Sozialforschung: Wie die Krise die Gesellschaft gefährdet
Seit 2002 erforscht der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, wie sich Werte in unserer Gesellschaft entwickeln. Speziell zielt sein in Deutschland einzigartiges Langzeitprojekt auf die Analyse gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ab – etwa gegenüber Muslimen, Frauen oder Homosexuellen. Die zwischen 2008 und 2010 erhobenen und jetzt ausgewerteten Daten gleichen einer Fieberkurve. Sie zeigen erstmals, dass Normen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness während einer Wirtschaftskrise unter Druck geraten. Der Befund ist alarmierend: Vor allem Wohlhabende können demnach in Zeiten ökonomischer Unsicherheit ausgeprägte Tendenzen zur Entsolidarisierung entwicklen. Ein Gespräch über bröckelnde Normen in Zeiten der Krise.
spektrumdirekt: Herr Professor Heitmeyer – Sie haben in der ersten Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 bis 2011 einmaliges Datenmaterial über die Menschen in unserem Land gesammelt. Was macht eine Krise, wie wir sie gerade erneut erleben, mit den Menschen?
Sie sprechen angesichts Ihrer neuesten Daten von einer Erosion von Kernnormen. Um welche Normen handelt es sich dabei?
Jede Gesellschaft braucht für ihre Integration und die Vermeidung zerstörerischer Desintegration die Gültigkeit von Kernnormen, an die die Menschen glauben und von denen sie erwarten, dass sie realisiert werden oder realisierbar sind: Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness. Große Teile der Bevölkerung glauben nicht mehr an die Verwirklichung. Das ist für das soziale Klima gefährlich.
Wie entwickelte sich die Angst vor Arbeitslosigkeit während der ersten Finanz- und Wirtschaftskrise?
Welche Angst hat bei den reichen Deutschen zugenommen?
Zu den wirklich reichen Deutschen haben wir keine Daten, weil sie einer zahlenmäßig kleinen Gruppe angehören, die in Bevölkerungsbefragungen nicht empirisch relevant erfasst werden kann. Nimmt man die Besserverdienenden, dann werden vor allem Etabliertenvorrechte angemahnt, obwohl ohnehin eine politisch gewollte Umverteilung von unten nach oben stattfindet.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Krisenwahrnehmung und der Diskriminierung von Fremdgruppen in der Gesellschaft?
Dieser Zusammenhang ist offenkundig und wird durch wiederholte Analysen immer wieder bestätigt.
Besteht ein Zusammenhang zwischen der politischen Orientierung und Islamfeindlichkeit?
Lange Zeit dachten Soziologen, Bildung und sicheres Einkommen schützen Menschen davor, feindliche Einstellungen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln. Die von Ihnen in der ersten Finanz- und Wirtschaftskrise erhobenen Daten erschüttern diese Lehrmeinung in gewisser Weise, oder?
In der Tat: Bei Betrachtungen der verschiedenen Elemente der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit muss man sehr vorsichtig mit der Annahme sein, dass höhere Bildungsgrade vor feindseligen Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen schützen. Ich nenne das eine "rohe Bürgerlichkeit", die zum Beispiel gegenüber ökonomisch nicht leistungsfähigen, effektiven oder nützlichen Gruppen rabiat eingestellt ist. Der formale Bildungsgrad muss allerdings hinterfragt werden. Über welche Qualität von Bildung reden wir eigentlich, wenn wir eine immer stärkere Ökonomisierung des Sozialen beobachten – also Kategorien des autoritären Kapitalismus in den sozialen Lebenswelten feststellbar sind?
Inwieweit wirken sich Ungleichverteilungen bei den Einkommen innerhalb einer Gesellschaft generell auf Gesundheit und soziale Probleme aus?
Die britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in ihren Ländervergleichen deutlich festgestellt: Je ungleicher die Verteilung von Einkommen, desto größer sind die gesundheitlichen und sozialen Probleme. Dies gilt auch für Mordfälle. Spitzenreiter überall: die USA.
Ihre Erhebung zeigt, dass heute mehr Menschen hier zu Lande bereit sind, an einer Demonstration teilzunehmen, als noch zwei Jahre zuvor. In welchen Gruppen ist diese Tendenz besonders ausgeprägt? Und wie erklären Sie das?
Die Demonstrationsbereitschaft steigt und die Motive sind sehr unterschiedlich. Ein Motiv ist die Sicherung von Etabliertenvorrechten. Die sozial Schwachen sind wieder benachteiligt. Sie sind mit der Rettung des "nächsten Tages" schon zu beschäftigt, denn Arbeitslosigkeit zerstört.
Sie warnen auch vor Demokratieentleerung. Was verstehen Sie darunter?
Demokratieentleerung meint, dass zwar das formale Funktionieren des Systems "weiterläuft", aber die innere Qualität eben entleert und so auch in der Bevölkerung wahrgenommen wird. Dies ist insbesondere in der Verbindung mit Krisen gefährlich – zumal wir es seit Jahrzehnten mit einem Kontrollgewinn des Kapitals und einem Kontrollverlust nationalstaatlich, demokratisch legitimierter Politik zu tun haben.
Wagen Sie eine Prognose über die Zukunft unserer Gesellschaft?
Nein.
Herr Professor Heitmeyer, wir bedanken uns für das Gespräch.
Wilhelm Heitmeyer: Dies hängt erstens vom Krisentypus und zweitens von den subjektiven Verarbeitungen in den verschiedenen sozialen und damit auch finanziellen Lagen ab. In der Finanzkrise waren jene betroffen, die Aktien hatten. In der Wirtschaftskrise waren andere, insbesondere die prekär beschäftigten Menschen involviert und in der Fiskalkrise in Städten und Gemeinden die von Transferleistungen betroffenen Gruppen – immer variierend nach der jeweiligen finanziellen Grundlage. Gemeinsam war dabei stets die Angst vor dem Absturz.
