Serie Schule und Lernen: Wie früh sollten Kinder eine zweite Sprache lernen?
Der Mensch ist ein einsprachiges Wesen – das war noch vor 50 Jahren der Tenor unter vielen Sprach- und Bildungsforschern. Ihre Warnung: Nicht nur die Sprache, sondern auch die Sitten würden leiden, wenn ein Kind mehrere Sprachen gleichzeitig lernt. Es bestünde die Gefahr von einer wachsenden Trägheit des Geistes, sich lockernder Selbstzucht und schließlich dem Erschlaffen des Gewissens. Zwischenzeitig war sogar von einem Risiko für Neurosen oder auch Intelligenzdefiziten die Rede.
Inzwischen sehen Experten das Thema Sprachenlernen ganz anders. "Die Annahme, Zweisprachigkeit sei schädlich, ist Unsinn", sagt Frank Königs, Professor für Allgemeine Didaktik und Sprachlehrforschung sowie Leiter des Informationszentrums für Fremdsprachenforschung an der Universität Marburg. Kinder könnten problemlos mit zwei Sprachen aufwachsen und würden mitunter sogar beeindruckende Kompetenzen entwickeln.
Von Entwicklungsvorsprüngen im Denken und Handeln bis hin zu mehr Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Menschen: Die Vorzüge der Zweisprachigkeit im Kindesalter sind breit gefächert, wie die Forschung in den vergangenen Jahren immer wieder zeigte. Das Fazit aktueller Übersichtsarbeiten mit dutzenden Forschungsbefunden: Die Kinder können nur gewinnen. In vielen Tests schneiden sie besser ab als Gleichaltrige, zumindest aber gleich gut. Schaden verursacht der doppelte Input in aller Regel nicht.
Entgegen der Befürchtungen früherer Sprachforscher hat Zweisprachigkeit zum Beispiel keinen negativen Einfluss auf die Intelligenz der Kinder. Sie bleiben weder in ihrer Entwicklung zurück, noch sind sie besonders häufig Überflieger. Einzelne Studien weisen allerdings daraufhin, dass der frühe Kontakt mit zwei Sprachen die Gedächtnisleistung positiv beeinflussen kann. Vereinzelt berichten Forscher auch darüber, dass bilinguale Kinder besser ihr eigenes Denken reflektieren können – also das, was in ihrem Kopf vorgeht –, wenn sie die Vokabeln und Grammatik einer Sprache lernen. Sie sind sich ihrer Lernstrategien eher bewusst als einsprachige Kinder.
Zweisprachigkeit verbessert die Aufmerksamkeit
Neurowissenschaftliche Studien zeigen zudem, dass schon kleinste Kontakte mit einer anderen Sprache im Gehirn der Kinder sichtbar werden. In einem Experiment etwa wurden neun Monate alte Kinder, die in einem englischsprachigen Haushalt aufwuchsen, einen Monat lang in ihrem Alltag auf Spanisch angesprochen. Vorher und nachher untersuchten Forscher mit einem Elektroenzephalogramm die Reaktionen des Gehirns auf die beiden Sprachen. Während die Kinder zuvor keine besondere Reaktion auf spanische Laute zeigten, wohl aber auf englische, reagierte ihr Gehirn nach dem einen Monat mit spanischer Ansprache ähnlich wie zuvor auf englische Laute. Und: Sie verarbeiteten die muttersprachlichen Laute sogar schneller als bei der ersten Messung.
Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass zweisprachige Kinder außerdem Informationen schneller verarbeiten und ihre Aufmerksamkeit gezielter lenken können. Ihre exekutive Kontrolle, also die Fähigkeit, sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren und andere zeitgleich auszublenden, scheint besonders ausgeprägt. Das prüften Forscher etwa mit einem Test am Computer. Dabei wurden den Kindern nacheinander Bilder mit Fischen gezeigt, die entweder alle in eine oder in unterschiedliche Richtungen blickten. Die Kinder wurden gebeten, sich auf den Fisch in der Mitte des jeweiligen Bildes zu konzentrieren. Schaute dieser nach links, sollten sie auf der Tastatur den Pfeil drücken, der ebenfalls nach links zeigt – egal wohin die anderen Fische auf dem Bild wiesen.
