Coronavirus in Deutschland: Wie geht es den Älteren?
Wenn es dich erwischt, könntest du ein paar Tage später tot sein, denkt der eine. Du bist 75 Jahre alt, einer von fünf in deinem Alter, die sich mit dem Coronavirus anstecken, stirbt an den Folgen, denkt die andere. Und man kann sich rasch infizieren: Die Enkelkinder, die Bekannten, die Verkäuferin im Supermarkt – alle können den Erreger übertragen. Andererseits willst du ja auch deine Familie und Freunde sehen, statt ständig allein rumzuhocken, überlegt der Nächste. Bist ja schließlich noch fit. Ein Dilemma.
Das Coronavirus Sars-CoV-2 ist unter anderem für ältere Menschen besonders gefährlich. Gemeint sind damit offiziell alle ab 60 Jahren, erst recht jene mit Vorerkrankungen. Sie sollen während der Pandemie besonders Acht geben, weil Covid-19 sie öfter hart trifft. So wird ihnen empfohlen, soziale Kontakte soweit möglich zu reduzieren, sogar zu Gleichaltrigen. Großeltern sollen jeden unmittelbaren Kontakt zu Enkelkindern meiden und sie möglichst nicht betreuen. Auch Arztbesuche – außer es gibt Beschwerden –, Einkäufe, Sportkurse sind möglichst zu unterlassen. Viele halten sich daran, viele Ältere verbringen seit Beginn der Pandemie deutlich weniger Zeit als zuvor mit ihren Liebsten. Das zeigt unter anderem eine im Fachmagazin »Journal of Gerontology« erschienene Studie.
Die aktuellen Einschränkungen und Abstandsregeln sowie die Maskenpflicht an diversen Orten tragen ebenfalls dazu bei, dass sich möglichst wenig Menschen treffen. Ausgerechnet im Alter aber, das ist schon lange bekannt, sind soziale Kontakte enorm wichtig und lebensverlängernd. Das macht die grundsätzlich sinnvollen Schutzmaßnahmen in manchen Fällen selbst zu einem Gesundheitsrisiko.
Wie geht es älteren Menschen in der Coronakrise? Welchen Unterschied macht es, ob jemand eben in Rente gegangen und körperlich fit ist oder die Person bereits in Pflege ist? Und was lässt sich künftig tun, um den Alltag der Älteren möglichst sicher und zugleich möglichst frei zu gestalten? Erste Antworten aus der Forschung sind überraschend.
Viele Ältere reagieren vergleichsweise gelassener auf die Ausnahmesituation
Eine der größten Untersuchungen zum Thema weltweit ist die NAKO Gesundheitsstudie. Für die Befragung hatten Forscherinnen und Forscher im Mai mit mehr als 113 000 Deutschen im Alter von 20 bis 69 Kontakt. Sie wollten von den Teilnehmern wissen, wie sich die Pandemie und die Kontaktbeschränkungen im Frühjahr auf deren Psyche und Befinden ausgewirkt haben. Ein Ergebnis, das zu erwarten war: Alle fühlten sich deutlich gestresster als zuvor.
Auffällig ist jedoch, dass laut dieser Studie die über 60-Jährigen verglichen mit den Jüngeren nicht mehr Angst hatten und seltener von depressiven Symptomen berichteten. Ausgerechnet die Älteren, die vermeintlich Schwächeren und Gefährdeteren, scheinen widerstandsfähiger zu sein.
»Wenn man sich einmal Gedanken über das Sterben und seine Unausweichlichkeit gemacht hat, kann das in solchen Situationen eine gewisse Gelassenheit geben«
Frieder Lang, Gerontopsychologe
Weil sich Menschen mit steigendem Alter eher mit der Fragilität des Lebens auseinandersetzten als in jungen Jahren, könnten sie besser mit der Situation zurechtkommen, sagt der Gerontopsychologe Frieder Lang vom Institut für Psychogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg, der mit seinem Team ebenfalls zu dem Thema forscht. »Wenn man sich einmal Gedanken über das Sterben und seine Unausweichlichkeit gemacht hat, kann das in solchen Situationen eine gewisse Gelassenheit geben«, sagt er. Für viele Jüngere hingegen sei die existenzielle Bedrohung durch die Pandemie eine völlig neue Erfahrung. Das Coronavirus löse entsprechend größere Ängste aus.
