Coronavirus-Bekämpfung: Wie Sars-CoV-2 in Deutschland aussterben kann
Die Fallzahlen in Deutschland erscheinen derzeit widersprüchlich wie noch nie. Auf der einen Seite Massenansteckungen in Restaurants, Betrieben und Gottesdiensten, bei denen sich dutzende Menschen mit dem Coronavirus anstecken. Gleichzeitig allerdings gibt es bundesweit auch bei gelockerten Maßnahmen immer weniger Infizierte. Tatsächlich zeigen diese gegenläufigen Trends die Doppelnatur des Superspreadings. Die explosiven Ausbrüchen wie in Wuhan, Norditalien oder New York sind eine Seite der Medaille. Die andere: Das Coronavirus neigt zum Aussterben.
Superspreading bedeutet nämlich nicht nur, dass einige Leute sehr viele andere Menschen anstecken – sondern auch, dass ein beträchtlicher Teil der Infizierten das Virus überhaupt nicht weitergibt. Eine Arbeitsgruppe um Danielle Miller von der Tel Aviv University kam zum Beispiel bei einer Analyse in Israel zu dem Schluss, dass dort 90 bis 99 Prozent der Infizierten an lediglich 20 Prozent der Neuinfektionen beteiligt waren. Auf eine ähnliche Größenordnung kam bereits im April eine chinesische Arbeitsgruppe.
Sars-CoV-2 ist keineswegs der einzige Krankheitserreger mit Superspreading, man kennt dieses Verhalten schon lange als 20/80-Regel bei sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV oder Gonorrhoe: 20 Prozent der Infizierten verursachen 80 Prozent der Neuansteckungen. Neben den Coronaviren von Sars und Mers gehört aber auch zum Beispiel Ebola in diese Gruppe. Laut einer Analyse an 152 mit Ebola infizierten Personen in Guinea steckten dort 72 Prozent der Betroffenen keine einzige weitere Person an. Umgekehrt liefen sich die meisten der über 20 bekannten Ebolaausbrüche nach relativ wenigen Ansteckungen wieder tot.
Was Superspreader für eine Epidemie bedeuten
Bei solchen Krankheitserregern verteilen sich die Neuansteckungen pro infizierter Person extrem ungleich. Intuitiv würde man annehmen: Wenn die Reproduktionszahl 2 ist, steckt ein großer Teil der Infizierten auch etwa zwei weitere Personen an. Dass man niemanden mehr ansteckt oder aber vier oder fünf andere, ist viel weniger wahrscheinlich. Es gibt Viren, die sich so verhalten, etwa die Grippe.
Tatsächlich aber kann die gleiche Reproduktionszahl auch auf völlig andere Weise zu Stande kommen, wie sich an Superspreadern zeigt. Die Kurve der Neuansteckungen pro Infizierten hat ihren höchsten Punkt nicht beim Durchschnittswert R, sondern bei null und fällt dann steil ab. Es gibt viel weniger Infizierte, die zwei oder mehr Menschen anstecken, als solche, die niemanden anstecken. Einige geben das Virus dafür aber gleich an 20, 30 oder gar 50 andere Menschen weiter – die Superspreader.
Die Erkenntnis, dass die Covid-19-Epidemie sehr stark von recht wenigen dominiert wird, erklärt zuerst einmal eine Besonderheit der Pandemie, nämlich dass sie so unvorhersagbar und ungleichmäßig weltweit auftauchte. Denn bei einem solchen Erreger ist es sehr stark vom Zufall abhängig, wann und wo ein eingereister Infizierter überhaupt einmal jemanden ansteckt.
An einem Ort löst womöglich erst der zehnte Infizierte einen Ausbruch aus, anderswo mag es schon der erste sein. Dafür aber sind diese Ausbrüche dann oft groß und explosiv. Das ist zum einen ein großes Problem: Jeder neue Fall kann potenziell Ursprung eines explosiven Ausbruches werden und dutzende neue Ansteckungsketten erzeugen.
Was Social Distancing bringt
Gleichzeitig macht es den Erreger auch sehr anfällig. Wie ein Team um Benjamin Althouse von der University of Washington in Seattle in einer Veröffentlichung Ende Mai schrieb, ist es vergleichsweise leicht, die Reproduktionszahl des Virus drastisch abzusenken. Wer seine Kontakte auf fünf oder sechs Menschen beschränkt, kann nicht mehr 20 andere anstecken. Gegen ein Virus, bei dem die Mehrzahl zwei oder drei andere ansteckt, bringt das nicht viel – doch wenn die Mehrzahl der Neuansteckungen durch Superspreading geschieht, verhindert man so einen großen Teil von ihnen.
Wie effektiv diese Strategie beim Coronavirus ist, zeigen die Erfahrungen in Deutschland ebenso wie die israelische Studie. Sobald die Menschen begannen, ihre Kontakte zu reduzieren, sank die Reproduktionszahl sehr schnell auf nahe eins. Das ist eine prekäre Zahl, sowohl für uns, aber auch für das Virus. Zum einen bedeutet es: Sars-Cov-2 breitet sich aus und kann immer wieder sehr viele Menschen befallen, sobald sich eine Gelegenheit bietet: ein Gottesdienst, ein Restaurant, eine Schnitzelfabrik.
