Klimakrise: Angst um die Umwelt
Nach den Hitzesommern von 2018 und 2019 kamen immer mehr Patienten mit einem neuartigen Problem in meine psychotherapeutische Praxis. Zwar sind die Begriffe Klimakatastrophe und Artensterben inzwischen in aller Munde. Aber diese Menschen hatten offenbar eine überwältigende Angst vor dem düsteren Szenario, das Wissenschaftler uns heutzutage prophezeien. Sich die Zukunft vorzustellen, stürzte sie in abgrundtiefe Verzweiflung.
Klimaängste nehmen zu. Seit 2019 sorgen sich Franzosen, Niederländer und Deutsche laut Erhebungen mehr um die Umwelt als um ihren Arbeitsplatz oder die soziale Sicherheit. Wie müssen Therapeuten, die in der Praxis früher vor allem mit »klassischen« Angstauslösern konfrontiert waren, damit umgehen? Und was sagt das neue Phänomen ganz grundsätzlich über den Zustand unserer Gesellschaft aus?
Die Patienten, die zu mir kamen, überzeugten mich davon, dass hinter ihren Sorgen mehr steckte. Ich entschied mich dafür, eine Onlineumfrage durchzuführen, und schaltete hierzu eine Anzeige im Internet. Diese richtete sich an Personen, die bereit waren, Fragebogen zu ihrer eigenen Umweltangst (»eco-anxiety«) auszufüllen.
Nach einigen Wochen ertrank ich geradezu in der Flut der Antworten, jeden Tag gingen mindestens 40 Rückmeldungen ein. Manche Zeilen in den Fragebogen stimmten mich sehr nachdenklich. »Ich bin häufig niedergeschlagen. Ich habe Schwierigkeiten, mir meine Zukunft vorzustellen. Und ich verhalte mich zynisch gegenüber Menschen, die in meinem Alter Kinder bekommen, wo wir doch in einer apokalyptischen Welt leben werden«, schrieb etwa eine Teilnehmerin. Ich fragte mich unwillkürlich: »Ist die Frau erkrankt, wie Menschen mit einer klassischen Angststörung? Oder sieht sie die Zukunft einfach nur klarer?«
Meine Befragung blieb einen Monat online und verbreitete sich vor allem über die sozialen Medien. Insgesamt erfasste ich die Antworten von 1264 Personen, von denen 1066 den gesamten Fragebogen beantwortet haben. Wer waren diese umweltängstlichen Menschen? Es hatten sich mehrheitlich Frauen (mehr als 64 Prozent) gemeldet. Sie gehörten hauptsächlich zur oberen Mittel- oder zur Oberschicht und lebten vor allem in der Stadt. Mehr als 60 Prozent der Teilnehmer waren zwischen 26 und 45 Jahre alt. Und beruflich betätigten sie sich am häufigsten in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Nachhaltigkeit. Ein guter Teil der Gruppe beschäftigte sich also schon von Berufs wegen mit Umweltfragen.
Die Daten sind natürlich mit Vorsicht zu interpretieren, da es sich um keine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung handelt. Vielleicht nahmen beispielsweise mehr Frauen an der Umfrage teil, weil sie bereitwilliger als Männer über ihre Gefühle sprechen? Der hohe Rücklauf an Antworten weist für mich aber auf einen starken Mitteilungsbedarf zu dem Thema hin.
Mehr als 90 Prozent der Befragten nannten explizit Umweltprobleme als Auslöser für ihre Angst, die mit (durchschnittlich) 3,78 auf einer Skala von 1 bis 5 recht ausgeprägt war. Ihren Alltagsstress ordneten sie auf derselben Skala nur bei 3,08 ein. Über zwei Drittel bezeichneten ihre umweltbezogenen Ängste als »beträchtlich« oder »stark«.
Der Verlust der Artenvielfalt, die Verknappung der Trinkwasserreserven und die Klimaerwärmung sind die am häufigsten genannten Bedrohungen. Doch mehr als ein Drittel der Teilnehmer beschrieben darüber hinaus weitere Probleme: »Kriege, Hungersnöte, Krankheiten, Medizin/Pflege (Versorgung mit Medikamenten), extrem viele Tote, Gewalt, Gesetz des Stärkeren, Individualismus, das Risiko nuklearer Unfälle ...« Sie befürchten mehr oder weniger einen umfassenden globalen Zusammenbruch: des Ökosystems Erde, der Wirtschaft, der medizinischen Versorgung, der Gesellschaft, der politischen Führungssysteme, begleitet von nicht mehr zu bewältigenden Flüchtlingsströmen und Krieg. Die Ängste haben eine globale Dimension, beziehen sich aber auch auf individuelle existenzielle Fragen wie die Angst vor Einsamkeit, Tod und wie sie selbst oder die eigenen Kinder in der Zukunft leben werden.
