Kommunikation: Wie die E-Mail-Flut uns überfordert
Kurz vor Weihnachten ist Felix Freiling verzweifelt: Das Jahr 2008 neigt sich dem Ende entgegen, und in seinem Postfach haben sich mehr als 1000 ungelesene E-Mails angesammelt. 1000 Nachrichten, Anfragen, Einladungen. Allen Absendern zu antworten, ist unmöglich für den Informatikprofessor der Universität Erlangen-Nürnberg – zumal täglich Dutzende neue Mails dazukommen. Während der Feiertage knobelt der Experte für IT-Sicherheitsinfrastrukturen an einer Lösung.
Das Resultat: eine ungewöhnliche und konsequente E-Mail-Policy, die der Entwicklung der modernen Kommunikation angepasst ist. "E-Mails kommen noch aus einer Zeit, als man alle beantworten konnte", sagt Freiling. Diese Zeiten sind aus seiner Sicht vorbei. Auf seiner Homepage erklärt er, nicht mehr auf alle E-Mails zu reagieren und unbeantwortete Nachrichten nach einer bestimmten Zeit zu löschen. Im Dezember 2008 beträgt diese Zeit noch ein Jahr. Wer bis dahin keine Antwort bekommen hat, darf auch keine mehr erwarten. Derjenige hat Freiling nicht erreicht und muss einen neuen Versuch starten. Höflich entschuldigt er sich für die Umstände und empfiehlt allen mit dringenden Anliegen, ihm einen Brief zu schreiben. "Ich stoße ungern Leute vor den Kopf, aber diese vielen Mails haben mich fast wahnsinnig gemacht", sagt er. Auf Freilings Homepage kann man auch verfolgen, wie der Druck in den vergangenen sechs Jahren stetig gewachsen ist: Im April 2009 reduziert er den Zeitraum bis zur Löschung auf sechs Monate, im Dezember 2010 auf drei Wochen, im Januar 2012 auf eine Woche, heute sind es vier Tage.
"Mit Outlook auf dem Rechner und Smartphone neben der Tastatur ist es nicht mehr möglich, konzentriert zu arbeiten"Christian Montag
Das Problem von Felix Freiling ist exemplarisch: Bei fast allen von uns quillt der Posteingang über, und wer alle E-Mails beantwortet, dem fehlt am Ende des Tages die Zeit für seine eigentliche Arbeit. Wie sehr dieses Thema die Gesellschaft beschäftigt, zeigt die nach Angaben der Forscher größte Onlineuntersuchung im deutschsprachigen Raum zum Thema Arbeitseffizienz und neue Medien: "Der Kommunikationsaufwand wächst beständig", resümiert Daniel Markgraf, BWL-Professor an der privaten AKAD-Hochschule in Leipzig. Seine Arbeitsgruppe befragte im Sommer 2013 knapp 20 000 Büroarbeiter. Im Schnitt verbrachten diese einen gesamten Tag in der Woche mit der Bearbeitung von E-Mails – zu viel, wie die meisten von ihnen fanden. 84 Prozent sagten, sie hätten das Gefühl, viel zu arbeiten, aber das genüge noch immer nicht.
"Das überforderte Ich" nennt Christian Montag diesen Effekt, der bei immer mehr Menschen zu einem Gefühl der Überforderung führt. Der Professor für Molekulare Psychologie forscht an der Universität Ulm daran, wie unsere biologische Ausstattung auf die Informationsflut reagiert und ab wann ein Zuviel erreicht ist. Gemeinsam mit Informatikern der Universität Bonn beackert er ein neues Forschungsfeld: die Psychoinformatik. "Das Arbeitsgedächtnis unseres Gehirn ist limitiert", sagt er. "Je mehr Informationen gleichzeitig verarbeitet werden müssen, umso schwieriger fällt es uns, diesen allen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken." Durch die Masse an E-Mails kann sich nach seiner Beobachtung bei vielen Menschen eine emotionale Erschöpfung breitmachen, die auch bei Burnout beobachtet wird.
