Psychoonkologie: Das Leben nach dem Krebs
Knapp eine halbe Million Menschen erkranken in Deutschland jährlich an Krebs. Rund 226 000 Patienten sterben pro Jahr daran – was Krebs in der Bundesrepublik zur zweithäufigsten Todesursache gleich nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen macht. Die gute Nachricht ist jedoch: Den Daten des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) zufolge überleben auch immer mehr Patienten. Während bis 1980 noch zwei Drittel aller Betroffenen ihrem Leiden erlagen, hat heute mehr als die Hälfte von ihnen gute Heilungschancen.
Was Statistiken allerdings nur selten zeigen: Auch nach einer überstandenen Krebserkrankung ist für die Betroffenen oft nicht alles wieder beim Alten. Erkrankung und Behandlung hinterlassen Spuren – physische wie psychische. Petra-Alexandra Buhl hat ein Buch über dieses Thema geschrieben: »Heilung auf Widerruf. Überleben mit und nach Krebs«. Die ehemalige Journalistin, die inzwischen Führungskräfte coacht, möchte darin die Schwierigkeiten aufzeigen, auf die Menschen, die den Krebs überlebt haben, häufig stoßen, aber auch die Chancen, die sich ihnen bieten.
Buhl ist vor rund 30 Jahren selbst an Krebs erkrankt. Damals sprach man nicht viel über das Thema. Das hat sich inzwischen zwar geändert, doch auch heutzutage wird Krebs noch stigmatisiert, glaubt Buhl: »Im Privaten haben die Leute Verständnis. In der Arbeitswelt sieht das anders aus. In unserer Gesellschaft muss man leistungsstark und fit sein, für anderes ist kein Platz.« Dieses Problem sieht auch Nadja Will. Die 36-jährige Mutter von zwei kleinen Kindern arbeitet als Anästhesieschwester. 2017 bekam sie die Diagnose: Brustkrebs. Nach der Behandlung führt sie nun wieder ein sehr aktives Leben und ist in Teilzeit auf ihre alte Stelle zurückgekehrt. Auch sie findet, dass krebsgerechte Arbeitsplätze vielen Überlebenden helfen könnten: »Alles, was mich mental stärkt, bringt mich weiter. Und gerade im Leben verankert zu bleiben, stärkt ungemein.«
Patient oder Überlebender?
Studien zeigen, dass es zumindest einen Zusammenhang zwischen einer positiven Einstellung und einer aktiven Teilhabe am Leben und der Lebensqualität nach der Krebstherapie gibt. So fanden Forscher um Melissa Thong vom DKFZ zum Beispiel 2018 Hinweise darauf, dass schon das Vokabular einen Unterschied machen kann: Wer sich selbst als Überlebender bezeichnet, hat eine höhere Lebensqualität und muss seltener zum Arzt als diejenigen, die sich auch 5 bis 15 Jahre nach Ende der Therapie noch als Patienten sehen.
2019 untersuchten Miri Cohen und ihre Kollegen aus Haifa, Israel, welche Rolle Optimismus und Stress im Hinblick auf die Beschwerden spielen, die häufig von einer Chemotherapie verursacht werden. Dazu ließen sie Frauen mit Brustkrebs zu verschiedenen Zeitpunkten Fragebogen ausfüllen. Das Ergebnis: Wer optimistisch und vergleichsweise entspannt war, litt auch weniger unter den Nachwirkungen der Chemotherapie.
»Im Privaten haben die Leute Verständnis. In der Arbeitswelt sieht das anders aus«
Petra-Alexandra Buh, Krebsüberlebende
Selbstmitgefühl und eine hoffnungsvolle Einstellung scheinen den Betroffenen dabei zu helfen, auch mit den äußerlichen Veränderungen besser zurechtzukommen, die oft mit einer Krebserkrankung und ihrer Therapie einhergehen: Haarausfall, Gewichtsverlust – Frauen mit Brustkrebs muss möglicherweise sogar ein Teil ihrer Brust entfernt werden. Und einer Metaanalyse zufolge, welche die Sportphysiologin Kelly R. Covington von der Colorado State University in Fort Collins und ihre Kollegen im Fachmagazin »Supportive Care in Cancer« veröffentlichten, tragen auch Sportprogramme in Gemeinschaft dazu bei, die Lebensqualität der Krebsüberlebenden zu verbessern. Die Autoren merken darin allerdings auch an: Vielen Studien, die sich mit dem Thema befassen, fehle es bislang an Realitätsbezug. Das Team um Covington schlägt daher vor, künftige Untersuchungen weniger im Labor und mehr im Alltag der Patienten anzusiedeln.
