Islamischer Staat: Digitale Terror-Prognose
Herr Wuchty, wie kamen Sie darauf, sich mit extremen Gruppierungen in sozialen Medien zu beschäftigen?
Die ursprüngliche Idee kam von der IARPA, einem Zweig des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums, der sich mit neuen Technologien auseinandersetzt. Wir sollten herausfinden, ob man plötzlich eintretende Ereignisse vorhersagen kann, bei denen Massen an Menschen mobilisiert werden. Dazu bekamen wir von der IARPA einen Datensatz über die Unruhen in Brasilien, die im Juni 2013 scheinbar aus dem Nichts auftauchten. Er enthielt Informationen über die Orte und Zeitpunkte, an denen die Proteste stattfanden, sowie über die Anzahl der Demonstranten.
Und Sie haben dann zusätzlich in sozialen Netzwerken nach Hinweisen auf solche Proteste gesucht?
Genau. Diesen zweiten Datensatz haben wir aus dem Facebook-Archiv generiert. Dabei hatten wir natürlich nur Zugriff auf öffentlich zugängliche Informationen, wie Facebook-Seiten von Interessengruppen und Firmenprofile. Wir haben also nicht das Verhalten Millionen einzelner Nutzer analysiert, sondern hielten es für sinnvoller, politische Gruppen aus diesen Daten herauszufiltern und deren Entwicklung zu untersuchen.
Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Wir stellten fest, dass die politischen Interessengruppen kurz vor den Demonstrationen in Brasilien wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Zeit, die verging, bis sich wieder eine neue Gruppe formierte, wurde vor den Unruhen immer kürzer und kürzer.
Konnten Sie anhand dieser Daten den genauen Zeitpunkt rekonstruieren, an dem die Proteste in Brasilien begannen?
Ja. Wir stellten fest, dass sich entsprechende politische Gruppen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vermehrt neu gründeten. Danach entstanden nur noch wenige neue Gruppen. Diesen Verlauf beschrieben wir mathematisch durch eine Hyperbel, also einen Graphen, der an einer Stelle gegen unendlich strebt. So berechneten wir den Tag, an dem die Anzahl neu gegründeter Gruppen am höchsten war. Wir haben dann den Datensatz von der IARPA zum Vergleich hinzugezogen: Das berechnete Datum lieferte genau den Tag, an dem die Massendemonstrationen in Brasilien begannen. Wir konnten also aus digitalen Facebook-Daten direkt auf die Aufstände in der realen Welt zurückschließen.
Sie haben Ihr Modell dann auch auf Sympathisanten des Islamischen Staats (IS) in sozialen Netzwerken angewandt.
Genau. Wir haben uns gefragt, ob man auch das Verhalten extremistischer Gruppierungen vorhersagen kann. Dazu haben wir zunächst Facebook durchsucht, um Gruppen zu finden, die den IS unterstützen – doch dort findet man nichts. Ganz einfach deswegen, weil Facebook genau wie Twitter alles, was irgendwie nach IS aussieht, sofort aus dem Netz nimmt. Darum haben wir uns in anderen sozialen Medien umgesehen, und so sind wir auf das russische Pendant von Facebook gestoßen: VKontakte.
Was ist VKontakte?
Eine soziale Plattform wie Facebook, die im russischsprachigen Raum stark verbreitet ist. Es gibt auch Teile von VKontakte, die in Arabisch verfasst sind. Diese stammen meistens aus dem muslimisch geprägten Raum Russlands, wie Tschetschenien oder Dagestan.
Schaltet VKontakte die Seiten von extremistischen Gruppen nicht ab?
Doch, allerdings weitaus sporadischer und langsamer, als es bei Facebook üblich ist. So fanden wir extremistische Interessengruppen und folgten ihrem Verlauf – bis VKontakte sie entfernte. Entsprechend unterscheiden sich unsere Daten hier stark von denen in Brasilien: Facebook schaltete dort die Seiten der Protestgruppen nicht ab. Außerdem traten in Brasilien auch die Organisatoren der Demonstrationen selbst in Erscheinung. Bei VKontakte dagegen steuerte nicht die Kerngruppe des IS selbst die Interessengruppen, sondern deren Sympathisanten. Darum waren wir skeptisch, ob wir vor einer Aktion des IS tatsächlich das gleiche Muster der beschleunigten Gruppenbildung finden würden.
Und konnten Sie die erwartete Zunahme an Gruppen beobachten?