»Außerdem haben ältere Menschen eine größere Lebenserfahrung. Das relativiert den Blick auf die Dinge«, sagt Lang. »Wenn man grundlegende Umbrüche wie etwa eine neue Währung durchstanden hat, dann erschüttert manchen eine Pandemie nicht bis ins Mark.«
Das Alter als alleiniger Faktor sagt wenig aus
Doch ob ältere Menschen in der Pandemie insgesamt psychisch stabiler sind als jüngere, lässt sich laut Eva-Marie Kessler nicht pauschal sagen. Denn »die Älteren« gebe es nicht wirklich, dazu sei die Gruppe von Menschen über 60 in sich viel zu unterschiedlich: »Es gibt solche, die fitter sind als mancher 40-Jährige, und solche, die in Pflegeheimen untergebracht sind. Manche haben eine große Familie, bei anderen sind fast alle Freunde und Verwandte verstorben«, erklärt die Professorin für Gerontopsychologie an der Hochschule für Gesundheit und Medizin in Berlin.
Hinzu komme, dass an Studien zu dem Thema meistens Menschen über 65 teilnehmen, die körperlich und psychisch fit sind. »Das verzerrt die Ergebnisse«, sagt Kessler. Wer für alle das Beste will, müsste jeden einzelnen älteren Mensch individuell betrachten: »Wohnt er oder sie allein, mit dem Partner oder der Partnerin, in einem Pflegeheim? Wie stark leidet sie oder er unter Einsamkeit, wie sieht es mit den sozialen Kontakten aus?«, sagt Kessler.
Aussagekräftiger könnten deshalb Ergebnisse sein, die nicht nur auf das Alter abzielen, sondern die zu untersuchende Gruppe genauer definieren. Das haben zum Beispiel die Psychologin Isabelle Albert von der Universität Luxemburg und ihre Kollegen versucht, indem sie speziell die psychische Situation von Bewohnern von Pflegeheimen in Luxemburg untersuchten. Dabei konnte sie eine deutliche Verschlechterung der Situation feststellen: Während vor der Covid-19-Pandemie nur vier Prozent der Bewohner angaben, unzufrieden mit ihrem Leben zu sein, stieg die Zahl der Unzufriedenen in den ersten Monaten der Pandemie auf 29 Prozent. »Das klingt erst einmal alarmierend, und das ist es zum Teil auch. Aber man kann es auch andersrum sehen: Selbst während der Pandemie waren noch weit mehr als zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen mit ihrem Leben zufrieden«, sagt Albert.
»Mehr Altersdiskriminierung geht einher mit einer geringer eingeschätzten Gesundheit und Lebenszufriedenheit«
Anna Kornadt, Verhaltensforscherin
Wer sich wegen des Alters diskriminiert fühlt, ist unzufriedener
Woran liegt es, dass manche Pflegeheimbewohner trotz Pandemie zufrieden sind, andere aber unglücklicher werden? Zwei Dinge sorgen für Stabilität, wie Albert herausfand: erstens das soziale Netz und zweitens mit den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einverstanden zu sein, etwa der erneuten Schließung von Restaurants, Bars und Theatern. »Zu wissen, dass man nicht allein ist mit seinem Leid, dass es eine Bedrohung von außen gibt, die alle Menschen betrifft – das lässt vermutlich ausgerechnet bei manchen älteren Menschen eine Art Gemeinschaftsgefühl mit allen anderen entstehen«, sagt Albert.
Unzufriedener wiederum waren laut Albert jene, die sich wegen ihres Alters diskriminiert fühlten. Eine Beobachtung, die andere Forscherinnen bestätigen. »Unter den 611 von uns befragten älteren Menschen haben ungefähr 20 Prozent Altersdiskriminierung erlebt. Mehr Altersdiskriminierung ging einher mit einer geringer eingeschätzten Gesundheit und Lebenszufriedenheit«, hat etwa die Verhaltensforscherin Anna Kornadt von der Universität Luxemburg auf der jährlichen Konferenz der Gerontological Society of America berichtet.
Wer überlegt, Ältere künftig nur noch zu gewissen Zeiten einkaufen zu lassen, allein über 65-Jährigen den Gang ins Theater zu verwehren oder Ähnliches, sollte das bedenken. Denn »die älteren Menschen würden plötzlich gesondert behandelt und ein Stück weit ausgeschlossen. Das könnte für sie enorm kräftezehrend sein«, sagt Albert.
