Boeings Starliner: Ist die Calypso gestrandet?
Dramatisch klingen manche Gerüchte, welche den aktuellen Flug der Raumkapsel Starliner von Boeing begleiten. Da wird behauptet, die beiden Astronauten der ersten Starliner-Crew seien gestrandet, weil die Triebwerke der Raumkapsel defekt sind. Allerdings stellt sich die Situation bei genauerem Hinsehen deutlich anders und wesentlich entspannter dar.
Aus der Vorgeschichte von Starliner
Der unbemannte Testflug des Starliner im Dezember 2019, der so genannte »Orbital Flight Test« (oder kurz: OFT), war eine Mission voller Pannen. Damals gelang es nicht, die Internationale Raumstation zu erreichen, und der Einsatz musste nach zwei Tagen abgebrochen werden. Immerhin endete er in einer sicheren Landung. Damals gaben Boeing und die NASA bekannt, dasselbe Raumfahrzeug auch für die Mission Starliner-1 zu verwenden, den ersten operativen Crew-Transferflug zur ISS. Zur Kommandantin dieses Einsatzes wurde Sunita Williams ernannt. Damit erhielt sie das Recht, dem Raumschiff einen Namen zu geben, und so taufte sie den Starliner auf den Namen »Calypso«. Die Älteren unter uns werden sich noch erinnern: Calypso, das war das Forschungsschiff des französischen Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau. »Suni« Williams war seit ihren Kindertagen ein Fan von Cousteau, und da lag die Wahl nahe.
Im März 2020 kündigte Boeing an, die misslungene OFT-Mission unter der Bezeichnung OFT-2 zu wiederholen. Ebenfalls ohne Crew an Bord. Dadurch wurden die Zuweisung der Fluggeräte und deren Besatzungen für die nachfolgenden Missionen neu geordnet. So kam es, dass die Calypso nun nicht mit der Mission Starliner 1, sondern mit der Mission Boe-CFT – was für »Boeing Crew Flight Test« steht – in den Orbit zurückkehrt.
Im dritten Anlauf erfolgreich
Der Start zu diesem Einsatz hatte erst im dritten Anlauf geklappt. Am 6. Mai 2024 war die Besatzung schon an Bord, als ein Problem mit einem Tankdruckregelventil am Flüssigsauerstofftank der Atlas-Trägerrakete eine mehrwöchige Verschiebung erzwang. Mit dem Raumschiff selbst hatte das nichts zu tun.
Während die Kombination aus Träger und Raumschiff für den zweiten Startversuch gesichert wurde, entdeckten die Techniker ein minimales Heliumleck im Antriebssystem des Starliner. Es konnte auf einen nicht vollständig abdichtenden Flansch in einem Lageregelungstriebwerk zurückgeführt werden. NASA und Boeing befanden, dass diese Fehlfunktion so minimal war, dass man damit starten könnte. Das wollte man dann auch am 1. Juni tun. Aber nur knapp vier Minuten vor dem Abheben trat ein Fehler an einem der drei Ground Launch Sequencer auf. Das ist eine Bodenausrüstung, welche die letzten Minuten des Countdowns überwacht. Erneut musste der Start abgesagt werden.
Am 5. Juni klappte es schließlich. Auf dem darauf folgenden 26-stündigen Transfer zur ISS stellten Crew und Bodenkontrolle eine leichte Vergrößerung des schon zuvor bekannten Heliumlecks fest. Dazu kamen minimale Leckagen an zwei anderen Triebwerken. Alles im gerade noch messbaren Bereich und ohne Auswirkungen auf die Sicherheit der Crew. In der Umlaufbahn unternahmen Wilmore und Williams verschiedene Tests mit dem Antriebssystem, bei denen auch einmal absichtlich ein ganzer Triebwerksstrang des Lageregelungssystems mit sechs (von 28) Düsen und drei (von 20) Kleintriebwerken des Orbitmanövriersystems kurzzeitig abgeschaltet wurden.
Auch beim Anlegen an die ISS kam es zu kleineren Problemen, die dazu führten, dass dieses Manöver erst 90 Minuten später durchgeführt wurde als geplant. Alles in allem lief es so, wie man es bei einem Testflug eben erwarten konnte. Hier und da ein Problem, mit dem man sich auseinandersetzen musste.
Dramatische Gerüchte
Glaubt man aber einigen der Mainstream-Medien, dann ist die Calypso im Weltraum gestrandet. Wilde Spekulationen machten in den letzten zwei Wochen die Runde und dramatische Rettungspläne mittels Crew-Dragon-Raumschiffen von SpaceX wurden erörtert. Nichts davon ist wahr.
Im Lauf der Tests, welche die Crew seither in angedocktem Zustand an der ISS mit der Calypso durchgeführt hat, stellte man drei weitere Mikrolecks fest. Generell ist die Verlustrate an Druckgas aber so niedrig, dass die Calypso über zehnmal so viel Helium verfügt, wie für eine sichere Rückkehr zur Erde notwendig ist. Und sicherheitshalber wird man bei der siebenstündigen Rückkehr eines der 28 Triebwerke gar nicht erst in Betrieb nehmen.
Generell gehören Triebwerksventile zu den Problemkomponenten der Raumfahrt. In der Vergangenheit kam es da auch schon mal zu gefährlichen Situationen. Viel häufiger aber sind geringfügige Leckagen im gerade noch nachweisbaren Bereich, die nur wenig Einfluss auf die Missionsdurchführung haben.
Was die Verlängerung der Flugdauer der Calypso betrifft, an der manche Medien weitere Katastrophenszenarien festmachen: Die war von vornherein als »offen« ausgelegt. Minimal sollte sie knapp neun Tage betragen (davon sieben Tage an die ISS angekoppelt), maximal sollte sie 45 Tage nicht überschreiten. Der entsprechende Testflug von SpaceX, durchgeführt im Mai 2020 mit den Astronauten Doug Hurley und Bob Behnken an Bord, dauerte übrigens – nur so zum Vergleich – 64 Tage.
Tendenziell wollte man die Mission aber dennoch so kurz wie möglich halten, um den Einsatztermin für die erste offizielle Crew-Transfermission (die anfangs erwähnte Starliner-1-Mission) im Februar des kommenden Jahres nicht zu gefährden. Durch den Trubel mit zwei in letzter Minute abgebrochenen Außenbordmanövern, die mit der Starliner-Mission gar nichts zu tun haben, hat sich der Fokus in der Raumstation inzwischen von der Calypso hin in Richtung Einsatzbereitschaft der Raumanzüge und der Aufrechterhaltung des Forschungsbetriebs verlagert. Vor ein paar Tagen wurde die Calypso sogar als »save haven« verwendet, weil gut 80 Kilometer unterhalb der Bahn der ISS ein russischer Satellit auseinandergebrochen war und man kurzzeitig befürchtete, einige der Trümmerteile könnten die ISS erreichen.
Trotz all dieser Vorfälle, wie sie immer wieder im Betrieb der ISS auftauchen, ist die Stimmung dort ungebrochen gut. Wilmore und Williams werden von der Stammcrew der ISS inzwischen als das »Team Starliner« bezeichnet und sind momentan als Troubleshooter-Platoon auf dem Außenposten unterwegs. Dennoch sollten wir nicht vergessen: Raumfahrt verzeiht keine Fehler und gerade bei einem Testflug wie diesem kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren. Aber momentan ist – trotz kleinerer Pannen und trotz aller Unkenrufe der Mainstream-Medien – alles im grünen Bereich. Das Team Starliner freut sich jedenfalls, einige Tage mehr auf der ISS verbringen zu können als ursprünglich gedacht.
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