Störende Push-Nachrichten
Aber nicht nur die schiere Menge der elektronischen Kommunikation stresst den modernen Menschen, auch ihre ständige Präsenz. Jede neue E-Mail blinkt penetrant am Bildschirmrand auf, das Smartphone weist mit verschiedenen Tönen auf Facebook-Nachrichten, WhatsApp-Posts, Twitter-Interaktionen oder gewonnene E-Bay-Auktionen hin. Diese so genannten Push-Nachrichten sind kaum zu ignorieren. "Genau dafür sind sie gemacht", sagt Niels Henze vom Institut für Visualisierung der Universität Stuttgart. Mit Kollegen hat er untersucht, wie Nutzer auf diese Nachrichten reagieren: meistens schnell. "Die Leute sind sich dabei durchaus bewusst, dass sie unterbrochen werden", sagt Henze. Aber die Zahl wird weiter wachsen: "Entwickler haben ein Interesse daran, diese Nachrichten zu generieren." Unsere Aufmerksamkeit ist ihre Währung, jeder Klick steigert den Wert einer App. "Moderne Distraktoren" seien diese ständigen Klingeltöne, sagt Psychologe Montag. Und genau diese ständigen Ablenkungen machen uns unproduktiv: "Mit Outlook auf dem Rechner und Smartphone neben der Tastatur ist es nicht mehr möglich, konzentriert zu arbeiten." Denn um in einen Arbeitsfluss zu kommen, braucht es Ruhe. Dieser "Flow", wie ihn die Arbeitspsychologie nennt, stellt sich nur dann ein, wenn eine Zeit lang niemand unterbricht und man Raum und Zeit um sich herum vergessen kann. Das kommt in der modernen Arbeitswelt immer seltener vor.
Aber wie wirken sich diese ständigen Unterbrechungen durch moderne Kommunikationstechnologie auf unser Gehirn aus? Noch werde dazu wenig geforscht, sagt Annette Hoppe, Leiterin des Lehrgebiets Arbeitswissenschaften an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus: "Die Entwicklung verlief so schnell, dass es noch keine Langzeitstudien gibt." Zudem sei es lange schwierig gewesen, für entsprechende Untersuchungen Fördergelder zu bekommen, da lediglich die Entwicklung neuer Technologien gefördert wurde. Als die Arbeitspsychologin auf einer Fachkonferenz 2004 erstmals das Wort "Technikstress" erwähnte, sei sie von ihren Ingenieurskollegen noch ausgelacht worden. "Technik wird alles erleichtern, sagten sie", erinnert sie sich. Erst zehn Jahre später ist in Deutschland das Bewusstsein angekommen, dass der unbedarfte Umgang mit moderner Technik durchaus eine Belastung sein kann.
"Psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz müssen ernst genommen werden", fordert Antje Baethge, Wirtschaftspsychologin an der Universität Mainz. Gerade häufige Unterbrechungen führen laut ihrer Studien dazu, dass wir schneller erschöpft und unzufrieden mit unserer Leistung sind. Störungen sind zunächst kein neues Phänomen und gut erforscht. Schließlich unterbrechen uns auch Kollegen mit einer Frage, klingelnde Telefone, der laut sprechende Nachbar im Großraumbüro, der Arzt im Schwesternzimmer. Schon vor der digitalen Revolution hatten Menschen mit diesem Phänomen zu tun. "Unterbrechungen sind ein Stressfaktor", sagt Baethge. Sie bringen uns aus dem Arbeitsfluss und setzen viele kognitive Mechanismen in Gang, unter anderem damit wir nicht vergessen, wo wir aufgehört haben. "Dadurch wird das Arbeitsgedächtnis belastet, und am Ende hat unser Gehirn mehr Arbeit damit, als wenn wir nicht unterbrochen worden wären."
Baethge ließ in einer Studie Krankenschwestern regelmäßig per Smartphone bei der Arbeit unterbrechen und wertete anschließend Indikatoren für Erschöpfung aus, wie Gereiztheit, Unzufriedenheit, Vergesslichkeit. Das Ergebnis: Wer viel unterbrochen wird, ist schneller erschöpft. Deshalb steigt das Bedürfnis nach einer Pause. Viele gönnen sich gerade dann aber keine Pause, weil sie auf Grund der Unterbrechungen ihrem Zeitplan hinterherhinken. Das führt zu einem Teufelskreis. Deshalb rät Baethge dazu, Störungen möglichst zu vermeiden, erst eine Aufgabe abzuschließen. Und nur kein Multitasking, denn das überfordert unser Gehirn: "Selbst diejenigen, die denken, sie seien gut in Multitasking, sind schlecht." Studien zeigten, dass Menschen, die mehrere Jobs gleichzeitig erledigten, schlechtere Leistungen ablieferten, als wenn sie eine Aufgabe nach der anderen erledigten.
Arbeit ohne Ende
Genau das machen wir aber, wenn wir während einer konzentrierten Arbeitsphase "nur kurz die Mails checken" oder dem Signalton für neue Twitter-Interaktionen des Smartphones nicht widerstehen können. Aber auch, wer E-Mail-Benachrichtigungen abstellt und das Handy im Nachbarzimmer deponiert, wird der Allgegenwart unserer Kommunikation nicht völlig entkommen. In vielen Berufen kann man heutzutage von überall arbeiten. Das ist für viele Menschen ein Gewinn, weil sich so beispielsweise Arbeit und Kindererziehung besser verbinden lassen. Gleichzeitig erzeugt dieses Überall-arbeiten-Können auch Druck: Wir haben nie richtig Feierabend. Viele Unternehmen wollen ihre Mitarbeiter auch nach Arbeitsschluss oder im Urlaub anrufen. Erste Erkenntnisse über Homeoffice und flexible Arbeitszeiten zeigen die negativen Folgen der neuen Freiheit der ständigen Erreichbarkeit. Die Arbeitsgruppe Wirtschaftspsychologie der Universität Freiburg hat im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz 2013 insgesamt 23 Studien zur Erreichbarkeit ausgewertet: Unter dem Strich fühlten sich die Betroffenen umso gestresster, je mehr die Arbeit in das Privatleben Einzug hält. Es wuchs das Gefühl, nicht mehr abschalten zu können.