»Angst« ist nicht die einzige Emotion, welche die Befragten explizit äußerten. Um ihren Gefühlszustand zu beschreiben, nutzten sie 175 verschiedene Vokabeln, davon 114 mit negativer und 61 mit positiver Konnotation. Die fünf häufigsten waren Wut, Traurigkeit, Machtlosigkeit, Angst und Hoffnung. Eine Frau schrieb zum Beispiel: »Trauer um die verlorenen Schätze der Natur und Freude darüber, einige noch bewundern zu können. Wut über die Zerstörer, Schuldgefühle, dass man daran teilhat. Angst vor den Konsequenzen für unsere Gesellschaft.«
Wie gehen Betroffene mit ihrer Sorge um? Die meisten behalten sie nicht für sich. Sich anderen mitzuteilen, stellt laut der Umfrage ihre wichtigste Bewältigungsstrategie dar. So gaben rund 60 Prozent der Befragten an, Gespräche würden ihnen gegen die erdrückenden Ängste helfen. Zudem versuchen sie, die Menschen um sich herum, insbesondere Freunde, Familienmitglieder oder Kollegen, für die Umweltproblematik zu sensibilisieren.
Die Mehrheit aber, nämlich 61 Prozent, hat bereits beschlossen, aktiv zu werden, und konkrete Projekte initiiert. Sie achten etwa für sich selbst strikt auf Müllvermeidung, kaufen lokale Produkte und wechseln zu einer ökologischeren Fortbewegung wie öffentlichen Verkehrsmitteln oder Fahrrad. Der Naturschutz erhält höchsten Stellenwert. So helfen sie beim Säubern verschmutzter Naturräume oder engagieren sich bei Begrünungs- und Gartenaktionen in den Städten. Manche streben eine berufliche Veränderung an, bilden sich weiter, ziehen um, andere entscheiden sich bewusst gegen (weitere) Kinder. Einige widmen sich der Kunst, um ihrer Angst Ausdruck zu verleihen, andere versuchen, sich selbst und ihre Gefühle psychologisch zu ergründen.
Die meisten beginnen, sich verstärkt gesellschaftlich zu engagieren. Extremes Umweltengagement (darunter auch ziviler Ungehorsam nach dem Vorbild von Extinction Rebellion) gehört mit rund 16 Prozent zu den am häufigsten genannten Reaktionen auf die wahrgenommene Bedrohung. Ob Menschen nun allein oder zusammen mit anderen, beruflich oder privat aktiv werden und ob es sich dabei um eher kleine Gesten oder um große Projekte handelt – alle diese Aktionen vermitteln das Gefühl, etwas Nützliches zu tun und der Situation nicht machtlos ausgeliefert zu sein. Auch darüber nachzudenken, was einen kurz- und mittelfristig mit Sinn erfüllt, verleiht »Kohärenz« – das Gefühl, die Zusammenhänge des eigenen Lebenswegs zu verstehen und ihn sinnvoll gestalten zu können.
In Kürze:
UMWELTANGST
Den Begriff »eco-anxiety« verwendete erstmals der amerikanische Ökopsychologe Théodore Roszak im Jahr 1995. Er definierte damit das schmerzhafte Gefühl, das ökologisch bewusste Menschen durch das Sichhineinversetzen in die Zukunft empfinden. Wichtige Arbeiten zum Thema stammen zudem von Glenn Albrecht, einem australischen Philosophen. Dieser prägte 2005 auch den Begriff Solastalgie (»solastalgia«).
SOLASTALGIE
meint die »Trauer« oder das psychische Leiden von ganzen Bevölkerungsgruppen, deren Lebenswelt durch Umweltkatastrophen oder Industrie (etwa destruktiven Bergbau) grundlegend verändert wurde. Es gibt auf der ganzen Welt Beispiele, in denen von Landwirtschaft geprägte Gemeinden oder naturverbundene Gesellschaften von der Zerstörung ihrer Umwelt aktuell existenziell bedroht sind. Dort verzeichnen Forscher einen deutlichen Anstieg psychischer Störungen.
KOLLAPSOLOGIE
Der Begriff stammt von dem französischen Agrarökologen Pablo Servigne, der einen Zusammenbruch der industrialisierten Zivilisation bis zum Jahr 2030 für möglich hält, an dessen Ende die Grundbedürfnisse (Wasser, Nahrung, Wohnung, Kleidung, Energie) eines Großteils der Bevölkerung nicht mehr gedeckt werden können. Zusammen mit Raphaël Stevens publizierte er 2015 den Essay »Wie alles zusammenbrechen kann. Kleines Kollapsologie-Handbuch für gegenwärtige Generationen«.
