Serie 200 Jahre Fahrrad: Leicht, sicher und vielfältig
Leichter als erlaubt – so könnte man das Fahrrad beschreiben, das der Deutsche Günter Mai im Jahr 2008 der Öffentlichkeit präsentierte. Das voll fahrtaugliche Rennrad wog nur 3,2 Kilo. Das war Weltrekord und weniger als die Hälfte der 6,8 Kilo, die der Internationale Radsportverband UCI für offizielle Rennen als Mindestgewicht eines Fahrrads vorschreibt.
"Das Fahrrad ist schon immer ein typisches Leichtbauprodukt gewesen", erzählt Eric Groß vom Institut für Zuverlässigkeitstechnik der TU Harburg. "Ein hohes Fahrzeuggewicht wirkt sich nicht nur bei Bergauffahrten, sondern auch im allgemeinen Handling sehr negativ aus." Bereits im 19. Jahrhundert erfolgten daher zahlreiche Erfindungen speziell für das Fahrrad, darunter Kugellager, Drahtspeichen, Stahlrohre und Luftreifen.
Der Ingenieur Groß ist Mitglied des Arbeitskreises Fahrradsicherheit beim Deutschen Verband für Materialforschung und -prüfung, denn die Gewichtsreduzierung beim Fahrrad soll nicht auf Kosten von Stabilität und Sicherheit erfolgen. Dementsprechend sind Mountainbikes robuster und schwerer als Rennräder. Entscheidende Komponenten für das Gewicht sind auf Grund seiner Größe der Rahmen sowie alle beschleunigten Massen, beispielsweise die Felgen.
Stabil und leicht wird schwer
Grundsätzlich sei der Leichtbau unabhängig von der Materialwahl, erklärt Groß. Es gehe darum, jede Komponente möglichst gut auf die individuelle Belastung auszulegen. "Alle Bauteile – wie Rahmen, Gabel, Räder, Lenker und Sattelstütze – sind Spezialisten für ihren Einsatzbereich", weiß der Ingenieur. Weil aber verschiedene Materialien unterschiedliche Eignungen mitbringen, dominieren letztlich doch bestimmte Werkstoffe den Fahrradmarkt.
Wer bei der Alltagsnutzung von leichten Fahrrädern spricht, denkt meist an Aluminium. Wegen seiner geringen Dichte von 2,7 Gramm pro Kubikzentimeter wiegen Bauteile aus dem Leichtmetall nur etwa ein Drittel dessen, was vergleichbare Bauteile aus Stahl auf die Waage bringen. Aluminium ist daher heute mit Abstand der meistverkaufte Werkstoff bei Fahrradrahmen und Komponenten.
"Das Fahrrad ist schon immer ein typisches Leichtbauprodukt gewesen"Eric Groß
Aluminium ist ebenso wie Stahl oder auch Titan ein isotropes Material. Das bedeutet, dass es in jede Richtung das gleiche Zugverhalten und damit die gleiche Belastbarkeit aufweist. Maßgeblich für die Stabilität ist dadurch in erster Linie die Wanddicke eines Bauteils. Die Aluminiumrohre eines typischen Diamantrahmens variieren deshalb in ihrem Verlauf zwischen 0,8 und 3 Millimetern Wanddicke, Letzteres vor allem im Bereich der Schweißverbindungen. Von außen ist das in der Regel nicht zu erkennen. "Lediglich ein Aufkleber 'double butted' oder 'triple butted' weist auf die nach innen unterschiedliche Materialstärke hin", gibt Eric Groß einen Tipp.
Ein Nachteil für Alu
Die Schwäche des Werkstoffs Aluminium liegt darin, dass es bei wechselnden Lasten eine begrenzte Festigkeit hat. In der Materialkunde wird unterschieden zwischen Festigkeit als Eigenschaft, die verhindert, dass ein Material auseinanderbricht, und Steifigkeit, die ein Material gegen Verformung schützt. "Bei Aluminium können also eher Hunderttausende von Tretkurbelumdrehungen oder Fahrbahnstößen das Material ermüden", erläutert Groß die Grenzen der Festigkeit. Stahl sei bezüglich dynamischer Lasten toleranter als Aluminium und daher nach wie vor bei Fahrrädern zu finden, bei denen Fahrleistungen von deutlich mehr als 20 000 Kilometern erwartet werden, beispielsweise bei Reiserädern.
Deshalb gibt es Leichtbau durchaus auch mit Stahl: "Legierter Stahl erreicht eine sehr hohe Zugfestigkeit, bis zu 1200 Newton pro Quadratmillimeter", berichtet Ronny Hartnick vom Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin. Ingenieure können damit die Rohrwände sehr dünn auslegen. "Trotzdem ist es schwierig, an das Gewicht von Aluminium heranzukommen", räumt Hartnick ein.