Sie sprechen angesichts Ihrer neuesten Daten von einer Erosion von Kernnormen. Um welche Normen handelt es sich dabei?
Jede Gesellschaft braucht für ihre Integration und die Vermeidung zerstörerischer Desintegration die Gültigkeit von Kernnormen, an die die Menschen glauben und von denen sie erwarten, dass sie realisiert werden oder realisierbar sind: Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness. Große Teile der Bevölkerung glauben nicht mehr an die Verwirklichung. Das ist für das soziale Klima gefährlich.
Wie entwickelte sich die Angst vor Arbeitslosigkeit während der ersten Finanz- und Wirtschaftskrise?
Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld untersucht seit 2002 alle zwei Jahre das Phänomen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Für die neueste Erhebung innerhalb der Langzeitstudie wurden zwischen dem 31. Mai und dem 25. Juni 2010 insgesamt 2000 Menschen zwischen 16 und 90 Jahren telefonisch befragt. Die Fragen kreisten unter anderem um die persönliche Einstellung in Bezug auf die eigene Lebensplanung und die allgemeine Entwicklung. Die Interviewdauer betrug dabei etwa 30 Minuten. 55 Prozent der Teilnehmer waren Frauen, 45 Prozent Männer; 70 Prozent wohnten in West-, 30 Prozent in Ostdeutschland.
Die Angst begann in der breiten mittleren Soziallage nach Einführung von Hartz IV im Jahr 2005. Sie ist dann später weiter eingedrungen unter den Bedingungen der schon erwähnten verschiedenen 'Krisentypen'. Welche Angst hat bei den reichen Deutschen zugenommen?
Zu den wirklich reichen Deutschen haben wir keine Daten, weil sie einer zahlenmäßig kleinen Gruppe angehören, die in Bevölkerungsbefragungen nicht empirisch relevant erfasst werden kann. Nimmt man die Besserverdienenden, dann werden vor allem Etabliertenvorrechte angemahnt, obwohl ohnehin eine politisch gewollte Umverteilung von unten nach oben stattfindet.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Krisenwahrnehmung und der Diskriminierung von Fremdgruppen in der Gesellschaft?
Dieser Zusammenhang ist offenkundig und wird durch wiederholte Analysen immer wieder bestätigt.
Besteht ein Zusammenhang zwischen der politischen Orientierung und Islamfeindlichkeit?
Auch diesen Zusammenhang gibt es; zugleich sind Veränderungen über die Zeit feststellbar. Dabei muss man unterscheiden zwischen Ausmaßen und Anstiegen. Bei Befragten, die sich selbst als politisch rechts stehend einschätzen, liegt die Islamfeindlichkeit dauerhaft deutlich höher, stagniert auf diesem Niveau aber. In der Mitte und links davon ist sie niedriger, nimmt aber über die Zeit signifikant zu.
Lange Zeit dachten Soziologen, Bildung und sicheres Einkommen schützen Menschen davor, feindliche Einstellungen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln. Die von Ihnen in der ersten Finanz- und Wirtschaftskrise erhobenen Daten erschüttern diese Lehrmeinung in gewisser Weise, oder?
In der Tat: Bei Betrachtungen der verschiedenen Elemente der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit muss man sehr vorsichtig mit der Annahme sein, dass höhere Bildungsgrade vor feindseligen Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen schützen. Ich nenne das eine "rohe Bürgerlichkeit", die zum Beispiel gegenüber ökonomisch nicht leistungsfähigen, effektiven oder nützlichen Gruppen rabiat eingestellt ist. Der formale Bildungsgrad muss allerdings hinterfragt werden. Über welche Qualität von Bildung reden wir eigentlich, wenn wir eine immer stärkere Ökonomisierung des Sozialen beobachten – also Kategorien des autoritären Kapitalismus in den sozialen Lebenswelten feststellbar sind?
Inwieweit wirken sich Ungleichverteilungen bei den Einkommen innerhalb einer Gesellschaft generell auf Gesundheit und soziale Probleme aus?
Die britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in ihren Ländervergleichen deutlich festgestellt: Je ungleicher die Verteilung von Einkommen, desto größer sind die gesundheitlichen und sozialen Probleme. Dies gilt auch für Mordfälle. Spitzenreiter überall: die USA.
Ihre Erhebung zeigt, dass heute mehr Menschen hier zu Lande bereit sind, an einer Demonstration teilzunehmen, als noch zwei Jahre zuvor. In welchen Gruppen ist diese Tendenz besonders ausgeprägt? Und wie erklären Sie das?
Die Demonstrationsbereitschaft steigt und die Motive sind sehr unterschiedlich. Ein Motiv ist die Sicherung von Etabliertenvorrechten. Die sozial Schwachen sind wieder benachteiligt. Sie sind mit der Rettung des "nächsten Tages" schon zu beschäftigt, denn Arbeitslosigkeit zerstört.
Sie warnen auch vor Demokratieentleerung. Was verstehen Sie darunter?
Demokratieentleerung meint, dass zwar das formale Funktionieren des Systems "weiterläuft", aber die innere Qualität eben entleert und so auch in der Bevölkerung wahrgenommen wird. Dies ist insbesondere in der Verbindung mit Krisen gefährlich – zumal wir es seit Jahrzehnten mit einem Kontrollgewinn des Kapitals und einem Kontrollverlust nationalstaatlich, demokratisch legitimierter Politik zu tun haben.
Wagen Sie eine Prognose über die Zukunft unserer Gesellschaft?
Nein.
Herr Professor Heitmeyer, wir bedanken uns für das Gespräch.
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