Neuroarchäologie: Wie ein rätselhaftes Gehirn Jahrtausende überdauerte
Den 30-jährigen Mann aus der Eisenzeit ereilte vor 2600 Jahren ein hartes Schicksal: Zuerst wurde er erhängt, anschließend schnitt man ihm den Kopf ab. Dieser wurde 2008 von britischen Archäologen bei Ausgrabungen in Heslington nahe York gefunden und barg eine Weltsensation: eines der besterhaltenen Gehirne der europäischen Vorgeschichte. Darin lassen sich nicht nur einzelne Gyri und Furchen erkennen, auch graue und weiße Substanz sind differenzierbar. Wie das Gewebe der Zeit trotzen konnte, war Experten viele Jahre ein Rätsel. Denn anders als bei ähnlichen Funden konnte eine rituelle oder durch Moorböden entstandene Mumifikation ausgeschlossen werden.
Nun sind Forscher dem »Heslington-Gehirn« mit Hilfe aufwändiger Analysen ein Stück weit auf die Schliche gekommen. Die Arbeitsgruppe um Axel Petzold vom University College London fand heraus, dass zwei Proteine, welche den Axonen von Nerven- und Gliazellen Struktur sowie Festigkeit geben – so genannte Intermediärfilamente –, in dem prähistorischen Hirn aggregiert vorliegen. Hierdurch wird die Oberfläche der Moleküle so verkleinert, dass sie von außen weniger angreifbar und somit stabiler sind.
Derartige Aggregate findet man typischerweise im Hirngewebe von Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen. Das Vorliegen einer solchen konnten die Wissenschaftler für das »Heslington-Gehirn« jedoch ausschließen. Petzold und seine Kollegen vermuten indes: Eine unbekannte, womöglich saure Substanz hat verhindert, dass sich das Hirngewebe nach dem Tod auflöste. Diese muss innerhalb von drei Monaten nach der Hinrichtung des Mannes vom feuchten Erdboden in das Gewebe eingedrungen sein. Worum genau es sich dabei handelt, ist jedoch bislang unklar.
Noch sind viele weitere Untersuchungen nötig, um das Rätsel der geheimnisvollen Konservierung endgültig zu lüften. Die Studie von Petzold und seinem Team liefert dennoch wichtige Erkenntnisse – nicht nur für die Archäologie, sondern auch für die Medizin. So könnte sie dabei helfen, die Bildung zerstörerischer Proteinplaques bei neurodegenerativen Erkrankungen besser zu verstehen und herauszufinden, wie genau sich diese von den Aggregaten unterscheiden, die das »Heslington-Gehirn« über Jahrtausende vor dem Verfall bewahrt haben.
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