdarmsyndrom. Er trägt zu einigen reizdarmtypischen Symptomen bei, darunter vermehrte Darmbewegungen, häufiger Stuhlgang bis hin zu Durchfall sowie einer höheren Schmerzempfindlichkeit und einer verzögerten Entleerung des Mageninhalts in den Darm.

Ein zentraler Schalthebel der körperlichen Stressantwort ist die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse). Wann immer jemand in eine angespannte Situation gerät, schüttet sein Hypothalamus das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) aus. Über die benachbarte Hypophyse sorgt der Botenstoff letztlich dafür, dass die Nebennierenrinde vermehrt Kortisol bildet und das Stresshormon in den Blutkreislauf abgibt. Auf diese Weise verteilt es sich im Körper, kann an Kortisolrezeptoren in verschiedenen Organen andocken und dort seine Wirkung entfalten.

Es ist gut belegt, dass der Verdauungstrakt von Menschen mit Reizdarmsyndrom empfindlich auf Stress reagiert

Nicht nur in der Hypophyse, sondern auch im Magen-Darm-Trakt findet man Andockstellen für CRH. Sie werden jedoch vornehmlich über andere Signalwege als die HPA-Achse aktiviert, schreibt Stengel in einem Übersichtsartikel. Dazu zählen solche des vegetativen Nervensystems, das aus dem stimulierenden Sympathikus und dem hemmenden Parasympathikus besteht. Seinen Beitrag demonstrieren etwa Versuche mit Ratten. Stresste man die Tiere in einem Experiment, entleerte sich ihr Magen selbst dann verzögert, wenn der Hypothalamus nicht aktiv werden konnte. Durchtrennte man aber den Vagusnerv der Nager – und damit den Hauptnerv des Parasympathikus –, blieb die Stressreaktion aus. Aus weiteren Tierstudien schießen Fachleute, dass das vegetative Nervensystem auch Darmbewegungen fördern kann. Inwiefern sich die Ergebnisse auf Menschen übertragen lassen, ist allerdings unklar.

Gut belegt ist hingegen, dass der Verdauungstrakt von Menschen mit Reizdarmsyndrom empfindlich auf Stress reagiert. Im Vergleich zu Gesunden kommt es bei Betroffenen zu stärkeren Darmbewegungen und mehr Bauchschmerzen, sobald ihr Kortisollevel steigt. Außerdem produziert ihr Körper größere Mengen des Stresshormons, wenn sie sich längerfristig unter Druck fühlen. Doch auch hier gilt: Die Veränderungen betreffen nicht alle: »Es kann sogar sein, dass die Betroffenen verringerte Kortisolspiegel haben, weil die Produktion erschöpft ist oder weil sich der Körper an den dauerhaft erhöhten Kortisolspiegel anpasst«, betont Stengel.

Aktuell gibt es keinen Therapieansatz, der allen Betroffenen hilft; die Beschwerden der meisten lassen sich jedoch zumindest lindern

Kein Rezept, das allen hilft

Woran es aktuell noch mangelt, sind gezielte Therapien für Betroffene. Manche Fachleute wollen das Wissen über die veränderte Stressreaktion nutzen, um neue Behandlungsoptionen zu entwickeln. Womöglich eignen sich die CRH-Rezeptoren im Verdauungstrakt als therapeutischer Angriffspunkt. In Tierversuchen machten Wirkstoffe, die den Rezeptor blockieren, den Darm tatsächlich weniger sensibel gegenüber Dehnungsreizen. Tests an Menschen konnten das aber noch nicht bestätigen: In einer 2009 veröffentlichten klinischen Studie an 39 Patientinnen gelang es nicht, die Darmbeweglichkeit und die viszeralen Schmerzen der Betroffenen mit einer der Arzneien zu lindern. Der Weg zu neuen Medikamenten dürfte also noch lang sein und weitere Forschung benötigen.

Aktuell gibt es keinen Therapieansatz, der allen Betroffenen hilft. Die Beschwerden der meisten lassen sich jedoch zumindest lindern. Dabei helfen unter anderem Medikamente, Psychotherapie und Hypnoseverfahren. Entscheidend sei, das Syndrom ganzheitlich im Sinne des biopsychosozialen Modells zu behandeln, betonen Expertinnen und Experten. Andreas Stengel fordert gar einen Denkwandel. »Wir müssen wegkommen vom Dualismus, dass eine Erkrankung entweder biologisch oder psychisch bedingt ist«, betont er und fügt hinzu: »Diese Trennung ist künstlich und aus meiner Sicht häufig nicht sinnvoll.«

»Wir müssen wegkommen vom Dualismus, dass eine Erkrankung entweder biologisch oder psychisch bedingt ist«Andreas Stengel, Universitätsklinikum Tübingen

Am erfolgversprechendsten sei es, mehrere Ansätze zu kombinieren. Zusätzlich zur Psychotherapie könne man etwa Antidepressiva in niedrigen Dosen verschreiben. Ihre Effektivität rühre in dem Fall nicht daher, dass sie Depressionen oder Angst verringern, so Elsenbruch. »Sie verändern offenbar die Schmerzsensitivität und den Umgang mit Schmerzen«, ergänzt sie.

Einen weiteren nützlichen Baustein für die Therapie sieht die Neurowissenschaftlerin im Umgang mit Erwartungen. »Die Schmerzbewertung verändert sich durch die Therapieerwartung«, erklärt sie. In mehreren Studienhat ihre Arbeitsgruppe herausgefunden, dass positive Erwartungen die Schmerzen bei Betroffenen lindern, während negative Annahmen und Ängste die Empfindlichkeit erhöhen. Auch diese Erkenntnisse könne man bei der Behandlung von Reizdarmpatienten nutzen, um bestehende Therapieangebote zu verbessern, meint Elsenbruch. Wichtig sei es dabei, Betroffenen zu helfen, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken und ihre Ängste zu reduzieren.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Elsenbruch, S. et al.: Affective disturbances modulate the neural processing of visceral pain stimuli in irritable bowel syndrome: An fMRI study. Gut 59, 2010

Koloski, N. A. et al.: The brain-gut pathway in functional gastrointestinal disorders is bidirectional: A 12-year prospective population-based study. Gut 61, 2012

Mayer E. A. et al.: The neurobiology of irritable bowel syndrome. Molecular Psychiatry 28, 2023

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.