Generell gilt bei diesem Test: Kinder wie Erwachsene drücken schneller die korrekte Taste, wenn die Ausrichtung aller Fische übereinstimmt, und brauchen länger und machen Fehler, wenn die Fische oder Symbole unterschiedlich ausgerichtet sind. In einem Vergleich zwischen einsprachigen und zweisprachigen Kindern im Grundschulalter trumpften letztere in dem Test auf. Sie waren flinker und machten weniger Fehler als ihre einsprachigen Altersgenossen. Fähigkeiten, die Forscher in unterschiedlichen Experimenten wiederholt fanden. Selbst bei sieben Monate alten Kleinkindern konnte ein Wissenschaftlerduo zeigen, wie viel leichter die zweisprachigen unter ihnen zwischen zwei Aufgaben umdenken konnten.
"Wer mit mehreren Sprachen aufwächst, lernt auch, zwischen unterschiedlichen Sprachsystemen hin- und herzuschalten"Pauline Schröter, MPI für Bildungsforschung
"Die Theorie dahinter ist einleuchtend: Wer mit mehreren Sprachen aufwächst, lernt auch, zwischen unterschiedlichen Sprachsystemen hin- und herzuschalten", erklärt die Psychologin und Sprachwissenschaftlerin Pauline Schröter vom Max-Planck-Institut (MPI) für Bildungsforschung in Berlin. Ein Beispiel: Wenn ein Junge deutsch und dänisch gelernt hat und nun Besuch von seiner dänische Tante hat, dann spricht er mit ihr dänisch. Währenddessen unterdrückt er das deutsche Vokabular und die Grammatik, also die unwichtigen Informationen in seinem Kopf. Wechselt er im Gespräch mit seiner Mutter ins Deutsche, ist ihm vor allem diese Sprache präsent, das Dänische wird dann weggedrückt. "Es ist verlockend zu denken, dass solch ein Mechanismus auch Vorteile für andere kognitive Prozesse hat. Die Befunde über solche Effekte sind allerdings durchaus widersprüchlich: Während einige Forschungsgruppen kontinuierlich über bilinguale Vorteile berichten, finden andere eher gegenteilige Effekte", sagt Schröter.
Zwischen den Kulturen wechseln
Das Vermögen, zwischen zwei oder mehreren unterschiedlichen Sprachsystemen wechseln zu können, scheint dennoch bedeutsam und sich in anderen Fähigkeiten bemerkbar zu machen. In zahlreichen Untersuchungen stachen bilinguale Kinder etwa als kreativere Köpfe hervor. Es fiel ihnen leichter als einsprachigen Kindern, in verschiedene Richtungen und abstrakter zu denken. Die Annahme: Sie sind es gewohnt nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch zwischen Kulturen zu "switchen".
Das könnte auch erklären, warum bilinguale Kinder sich verschiedenen Studien zufolge besser in andere Menschen hineinversetzen können als einsprachige Kinder gleichen Alters. Das prüften Wissenschaftler etwa, indem sie ihren kleinen Probanden eine Smarties-Packung vorlegten. Die Forscher fragten die Kinder, was sich ihrer Meinung nach wohl darin befindet. Zusammen mit dem Versuchsleiter durften sie schließlich nachschauen. Dabei stellte sich heraus, dass in der Packung tatsächlich gar keine Smarties waren, sondern beispielsweise Buntstifte. Anschließend wurden die Kinder befragt, was wohl ein anderes Kind denken würde, was sich in der Papprolle befindet. Kinder, die sich noch nicht in andere hineinversetzen können, antworten dabei "Buntstifte", weil sie zwischen ihrem eigenen Wissen und dem der anderen Person noch nicht unterscheiden können. Bilingual aufgewachsene Kinder waren in diversen Untersuchungen mit ähnlichem Ablauf hingegen eher dazu fähig zu differenzieren als Gleichaltrige mit einer Sprache.
