Mikrobiologie: Wie lebt es sich, ohne zu atmen?
Die Zellen aller Lebewesen benötigen Energie. Diese gewinnen sie entweder über die aerobe oder die anaerobe Zellatmung. Die allermeisten Eukaryoten betreiben die erstgenannte Form des Stoffwechsels. Dabei setzen ihre Zellen Zucker und Sauerstoff zu Kohlendioxid und Wasser um. Der Prozess ist sehr effizient. Pro Zuckermolekül entstehen etwa 32 Moleküle ATP (Adenosintriphosphat), der Energieträger der Zelle.
Doch es gibt auch eukaryotische Lebewesen, die sich an extrem widrige Bedingungen angepasst haben. Sie bewohnen sauerstoffarme Böden, Sedimente oder sogar Tierdärme. Wegen der Abwesenheit von Sauerstoff sind sie fast ausschließlich auf Gärung zur Energiegewinnung angewiesen. Dabei entstehen allerdings gerade einmal zwei bis vier ATP-Moleküle. Erstaunlicherweise haben sich im Lauf der Evolutionsgeschichte obligat anaerobe Eukaryoten wiederholt aus aeroben Vorfahren entwickelt. Wie können solche fermentierenden Organismen ihr Zellvolumen und ihre Komplexität beibehalten, während sie einen Prozess mit so geringer Energieausbeute betreiben? Dieser Frage widmet sich Sergio A. Muñoz-Gómez in einem Aufsatz in der aktuellen Ausgabe von »Nature Microbiology«.
Der Mikrobiologe von der US-amerikanischen Purdue University schlägt auf der Basis einer umfassenden Literaturrecherche und eigenen Berechnungen vor, dass die geringeren ATP-Erzeugungsraten bei fermentierenden Eukaryoten im Vergleich zu atmenden Eukaryoten mit längeren Zellteilungszeiten kompensiert werden. »Sie teilen sich etwa vier- bis sechsmal langsamer als aerob atmende Eukaryoten mit ähnlichem Zellvolumen«, schreibt Muñoz-Gómez. So werde zwar der Energiebedarf gedeckt – jedoch auf Kosten weit reichender physiologischer und ökologischer Möglichkeiten. Das schränke auf lange Sicht ihre evolutionäre Entwicklung ein.
Eine hohe Energieausbeute durch aerobe Atmung und Mitochondrien wird oft als Voraussetzung für die Entstehung komplexer eukaryotischer Zellen aus den viel einfacheren prokaryotischen Zellen angesehen. Eine populäre Hypothese zur Entstehung der Eukaryoten, die so genannte Endosymbiontentheorie, besagt etwa, dass der erste Eukaryot ein bakterieller Symbiont in einem archäischen Wirt war. Diese Konstellation aus einem Prokaryoten in einem anderen Prokaryoten soll Voraussetzung und Auslöser für die Evolution der eukaryotischen Zellkomplexität gewesen sein.
Aber hätte der Vorfahre der Eukaryoten vielleicht auch ohne die Hilfe eines atmenden Symbionten eine größere Komplexität entwickeln können? Mindestens drei wichtige Anpassungen ermöglichten es den Eukaryoten, große Zellvolumina zu erreichen: Die Mitochondrien ergänzen die Atmungskette und erhöhen die Energieausbeute, das Endomembransystem erweitert den innerzellulären Stofftransport und das Zytoskelett erhöht Stabilität und Signalübertragung zwischen den Zellen. »Da eine höhere Komplexität jedoch nicht unbedingt mehr Energie erfordert, könnten sich also ein primitives Zytoskelett und ein Endomembransystem in einem langsam wachsenden Organismus auch ohne atmende Symbionten entwickelt haben«, argumentiert Muñoz-Gómez. Er hofft darauf, dass weitere Forscherinnen und Forscher die Physiologie und die Energiegewinnung von Organismen neu unter die Lupe nehmen. So ließe sich das Verständnis der ökologischen Rolle anaerober Eukaryoten und der Frage, wie sich ihre Evolution von der ihrer aeroben Verwandten unterscheiden könnte, verbessern.
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