Manche Menschen schaffen es, nach einer überstandenen Krebserkrankung das Positive zu sehen und ihr Leben zu genießen. Manchmal sogar mehr als zuvor, weil sich durch die Krankheit die wichtigen Dinge deutlicher von den unwichtigen abheben. »Es ist paradox«, sagt Nadja Will. »Ich sehe dieses Kapitel als großes, bereicherndes Geschenk. Ich habe so viel Schönes erlebt und ganz viele tolle Menschen kennen gelernt, die ich nicht mehr missen möchte.«
Depressiv, erschöpft, ängstlich
Für andere geht das Leiden auch nach der Therapie weiter. Depressionen und andere psychische Störungen treten bei Menschen, die eine Krebserkrankung hinter sich haben, deutlich häufiger auf als bei Personen ohne entsprechende medizinische Vorgeschichte. Einige leiden im Anschluss an einer tumorbedingten Fatigue – einer besonders ausgeprägten Form der Erschöpfung, gegen die weder Schlaf noch Schonung helfen. Dann fällt es schwer, Optimismus zu verbreiten. Vor allem, wenn das Umfeld erwartet, dass man nach der Therapie wieder geheilt ist und wie früher funktioniert, weiß Petra-Alexandra Buhl zu berichten.
Häufig fürchten sich die Überlebenden auch vor einer neuen Erkrankung – der Wiederkehr des alten Leidens oder dem Auftreten anderer Tumore. Die Gründe für diese Angst sind vielfältig, erklärt die Psychoonkologin Tanja Zimmermann von der Medizinischen Hochschule Hannover, die sich als psychologische Psychotherapeutin auf die Arbeit mit Krebspatienten und -überlebenden spezialisiert hat. »Manche haben zum Beispiel Angst davor, sich nicht mehr um die Familie kümmern zu können. Andere fürchten sich vor dem Dahinsiechen. In einem Gespräch wird dann erläutert, welche Strategien dagegen helfen können.«
Oft tritt diese so genannte Progredienzangst vor Untersuchungsterminen auf. Petra-Alexandra Buhl hat beschlossen, sich nur dann untersuchen zu lassen, wenn sie sich unwohl fühlt. Bei Nadja Will lösen die Termine zwar ebenfalls Stress aus, doch sie sieht sie als ihre Lebensversicherung, um im schlimmsten Fall schnell handeln zu können. »Ich glaube, das muss man abwägen«, sagt Zimmermann. »Wenn man nach dem Kontrolltermin beruhigt ist, gut. Kommt die Angst aber sehr schnell wieder, sollte man sich Unterstützung holen.«
Auch das Suizidrisiko ist bei Krebsüberlebenden erhöht. Für Angehörige sei das oft schwer zu verstehen, so Buhl. Schließlich habe man die Krankheit besiegt. Doch nicht alle kommen mit dem Leben danach gut zurecht. »Daher müssen sowohl die Krebsüberlebenden als auch die Angehörigen die Hilfe bekommen, die sie benötigen«, betont Zimmermann. In den Augen von Petra-Alexandra Buhl richten Ärzte und Psychotherapeuten ihre Behandlung oft zu sehr darauf aus, dass die Patienten wieder »funktionieren« – und zu wenig darauf, wo diese die Kraft zum Weiterleben finden. Außerdem seien die vorhandenen Angebote längst nicht ausreichend. Tanja Zimmermann rät deshalb dazu, auch Krebsberatungsstellen aufzusuchen, die in der Regel kurzfristig Termine vergeben. Notfalls könnten diese zur Überbrückung dienen, bis ein psychoonkologischer Therapieplatz frei wird. Das könne im schlimmsten Fall mehrere Monate dauern. Manchmal helfe auch ein entlastendes Gespräch. »Es muss nicht immer eine Psychotherapie sein«, so Zimmermann. »Auch zu Selbsthilfegruppen kann man gehen, vorübergehend oder als Dauerlösung.«
Soziale Kontakte und ein bewusster Lebensstil helfen
Wie viel Unterstützung ein Betroffener benötigt, hängt nicht unbedingt von der Schwere der Erkrankung ab. »Es gibt auch Patienten, die in einem relativ frühen Stadium mit guter Prognose erkrankt sind und die trotzdem eine extreme Belastung verspüren«, erklärt Zimmermann. Entscheidend sei eher, welche Erfahrungen man bisher gemacht und ob man bereits Strategien entwickelt hat, um mit schwierigen Situationen umzugehen. Grundsätzlich helfe es, gut für sich selbst zu sorgen, glaubt Petra-Alexandra Buhl. »Das geht mit Freundschaften, Ideen, Musik, Malerei, einem Gegengewicht zum Krebs. Die Krankheit darf nicht das Leben dominieren.« Gerade soziale Kontakte und ein bewusster Lebensstil geben vielen Betroffenen Halt. Das zeigt etwa eine Untersuchung, für die Heidelberger Forscher über 600 Frauen mit Brustkrebs zu ihren Strategien im Umgang mit der Erkrankung befragten.