Ja. Die IS-Sympathisanten eröffneten natürlich über den gesamten Zeitraum immer wieder neue Gruppen, da VKontakte sie langsam, aber regelmäßig löschte. Aber auch hier glich der Verlauf der Gruppenbildung einer Hyperbel, so dass wir wie im brasilianischen Fall ein genaues Datum ermitteln konnten: den 18. September 2014.
Was geschah am 18. September 2014?
Das haben wir uns auch gefragt. Also haben wir Nachrichtenarchive durchsucht und herausgefunden, dass an diesem Tag erstmals über den Sturm des IS auf Kobane berichtet wurde.
Der IS war 2014 doch sehr aktiv. Hätten Sie nicht weitere Auffälligkeiten entdecken müssen?
Nach unserer Veröffentlichung hat mich das Weiße Haus eingeladen. Auch sie haben mich gefragt, ob wir auf weitere Ereignisse rückschließen konnten, wie zum Beispiel die Eroberung Mossuls durch den IS. Wir hatten uns bereits alle Daten des Jahres 2014 angesehen und keinen weiteren Ausschlag ausgemacht. Allerdings liegen uns noch jede Menge Daten vor, die wir bisher noch nicht ausgewertet haben.
Bis jetzt haben Sie nur in der Vergangenheit liegende Ereignisse rekonstruiert. Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Methode auch Anschläge vorhersagen können?
Wir haben erst zwei Fälle untersucht, bei denen wir eine beschleunigte Gruppenbildung vor einem Ereignis beobachteten: bei den brasilianischen Protesten und bei dem Vorstoß des IS auf Kobane. Bevor wir also Vorhersagen treffen, müssen wir noch anhand weiterer Ereignisse prüfen, ob unsere Methode wirklich verlässlich ist.
Große radikale Gruppen haben in sozialen Netzwerken eine hohe Reichweite und gewinnen so Unterstützer und Geldgeber. Gibt es denn eine Strategie, um gegen sie vorzugehen?
Wir haben ein Simulationsmodell entwickelt, das zeigte, dass es nichts nützt, lediglich die großen Gruppen auszuschalten, da die Anhänger weiter existieren und kleine Gruppen bilden, die dann wieder zu größeren heranwachsen. Als wir in der Simulation kleine Gruppen angriffen, erwies sich diese Strategie als viel effektiver. Ohne kleinere Gruppen, die sich zusammenschließen, entstehen selten größere Gebilde.
Hätten Sie manchmal gerne selbst in den Prozess eingegriffen, oder betrachteten Sie die ganze Angelegenheit nüchtern?
Ich bin in erster Linie Wissenschaftler, kein Politiker. Aber ich ich denke schon, dass wir unsere Forschung schnell vorantreiben sollten, weil sie wichtig ist: Auch wenn wir nicht den IS direkt beobachteten, ist er auf Anhänger in sozialen Medien angewiesen.
In einer weiteren Studie haben Sie die Rolle der Frauen in sozialen Netzwerken untersucht. Warum?
Kolleginnen und Kollegen der Pennsylvania State University und der State University of New York haben sich über Jahrzehnte mit der irisch-republikanischen Armee (IRA) in Nordirland beschäftigt. Frauen bildeten hier die Kommunikationszentren und waren meist in logistischen Funktionen tätig, obwohl sie nur etwa zehn Prozent der Mitglieder der IRA ausmachten. Wir wollten wissen, ob sich ähnliche Strukturen auch beim IS nachweisen lassen.
Gilt das auch für Frauen im IS?
Sie machen laut unseren Daten die Hälfte der IS-Sympathisanten auf VKontakte aus. Sie waren Mitglieder weniger Interessengruppen, bilden dafür aber oft die einzige Verbindung zwischen diesen Gruppen. Es ist daher möglich, dass Frauen auch beim IS logistische und zentrale Positionen innehaben.
Möchten Sie diese Fragen zukünftig weiter verfolgen?
Wir würden gerne, doch es fehlen die Fördermittel. Wir möchten außerdem gerne verstehen, wie sich Propaganda in Netzwerken verbreitet. In Suchmaschinen und den sozialen Medien haben sich beispielsweise Filterblasen gebildet: Ein Nutzer sieht meist nur Informationen, die er auch angezeigt bekommen möchte. Dadurch verbreitet sich Propaganda in so einer Blase sehr schnell. Wenn wir verstehen, wie genau diese Verbreitung funktioniert, können wir Konzepte entwickeln, um sie aufzuhalten.
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