Evolution: Wie das Einhorn zu seinem Horn kam
Evolutionssprünge – etwa die Entwicklung des Fliegens, des Auges oder einer Blüte – sind die Basis der Vielfalt allen Lebens. Gleichzeitig sind Ursprung und Ablauf solcher Sprünge aber nicht leicht zu erklären; schon deshalb, weil sie vor sehr langer Zeit unter ziemlich ungewissen Umständen begannen. Ungeachtet solcher Schwierigkeiten liefert ein Forscherteam um Zachary Blount von der Michigan State University in East Lansing nun molekulare Details zu einer dieser umwälzenden Neuerungen [1]: einem zuvor nicht existenten neuen Phänotypen, der nach 30 000 Generationen erstmals in einer Bakterienkultur auftrat. Mittlerweile haben die Forscher sich ein komplettes Bild der zu Grunde liegenden genetischen Veränderungen machen können. Davor mussten sie allerdings lernen, Ahnformen von Keimen in einem Entwicklungsstand einzufrieren und zu sequenziere – das ermöglichte es am Ende, den evolutionären Sprung nachzuvollziehen.
Die "Synthetische Evolutionstheorie", der derzeit gängige Ansatz der Evolutionsbeschreibung, vereint den Gradualismus von Charles Darwin – also die Ansicht, Evolution schreite durch graduelle Veränderungen voran – mit dem mendelschen Konzept von Genen als diskreten Einheiten, an denen die Evolution ansetzt. Diese Vorstellung sah sich einiger Kritik ausgesetzt, denn schließlich ist ein Prinzip nur schlecht fassbar, das mit allmählichen, mutationsbedingten Änderungen das plötzlichen Auftreten ganz neuer Phänotypen erklären soll [2, 3]. Welche kleinen Schritte könnten etwa einem Sprung wie der Erfindung des Konstruktionsprinzips "Auge" vorausgehen? Eine mehr als nur philosophische Frage: Antworten darauf, also Erklärungen zum Beginn und Ablauf evolutionärer Innovation, sind unverzichtbar, um auf der mechanistischen Ebene verständlich zu machen wie Evolution funktioniert. Zacharias Blount und seine Kollegen geben nun solche Antworten.
Der Leiter ihrer Arbeitsgruppe, Richard Lenski, hatte 1988 das mittlerweile am längsten andauernde Evolutionsexperiment aller Zeiten angestoßen. Es begann mit einem Klon von Escherichia coli, also einer Gruppe genetisch identischer, von einem Stammkeim abgeleiteter Zellen. Lenski gründete daraus zwölf voneinander isolierte Kolonien in zwölf Kulturgefäßen, die in einem simpel zusammengesetzten Nährmedium mit Glukose als alleiniger Kohlenstoffquelle schnell heranwachsen. Seit nunmehr 25 Jahren transferieren die Wissenschaftler nun fast täglich einen Teil der Kulturen in wieder neue Gefäße; jede Population hat mittlerweile 55 000 Generationen durchlaufen. Außer den täglichen Transfers wurden aber auch regelmäßig Proben bei minus 80 Grad Celsius eingefroren und so ein detailliertes Archiv historischer Ahnformen der Stämme angelegt – ein Register von Vorläufern mit einzigartigem Vorteil gegenüber Fossilien, denn die Vorfahren können jederzeit wieder durch Erwärmen zum Leben erweckt werden.
Die Erkenntnisse der zwölf Stämme
Zwar war Lenskis Team schon in der Frühphase des Experiments die eine oder andere, zu erhöhter Fitness führende Adaption aufgefallen – nach 31 000 Generationen aber tat sich Dramatisches. Eine der Populationen namens Ara-3 hatte die Fähigkeit erworben, Zitrat als Nährstoffquelle zu nutzen [4]. Das im Nährmedium enthaltene Zitrat fungiert als Chelatbildner und erleichtert die Eisenaufnahme. Zwar verstoffwechseln E.-coli-Keime unter anaeroben Bedingungen gelegentlich auch Zitrat, um Energie zu gewinnen, in aller Regel geschieht dies jedoch unter aeroben Bedingungen wie jenen im Langzeitexperiment nie. Dass eine Kultur unter diesen Umständen trotzdem Zitrat verarbeitet, verdeutlicht, dass neue Gene nicht immer auch ganz neu erfunden werden müssen. Im Gegenteil bedient sich die Evolution aus dem Grundstock bereits verfügbaren Materials: Einem Bakterium stehen sämtliche Bausteine zur Verfügung, die zur Evolution des aeroben Zitratstoffwechsels notwendig sind; um diese Möglichkeiten auch zu nutzen, müssen dann regulatorische Schaltkreise neu verdrahtet und angepasst werden.