Nadja Will hat Sicherheit bei ihren Kindern, ihrem Mann und ihrem Hund gefunden. Das Familienleben passten sie zwar an die Krankheit an – aber auf eine Art und Weise, die Nadja Will guttat: gemeinsames Frühstück im Bett, wenn sie nicht aufstehen konnte; jede Menge Kuscheln. Besonders viel Wert legte sie von Anfang an auf Ehrlichkeit. »Meine Kinder sollten eine Mama haben, auf die sie sich verlassen können, auch wenn es ihr mal nicht gut geht.« Mit dieser Herangehensweise ist die Familie stark geblieben, jedes Mitglied ist an der Krankheit gewachsen. Was nicht bedeutet, dass es immer einfach war. Nach der Therapie litt Will unter neuropathischen Schmerzen, nicht einmal duschen konnte sie, weil ihr der Wasserstrahl auf der Haut zu sehr weh tat. Das ist zwar mittlerweile besser geworden, besonders an den Händen hat sie jedoch noch immer Gefühlsstörungen. »Wenn ich die Spülmaschine ausräume, rutscht mir leicht etwas aus der Hand. Und Eis kann ich manchmal kaum anfassen, weil ich dann Nervenschmerzen bekomme.«
»Es gibt Patienten, die in einem relativ frühen Stadium mit guter Prognose erkrankt sind und die trotzdem eine extreme Belastung verspüren«
Tanja Zimmermann, Psychoonkologin
Schmerzen, Erschöpfung, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Osteoporose, Hitzewallungen – all das sind mögliche Neben- und Nachwirkungen von Krebstherapien. Im schlimmsten Fall können sie nicht nur zu psychischen, sondern auch zu ökonomischen Problemen führen, soziale Isolation verursachen und das Selbstwertgefühl zerstören. Eine ganzheitlichere Unterstützung bereits während der Therapie, könnte vieles an der Situation von Krebspatienten verbessern, glaubt Nadja Will. Sie selbst habe erst in der Reha von einer Behandlung erfahren, die ihre neuropathischen Schmerzen vielleicht hätte lindern können. »Man müsste an der Basis arbeiten: mehr Personal, mehr Aufklärung, mehr Kommunikation.« Denn im Krankenhaus während der Therapie habe kaum jemand überhaupt Zeit für ein Gespräch.
Und auch an der Form, wie Betroffene Hilfsangebote dargereicht bekommen, müsste sich etwas ändern, findet Nadja Will. Der Flyer einer Selbsthilfegruppe mit der Aufschrift »Niemand kann Ihnen helfen, wenn Sie sich selbst aufgegeben haben« löste damals eher Furcht als Zuversicht bei ihr aus. Der Ton sei bei allem, was mit Krebs zu tun hat, zu negativ. Um das zu ändern, hat sie den »th!nk pink club« ins Leben gerufen, der anderen Frauen mit Brustkrebs durch ein breites Angebot an Kursen, Vorträgen und Ausflügen dabei helfen soll, mentale Stärke zu finden. Außerdem erhalten die Betroffenen die Gelegenheit, sich untereinander auszutauschen – und auch das Umfeld der Patientinnen, das häufig zu kurz kommt, wird mit einbezogen. So wollen Will und ihre Mitarbeiterinnen beispielsweise mit Spenden Eltern oder allein erziehende Mütter unterstützen, die bedingt durch die Erkrankung nicht genug Geld für die Schulausstattung ihrer Kinder haben.
Gesunden Menschen rät Nadja Will: »Genießen Sie jeden Tag einfach etwas bewusster. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Schmetterlinge gesehen, wie nach der Krebstherapie.«
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