"Nicht alle Kinder eigenen sich gleichermaßen für die Mehrsprachigkeit"Frank Königs, Universität Marburg
Damit Kinder tatsächlich von einer frühen Zweitsprache profitieren können, müssen allerdings bestimmte Bedingungen vorherrschen. "Sie müssen in ihrer Muttersprache ihrem Alter entsprechend gefestigt sein. Sonst geht der Versuch nach hinten los", erklärt Schröter. Die Gefahr, dass das Kind am Ende weder die eine noch die andere Sprache ordentlich sprechen kann, ist dann groß. Auch mache es einen Unterschied, wie intensiv das Kind mit der anderen Sprache in Kontakt kommt. "Wer möchte, dass das Kind die zweite Sprache genauso gut spricht wie seine Muttersprache, wird das nicht mit wöchentlich ein bis zwei Stunden erreichen", sagt die Sprachwissenschaftlerin. Immer mehr Kindergärten böten solche Sprachprogramme inzwischen unter dem Namen "bilingual" an. Das schüre jedoch falsche Erwartungen. In Kindergärten, die wirklich bilingual sind, gehöre die zweite Sprache zur tagtäglichen Kommunikation dazu.
Eine frühe Fremdsprache ist kein Muss!
Der Marburger Sprachlehrforscher Frank Königs warnt trotz der vielen positiven Forschungsbefunde davor, bilinguale Konzepte flächendeckend in deutschen Kindergärten einzusetzen: "Nicht alle Kinder eigenen sich gleichermaßen für die Mehrsprachigkeit. Das hat nichts mit Intelligenz zu tun, sondern damit, ob ein Kind sprachbegabt ist und ob es auch von seiner Persönlichkeit her offen für Fremdes und Neues ist." Diesen Kindern falle das Lernen leicht, andere könne die zweite Sprache überfordern. "Nur weil es möglich ist, dass Kinder zweisprachig aufwachsen, muss man das nicht unbedingt auch umsetzen", sagt der Sprachlehrforscher. Wenn ein Elternteil eine andere Sprache spricht, die Familie Verwandte im Ausland hat oder viel in eine bestimmte Region reist, kann es sinnvoll sein, die jeweilige Sprache schon früh an das Kind heranzutragen. "Ich bin aber skeptisch, wenn Eltern ihre Kinder in einen bilingualen Kindergarten geben, weil die Sprache, die dort gesprochen wird, dem Kind später zu einer steilen Karriere verhelfen oder ihm in der Schule Vorteile verschaffen könnte", sagt Königs.
Auch Pauline Schröter vom Max-Planck-Institut in Berlin rät zu weniger Tatendrang: "Ein Kind hat genug Aufgaben in seiner normalen Entwicklung zu bewältigen. Wenn es keine Notwendigkeit gibt, so früh eine andere Sprache zu lernen, dann sollte man das auch nicht erzwingen." Der Spruch "je früher, desto besser" sei sowieso überholt. Denn: Zum Fremdsprachenlernen ist es nie zu spät. "Dass es im Kindesalter eine kritische Phase gibt, in der Kinder besonders leicht Sprachen lernen, stimmt. Aber es hat auch Vorteile, wenn jemand schon älter ist, wenn er mit einer neuen Sprache beginnt", sagt Schröter. Ein Student etwa kenne sich im Gegensatz zum Kind bereits mit Grammatik aus und könne über Vorwissen andere Lernstrategien anwenden, welche das Kind noch nicht kennt. "In einem halben Jahr können beide auf das gleiche Ergebnis kommen. Der Student kann dann zum Beispiel genauso gut Schwedisch wie das bilinguale Kind", sagt sie.
Ein Blick über den Tellerrand kann allerdings in keinem Alter schaden, da sind sich Experten einig. Denn wenn Kinder eine andere Sprache kennen lernen, begegnen sie auch Teilen einer anderen Kultur. Das Fremde ist nicht länger fremd. Mehrsprachigkeit gilt nicht umsonst als friedensstiftend. "Um Toleranz und ein Bewusstsein für andere Kulturen zu erhalten, muss ein Kind die Sprache allerdings nicht einmal fließend sprechen können", betont Schröter. "Da reicht schon ein wöchentliches Programm, in dem die Kinder einzelne Worte, Lieder und Reime üben."
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