Wer seine Kontakte auf fünf oder sechs Menschen beschränkt, kann nicht mehr 20 andere anstecken
Gleichzeitig steigt aber auch die Chance, dass der Erreger in manchen Regionen auf scheinbar unerklärliche Weise verschwindet. Dafür muss die Reproduktionszahl nicht einmal dauerhaft unter eins sinken. Es reicht, wenn die Zahl der Infizierten gering ist.
Verantwortlich dafür ist ein statistischer Effekt, den man als stochastisches Aussterben bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit dafür ergibt sich aus allgemeinen Ausbreitungsmodellen, die zum Beispiel auch die Häufigkeit von Genallelen oder Nachnamen in der Population beschreiben. Unter der Annahme, dass der Anteil der Immunisierten an der Bevölkerung vernachlässigbar ist, beträgt sie etwa (1/R)n, mit n als Anzahl der Infizierten.
Wenn Viren einfach Pech haben
Das heißt, ist die Reproduktionszahl 1,1 und man hat in einer Region 20 Infizierte, ist die Wahrscheinlichkeit etwa 15 Prozent, dass das Virus dort von selbst verschwindet, wenn es nicht von woanders wieder eingeschleppt wird. Der Haken an der Sache ist allerdings, dass der Ausbruch bei einer Reproduktionszahl größer als eins mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit exponentiell wächst. Zumindest, wenn man es nicht daran hindert.
Aus diesem Grund ist Social Distancing auch bei wenigen Infizierten immer noch wichtig, wie die regelmäßig auftretenden Superspreader-Ereignisse in Deutschland zeigen wie die insgesamt sinkenden Fallzahlen. Funktioniert diese Unterdrückung nicht mehr, kommt das Virus zurück – und zwar nicht etwa langsam, sondern dank der Superspreader mit Schwung.
Doch dass es in Deutschland trotz regelmäßiger Ausbrüche insgesamt immer weniger Infizierte hat, deutet auch auf eine andere Möglichkeit: Das Virus könnte in Deutschland flächendeckend aussterben. Dass das geht, hat Neuseeland vorgemacht. Realistisch wird das erst durch die Kombination aus der sehr ungleichen Verteilung der Neuinfektionen. Das macht die Bekämpfung des Erregers tendenziell einfacher.
Bei einem Virus mit relativ gleichmäßig auf die Infizierten verteilten Neuansteckungen muss man sehr viele Ansteckungsketten unterbinden, um die Reproduktionszahl unter eins zu drücken. Mit vielen Superspreadern dagegen ist die Chance einer infizierte Person, das Virus weiterzugeben, sehr viel geringer. Bei womöglich weit mehr als der Hälfte der Infizierten ist es schlicht egal, ob man sie entdeckt oder nicht, denn sie stecken sonst niemanden an.
Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, durch rein statistische Schwankungen auszusterben, bei solchen Viren besonders hoch. Wenn zum Beispiel 70 Prozent der Infizierten niemanden anstecken, ist die Chance, überhaupt jemanden anzustecken, auch in der nächsten Generation nur 30 Prozent. Das heißt, auch bei jenen, die eine oder zwei weitere Personen anstecken, ist die Chance groß, dass diese weiteren Infizierten ihrerseits Sackgassen für das Virus sind. Das gilt allerdings nur, wenn es kein Superspreader-Ereignis gibt.
Wer sind die Superspreader?
Verhindert man die, sinkt die Reproduktionszahl drastisch, und das Virus verschwindet womöglich nach und nach. Aber wer sind die Superspreader? Von der Antwort auf diese Frage hängt unter anderem ab, welche Konsequenzen es hat, die Schulen wieder zu öffnen – und wie zukünftige Bekämpfungsmaßnahmen insgesamt aussehen müssen.
Beim Coronavirus deutet viel darauf hin, dass Superspreading mehr mit den Umständen als mit bestimmten Personen zu tun hat. Viele Personen in geschlossenen Räumen, Nähe, sprechen und singen scheinen eine Rolle bei Massenansteckungen zu spielen. Daneben verbreitet sich das Virus anscheinend an bestimmten Orten besonders gut. Zu Beginn der Epidemie waren es Kankenhäuser, später dann Kreuzfahrtschiffe, Restaurants und Fleisch verarbeitende Betriebe.
Solche an bestimmte Orte und Umstände gebundenen Übertragungsereignisse bieten nahe liegende Angriffpunkte für Kontrollstrategien, die den Superspreader-»Schwanz« der Virusausbreitung kappen. Zum Beispiel, indem man die Menschen an solchen Orten regelmäßig testet oder insgesamt auf bestimmte gefährliche Veranstaltungen verzichtet. Allerdings lässt sich nicht ausschließen, dass auch individuelle Unterschiede manche Personen eher zu Superspreadern machen als andere.
So zum Beispiel schwankt die Menge an aktiven Viren von Mensch zu Mensch, andere produzieren beim Sprechen vermutlich deutlich mehr Aerosole. Die Gründe für diese Unterschiede sind unbekannt. Derzeit ist nicht absehbar, welcher Anteil des Superspreadings auf ihr Konto geht und in eigentlich unverfänglichen Alltagssituationen stattfinden.
So viele können das allerdings nicht sein – sonst hätten sich die nach und nach gelockerten Maßnahmen in steigenden Fallzahlen ausgedrückt. In anderen Ländern, die eine erste Infektionswelle erfolgreich unterdrückt hatten, geschieht das derzeit, darunter Israel und Südkorea. Es gibt aber eben auch Neuseeland. Dort wurde gerade die letzte bekannte Covid-19-Patientin des Landes als geheilt entlassen.
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