Schon jetzt gaben in einer Befragung 79 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, ihr Sozialleben habe sich wegen Covid-19 verschlechtert. Was sich auf das Gemüt auswirkt. Dass die Ressourcen schwinden, legt auch eine Studie der US-amerikanischen Kaiser Family Foundation nahe. Zwischen März und Juli fragte das Team zu vier verschiedenen Zeitpunkten erwachsene US-Amerikaner, darunter viele Ältere: »Haben Sorgen oder Stress wegen der Coronakrise einen negativen Einfluss auf Ihre psychische Gesundheit?« Im März beantworteten diese Frage 27 Prozent der Befragten mit »Ja«. Im Juli waren es schon 47 Prozent.
Einsamkeit ist keine Krankheit, doch für viele eine Belastung
Erschwerend kommt hinzu, dass sich ältere Menschen öfter einsam fühlen. Unfreiwillig allein zu sein, gilt seit Jahren als einer der größten Belastungsfaktoren für die psychische Gesundheit.
Das kann auch Elke Schilling bestätigen, die Initiatorin von Silbernetz, das eine Hotline für Alte anbietet. »Das Thema Einsamkeit ist während der Pandemie noch bedeutsamer geworden«, sagt Schilling. Auffällig sei, dass die Zahl der anrufenden Männer sich verdreifacht hat. »Die Pandemie hat hier womöglich die Schwelle gesenkt, darüber zu sprechen.« Auch die Zahl der Anrufer über 85 Jahren habe zugenommen.
Schilling erinnert sich an ein Gespräch, in dem ein Anrufer in einem Satz auf den Punkt gebracht hat, was bei sehr vielen Gesprächen anklang: »Wissen Sie, wenn ich zu wählen habe zwischen Tod durch Einsamkeit oder Corona – dann nehme ich Corona, das geht schneller.«
Für die Psychologin Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychologische Medizin an der Charité Berlin, illustrieren solch anekdotische Befunde die Ergebnisse zahlreicher Studien: »Der richtige Weg, um ältere Menschen gut durch die Pandemie zu bringen, ist nicht, sie abzuschotten, sondern ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben so groß wie möglich zu halten.« Es müsse weiter Tageskliniken sowie medizinische Angebote geben, und es gelte, einen möglichst geschützten öffentlichen Raum zu schaffen. Heißt: Masken tragen, Abstand wahren.
Schnelltests für mehr Begegnungen
Das vielleicht größte Potenzial, die Lebensqualität wieder zu bessern, bergen Schnelltests. Sie sind Teil der erweiterten nationalen Teststrategie, die am 15. Oktober 2020 in Kraft getreten ist. Einige dieser Untersuchungen klären binnen 15 Minuten, ob eine Person den Erreger in sich trägt und somit womöglich ansteckend ist. »In einzelnen Pflegeheimen kann sich das Personal bereits nach dem Wochenende testen, bevor es das Pflegeheim betritt«, erzählt Heuser. Das sei aber nur eine Möglichkeit, um sichere Treffen zu ermöglichen: »Man könnte auch diejenigen Bewohner, die zum Beispiel über das Wochenende zu ihren Verwandten wollen, bei der Rückkehr testen und ihnen so die Freiheit geben, das Heim auf eigenes Risiko zu verlassen«, sagt sie weiter.
Doch Tests allein reichen nicht. Schon deshalb, weil in den nächsten Monaten bei Weitem nicht genügend Schnelltests zur Verfügung stehen dürften, um jedem für jede Begegnung mit dem Vater oder der Oma die nötige Sicherheit zu geben.
Sollten die Infektionszahlen zudem weiter steigen, sind weitere Kontaktbeschränkungen denkbar. »Umso wichtiger ist es, ältere Menschen digital fit zu machen«, sagt Heuser. Chat und Video ersetzen zwar keine persönliche Begegnung, »aber sie helfen im Alltag ein Stück weit«, sagt Heuser. Einer Studie zufolge halten 78 Prozent der Befragten Kontakt zu ihren Lieben über das Internet.
Wem das für die Feiertage zu wenig ist, kann nur eins tun: sich fünf bis sieben Tage vorher zum Wohle der eigenen Familie stark einschränken, sich bestenfalls in Quarantäne begeben, um das Ansteckungsrisiko deutlich zu reduzieren.
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