Ob Aluminium, Titan oder Stahl: Mit Blick auf das Gewicht bleibt ein konstruktives Problem unlösbar. Weil die Metalle isotrop sind, ist in den Bauteilen viel Material enthalten, das gar nicht auf die dort anfallende Belastung ausgerichtet ist. Ein Rahmen wird nun einmal im Wesentlichen in Längsrichtung belastet und nicht seitlich. Im Profisport und bei Tüftlern haben sich deshalb Kohlenstofffasern beziehungsweise Karbonfasern und kohlenstofffaserverstärkte Verbundstoffe (CFK) als Materialien der Wahl etabliert. Sie bilden die Grundlage für Rennräder, die als Serienmodell weniger als fünf Kilo Gesamtgewicht aufweisen.
Geordnete Fasern
Karbonfasern sind anisotrop und weisen kein formunabhängiges Materialverhalten auf. Ihre Eigenschaften entstehen erst im Bauteil infolge einer bedarfsgerechten Gestaltung. "Karbonfasern kann man sich wie einen Faden vorstellen, aus dem ein Gewebe hergestellt wird", veranschaulicht Hartnick. In Längsrichtung ist dieser Faden mehr als zehnmal so zugfest wie Aluminium – aber eben nur in dieser Richtung. Entwickler von Leichtbauteilen aus Karbon müssen daher die Fäden so zu einem Gewebe verarbeiten, dass diese parallel zur Zugrichtung orientiert sind.
Für das Rahmenrohr sind daher die meisten Fasern gleich ausgerichtet. "Damit man das Rad aber auch mal anfassen kann, ohne dass es auseinanderfällt, liegt außen noch eine um 90 Grad gedrehte Faserschicht an", schildert der Sportingenieur Hartnick. Aus umfangreichen Analysen weiß man heute, welche Bauteile in welcher Weise belastet werden. Das Unterrohr zum Beispiel unterliegt durch das Tretlager einer Torsionsbelastung. Für das Karbonfasergewebe bedeutet das, dass die Fasern im Winkel von plus/minus 45 Grad verwoben sein müssen. "So erreichen wir einen maximalen Widerstand gegen Torsion bei minimalem Materialeinsatz", resümiert Hartnick. Entstehen in bestimmten Bereichen hohe Punktbelastungen, müssen die Karbonfasern durch eine andere Gewebeschicht überdeckt werden, die die Belastung verteilt und so das Karbon schützt.
Für Metall- wie für Kohlenstoffrahmen und -komponenten gilt daher: Die Hersteller müssen die darauf wirkenden Belastungen genau kennen, um ihre Bauteile richtig auszulegen. Besonders hoch sind die Ansprüche bei Pedelecs, die auf Grund der höheren Durchschnittsgeschwindigkeit und der höheren Fahrleistung stärker belastet werden. Damit hat sich das Forschungsprojekt "TherMobility" von Rehau, Storck Bicycle und der TU Dresden befasst und einen E-Bike-Rahmen aus einem neuartigen speziellen Materialmix entwickelt.
"Hier werden endlosfaserverstärkte Thermoplasthalbzeuge mit kurzfaserverstärkten Spritzgießmassen in einem integralen Fertigungsprozess miteinander kombiniert", erklärt Michael Krahl vom Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik der TU Dresden. Diese für Fahrradrahmen erstmalig eingesetzte Materialkombination ermögliche es, die hervorragenden spezifischen mechanischen Eigenschaften der Faserverbundwerkstoffe mit effizienten Großserientechnologien wie dem Spritzgießen zu verbinden. Das könnte helfen, die bislang manchmal fünfstelligen Preise für extrem leichte Fahrräder zu senken. Zudem könne die Rezeptur des Polymers ebenso wie die Art der Verstärkungsfaser unkompliziert an individuelle Anforderungen angepasst werden.
Alternative aus der Natur?
Das Spektrum der Werkstoffe im Fahrradbau umfasst jedoch auch einige Exoten. Das Nylonfahrrad "Airbike" der Airbus-Ingenieure diente zwar nur dazu, die Möglichkeiten des 3-D-Druck-ähnlichen Verfahrens "Additive Layer Manufacturing" zu demonstrieren. Es war dennoch stabil, leicht und funktionstauglich. Echte Alternativmaterialien kommen aber aus dem Bereich der Naturfasern. Der große Vorteil der Naturfasern ist ihre CO2-Bilanz.