Dabei sind gerade Kommunikationspausen umso wichtiger, betont Annette Hoppe: Denn das Arbeiten am Bildschirm, das Mailen, das Surfen mit dem Smartphone belaste immer die gleichen Hirnregionen. "Früher haben die Menschen nach Feierabend etwas ganz anderes gemacht und sich dabei erholt." Heute lesen wir auf dem Heimweg in der Bahn Nachrichten auf dem Smartphone und surfen zu Hause auf dem Sofa mit dem Tablet-PC – eine Überforderung für unser Gehirn, fürchtet Hoppe: "Es passt sich an vieles an, aber irgendwann ist die Grenze erreicht." Auch Molekularpsychologe Montag ist sich sicher: Lange Zeit habe uns die Technik entlastet. "Aber jetzt sind wir an dem Punkt, wo der Vorteil der digitalen Revolution verschwunden ist." Hoffnungen, nach denen sich das Gehirn vielleicht anpassen könnte und in einigen Jahren von Multitasking und Unterbrechungen weniger gestresst ist, enttäuscht er: "So schnell funktioniert die Evolution nicht." Auch die Art der zwischenmenschlichen Beziehungen bereite ihm Sorgen: Für ein zufriedenes Leben sei ein persönlicher Austausch unabdingbar. Dieser lasse sich nicht durch virtuelle Kontakte ersetzen: "Ein trauriger Smiley tröstet weniger als eine Umarmung", sagt Montag – auch die Macht der Berührung ist fest im Gehirn verankert.
Fünf Tipps für effektives Arbeiten: So sind Sie auch trotz E-Mail, Handy und Co produktiv!
Wenn sich das Gehirn nicht so schnell umstellen kann, muss sich unser Umgang mit der Technologie anpassen. Kann diese uns dabei unterstützen? Technikstressforscherin Annette Hoppe wünscht sich Computer, die den Menschen begleiten und anzeigen, wann er eine Pause braucht. 08/15-Lösungen seien nicht der richtige Weg, sagt sie, auch wenn das für Politiker einfacher wäre, um sie in Gesetze zu gießen. "Aber jeder Mensch ist anders, Arbeitsbedingungen sind unterschiedlich." Manche müssen auch nachts erreichbar sein, andere hingegen können schon ab 17 Uhr das Handy ausschalten. Auch Psychologe Montag rät zu individuellen Regelungen, beispielsweise durch eine Software auf dem Smartphone, die Erreichbarkeit persönlich unterscheidet: Anrufe vom Chef könnten zwischen 9 und 16 Uhr durchgestellt werden, von 18 bis 22 Uhr dürfen Freunde anrufen, ab 22 Uhr ist Zeit für Erholung.
Doch vor der intelligenten Technologie zur Regelung unserer Erholung steht ein Bewusstseinsprozess in der Gesellschaft: Wie wertvoll ist uns Offline-Zeit? Wann wollen und wann müssen wir erreichbar sein? Müssen wir eigentlich jede Mail beantworten – eine Frage, die Felix Freiling mit seiner E-Mail-Policy provokativ stellt. Sich nicht vom Netz ablenken zu lassen, erfordert noch viel Selbstdisziplin. Wie schwierig das ist, zeigt der Erfolg die App "Freedom", ein kostenpflichtiges Programm, das Rechner und Smartphone für eine zuvor bestimmte Zeit offline stellt. Wer vor Ablauf dieser Frist ins Netz will, muss neu booten. Was auf den ersten Blick absurd wirkt – dafür zu bezahlen, dass Funktionen des Computers ausgeschaltet werden – scheint vielen zu helfen. Autoren wie Naomi Klein schwärmen von Freedom: "Wenn ich jemals mein Buch beende, dann damit." Solche Tricks gegen Unterbrechungen helfen freilich jener Krankenschwester aus Baethges Studie nicht weiter, die sich für wichtige Arbeiten immer in die Zimmer von Quarantänepatienten zurückzog, nach dem Motto: Da platzt so schnell keiner rein. Schreibtischarbeiter haben zum Glück ungefährlichere Möglichkeiten, sich vor Unterbrechungen zu schützen.
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