Um den genetischen Hintergrund des so genannten "Cit+-Phänotyps" zu verstehen – also der Fähigkeit, Zitrat in Gegenwart von Sauerstoff zu nutzen – haben Blount und Co auf ihre archivierten Kühlschrankkulturen zurückgegriffen: Sie belebten aus verschiedenen Epochen der Ara-3-Linie stammende Cit--Phänotypen wieder und konnten damit den Evolutionsprozess nachvollziehen: Sie erkannten zunächst, dass ein Cit+-Phänotyp tatsächlich von der jüngsten Populationslinie abstammte; es dürfte sich demnach darin eine genetische Veränderung ereignet haben, die den Cit+-Keimen die Entstehung überhaupt erst möglich machte. Welcher Art diese "befähigende" Mutation war, bleibt vorerst unklar – noch wichtiger ist aber, dass sie tatsächlich stattfand.
Der nächste Schritt, der die Stämmen zunächst nur teilweise zu Cit+-Keimen machte, der "Verwirklichungs"-Schritt, war deutlich einfacher festzunageln: Die Forscher entdeckten seine Spur in einer Erbgutregion mit dem Gen citT, welches ein Transportprotein kodiert, das Zitrat in die Zelle einschleust. Ursprünglich lag citT einmal unterhalb des Genorts von citG (einem weiteren für die Zitrat-Verstoffwechselung notwendigen Gen) sowie von rnk, einem Gen mit ganz anderem Aufgabenbereich im Energiestoffwechsel. In sämtlichen Cit+-Zellen fiel Blount und seinen Kollegen nun aber ein charakteristisches Rearrangement dieser Gene ins Auge, das rnk mit citG verschmolz. Das führte nun dazu, dass die Expression von citG und citT unter die Promotorkontrolle von rnk geriet. Die Regulatorsequenz dieses Gens erlaubte daraufhin, dass beide cit-Gene nun auch in Gegenwart von Sauerstoff aktiv werden. Damit nicht genug, denn eine einzige Kopie des umarrangierten Genkomplexes reichte nicht aus, den Cit+-Phänotypen hervorzubringen; hierzu mussten sich die Gene in Tandems von zwei bis neun Kopien aufstellen. Demnach hatte der Evolutionsprozess schleichend daran gearbeitet, per Genduplikation ein sehr geringes Cit+-Potenzial immer weiter und schließlich bis auf ein lebenserhaltendes Niveau auszubauen. Und: Alle Zellen, die einmal die "Verwirklichungs"-Mutation geerbt haben (also die rnk-cit-Fusion) und diese Gene dann amplifiziert haben, zeigen schließlich den Cit+-Phänotypen.
Die Entdeckung von Lenskis Cit+-Mutanten war ein Schlag ins Gesicht all derer, die es für unmöglich gehalten hatten, dass graduelle Schritte über die Mikroevolution völlig andere Phänotypen hervorbringen können. Tatsächlich hatten Gegner der Evolutionstheorie ja gerade das Fehlen erklärender mechanistischer Details weidlich genutzt, um die Möglichkeit "göttlicher Intervention" in den Raum zu stellen. Lenski hatte sich anfangs sehr bemüht, auf kritische Einwände höflich und konstruktiv einzugehen – berühmt wurde er dann allerdings durch eine öffentliche Gegenrede, die zu einer der fesselndsten und wirksamsten Repliken im Kampf "Wissenschaft gegen Dogma" zählt. Bekannt wurde daraus etwa das Bonmot [5]: "Anders gesagt: Wir behaupten nicht, wir hätten ein Einhorn durch unseren Garten huschen sehen – eine ganze verdammte Einhornpopulation lebt in meinem Labor!"
Nachdem man nun einiges über die Schlüsselereignisse weiß, die solchen Einhörnern ihr Horn verpassen, kann man sich den Konsequenzen zuwenden, die dieses Wissen für unser Verständnis von Naturprozessen hat. Natürlich ist die Idee verführerisch, man könne genetische Evolutionsprozesse anhand weniger Regeln verstehen [6]. Das Umwidmen und Amplifizieren von Genpromotoren kann Anpassungen tatsächlich unter verschiedenen Umständen beschleunigen [7,8] – wie umfangreich die so erzielten Umbauten eines Phänotyps ausfallen, ist aber immer auch eine Frage der Vorgeschichte, des Zufalls und glücklicher Gegebenheiten der Genarchitektur. Blount und Co konnten zeigen, dass Evolution jede sich bietende Gelegenheit nutzt, wenn sie Zeit genug bekommt. Ob sich eine Chance bietet, entscheidet sich allerdings in einer extrem verwickelten Gemengelage sich gegenseitig beeinflussender Vorgänge – womöglich vereitelt das am Ende tatsächlich jede Bemühung, die Natur von "befähigenden" Mutationen vorherzusagen. Positiv ist aber zu konstatieren, dass ein Grundpfeiler der Synthetischen Evolutionstheorie mit den Studien gestärkt wird: Genetische Veränderung ereignet sich tatsächlich graduell. Ein Phänotyp kann dagegen recht dramatisch ändern.
Der Artikel ist unter dem Titel "How the unicorn got its horn" in Nature erschienen.
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