"Naturfasern binden während des Wachstums Kohlendioxid, wodurch Naturfaserhalbzeuge nur etwa ein Zehntel an CO2 – während des Wachstums und der Produktion der Halbzeuge – im Vergleich zu Kohlenstoff freisetzen", erläutert Max Kirchhoff vom Ingenieurbüro Onyx Composites. Dort wurde das "Hanfbike" entwickelt. Hanffasern haben eine mit Aluminium vergleichbare Zugfestigkeit – allerdings wie Karbon nur in Faserrichtung. Wegen der Dichte von nur 1,45 Gramm pro Kubikzentimeter landet ein Hanfrahmen beim Gewicht zwischen vergleichbaren Bauteilen aus Aluminium und Karbonfasern. Der Rahmen des Hanfbikes hat auffallend breite Rohre. "Dadurch wird das Trägheitsmoment erhöht, und die auftretenden Kräfte werden trotz geringer Wandstärke besser aufgenommen", begründet Kirchhoff. Bislang jedoch fehlen für den ungewöhnlichen Werkstoff Hanf so manche Kennzahlen, die für Strukturanalysen benötigt werden.
Geprüfte Qualität
Die aktuellen Prüfstandards (DIN, EN und ISO) umfassen Prüfungen gegen Überlast (statische Festigkeit), dynamische Prüfungen (Dauerprüfungen) und Stoßprüfungen, jeweils abgestimmt auf den Fahrradtyp (City-/Trekking-Fahrrad, Mountainbike, Rennrad und Jugendfahrräder, aber auch speziell für Pedelecs). Die Anwendung der Normen ist freiwillig, allerdings wenden alle renommierten Hersteller diese Verfahren an – bei hochwertigen Produkten teils mit noch höheren Anforderungen. Schäden infolge von Bauteilversagen sind dadurch sehr selten. "Trotzdem sollte der Kunde eines leichten Fahrrads sein Fahrzeug regelmäßig selbst inspizieren oder inspizieren lassen, um Schäden rechtzeitig zu erkennen und im Zweifel Teile austauschen", mahnt Sicherheitsexperte Eric Groß. Das gelte insbesondere nach Stürzen.
Die populärste Naturfaser ist vermutlich Bambus. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden Patente zum Bau eines Bambusfahrrads eingereicht. Bis heute ist der Bau solcher Räder Handarbeit. Die Eigenschaften jedoch überzeugen. Bambus hat eine ähnliche Steifigkeit wie Stahl, aber nur ein Drittel von dessen Gewicht. Auch seine Festigkeit erzielt sehr gute Werte, kommt allerdings an die hochwertiger Karbonräder nicht heran. Beliebt ist Bambus wegen seiner besseren Dämpfung für City- und Trekkingräder, dort kann er qualitativ mit Aluminiumrädern mithalten. Weil Bambus unter zu starker Belastung splittert, statt zu brechen, lassen sich Schäden relativ einfach reparieren. Eine gute Verarbeitung ist jedoch wie bei allen Naturfasern wichtig, damit keine Feuchtigkeit eindringen und Schimmelbildung begünstigen kann.
Die Dresdner Firma Nemus Cycles hat mit dem Designrad "Cajalun" ein Modell vorgestellt, bei dem Rohre aus mehreren Lagen Echtholzfurnier den Rahmen bilden. "Lignotubes" nennt der Hersteller das und wirbt mit Ökologie, Design und Leichtbau. Holzräder zeichnen sich wie Bambusräder durch ihre gute Dämpfung aus und leiden weniger unter Materialermüdung als Fahrräder mit Metallrahmen. Und mit einem Gewicht um sieben Kilo übertreffen Holzräder zumindest die Konkurrenz aus Aluminium auch in dieser Disziplin.
Die Spitzenreiter beim Gewicht sind aber weiterhin Karbonräder. Günter Mai hat sein Superleichtfahrrad nach dem Rekord weiter optimiert, bis auf 2,9 Kilo. Der Amerikaner Jason Woznick kaufte ihm Jahre später einige Einzelteile ab, um ein eigenes Rekordrad zu konstruieren. Weitere Teile bezog Woznick aus dem Formel-1-Betrieb oder in Kooperation mit Fahrradteilbauern, die aus diesem Experiment für den Leichtbau lernen wollten. Den Wert aller Komponenten schätzte Woznick auf 45 000 US-Dollar. Das Gewicht betrug 2,7 Kilo.
Im Artikel wurde die Dichte von Aluminium ursprünglich mit 2,7 Gramm pro Kubikmeter angegeben. Das ist natürlich falsch: Richtig müssen es 2,7 Gramm pro Kubikzentimeter oder 2,7 Tonnen pro Kubikmeter sein. Vielen Dank für die zahlreichen Hinweise und wir bitten um Entschuldigung.
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