Vom Ich zum Wir
Offenbar erscheinen gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit unumgänglich, um eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. Es handelt sich somit um eine Gegenströmung zum Individualisierungsstreben in unserer Gesellschaft. 96 Prozent der Teilnehmer denken zudem, dass wir wieder mehr Kontakt mit der Natur brauchen, da unsere körperliche und geistige Gesundheit eng damit verknüpft seien. Fragt man diese Personen nach ihren Gefühlen beim Aufenthalt in natürlicher Umgebung, tauchen immer wieder fünf Begriffe auf: Ruhe, Heiterkeit, Friede, Glück, Freude.
Für mich als Therapeutin bedeutet das Phänomen Umweltangst eine Herausforderung. Wie gehe ich mit dem neuen Leiden bei meinen Patienten um? Üblicherweise versuche ich, sie mit ihren Ängsten anzunehmen, ohne deren Berechtigung zu hinterfragen. Ich versuche nicht, ihr Leid wegzureden. Denn es hilft ihnen bereits, jemanden zu finden, der das, was sie erleben, akzeptiert und sie dementsprechend behandelt.
Unter den Patienten mit Umweltängsten in meiner Praxis beobachte ich aktuell verschiedene Typen. Zunächst gibt es jene, die mit einer Art ökologischem Burnout zu mir kommen. Angesichts des schier unüberwindbaren Bergs fühlen sie sich ausgelaugt, und ihr tägliches Bemühen – etwa in Beruf oder Verein – hat ihre kognitiven Ressourcen vollkommen erschöpft. Manchmal können sie nicht einmal mehr einfache Entscheidungen wie die Wahl eines Urlaubsziels treffen. Ich arbeite also mit ihnen daran, ihr Identitätsgefühl wiederherzustellen: »Was wünschen Sie sich? Was brauchen Sie persönlich? Was ergibt für Sie Sinn?«
Eine weitere Kategorie von Patienten sind Anhänger der Kollapsologie. Die Vertreter dieser Strömung befürchten den baldigen Zusammenbruch der industriellen Produktion, der Wirtschaft und der sozialen Systeme, weil sich die natürlichen Ressourcen erschöpfen und die Ökosysteme sich so dramatisch verändern. Es handelt sich hierbei um allgemein eher besorgte Personen, die meinen, sich auf das Schlimmste vorbereiten zu müssen. Oft leiden sie unter einer Art Informationsbulimie, die ihr geistiges Aufnahme- und Reaktionsvermögen überlastet. Ich versuche meist, sie zu einer Medienentgiftungskur zu ermutigen. Dabei geht es nicht darum, die Realität zu leugnen. Aber solche Menschen müssen sich vor einer Überfülle an Informationen schützen, weil das auf Dauer ihr emotionales Gleichgewicht bedroht. Ich schlage ihnen vor, sich zum jetzigen Zeitpunkt vom emotionalen Ballast der Zukunftsfragen zu befreien und sich stattdessen auf kurz- und mittelfristiges Handeln zu konzentrieren. Das hilft ihnen, den Alltag zu meistern, die Denkmuster des akuten Notstands zu verlassen und kleine Maßnahmen in der Gegenwart umzusetzen. All dies stärkt das Gefühl, die Ereignisse unter Kontrolle zu bekommen.
Ich stelle außerdem regelmäßig fest, dass es hilft, wenn wir uns bewusst machen, welche Träume und Sehnsüchte uns Energie und Kraft zum Handeln spenden. Die Rolle des Therapeuten ist dabei, im Rahmen seiner Möglichkeiten neue Initiativen zu begleiten und die Patienten darin zu bestärken, ihre Projekte zu konkretisieren. Schließlich ermutige ich sie dazu, eine tägliche Routine zu etablieren, zu der auch Atemübungen und Meditation gehören. Außerdem muss es Phasen geben, die nicht dem Handeln, sondern ganz dem »Sein« vorbehalten sind. Die Menschen müssen sich Zeit nehmen, um mit Freunden oder Angehörigen zusammen zu sein, und das Gefühl für das Verstreichen der Zeit, für Schönheit und Wunder wiederfinden. Hierbei kann der Kontakt mit der Natur sehr wertvoll sein.
Es bleibt die Grundsatzfrage: Wo liegt bei der Ökoangst die Grenze zwischen einem Krankheitsbild, das auf eine Fehlfunktion der Psyche hinweist, und einer gesunden Reaktion auf eine unsichere, bedrohlich wirkende Zukunft? Die Betroffenen sind – was die Umweltproblematik betrifft – zweifellos empfindlicher als ihre Mitmenschen. Wenn die Angst so stark wird, dass sie in eine Depression, womöglich mit Suizidgedanken, kippt, braucht derjenige therapeutische Hilfe. Hingegen gibt es keinen Grund dafür, eine Sorge, die zum notwendigen Handeln motiviert, als Störung zu betrachten.
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