Covering Climate Now: Wie sehr der Norden leidet
Chelsea Wegner reiste im Juli 2019 zu einem Forschungsaufenthalt im Beringmeer, als sie in Anchorage, Alaskas größter Stadt, anlegte. Sie war schockiert: Der Rauch von Waldbränden, die im ganzen Bundesstaat wüteten, verdunkelte den Himmel. Anchorage befand sich inmitten einer Hitzewelle, bei der die Temperaturen zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen auf über 32 Grad Celsius stiegen. Außerdem wusste Wegner, Meeresbiologin an der University of Maryland in Solomons, dass die ungewöhnliche Wärme schon fast das gesamte Meereis in der Beringsee geschmolzen hatte. »Es war ein wirklich surrealer Moment«, sagt sie.
Meereis in der Abwärtsspirale
Nach einer langen Schmelze im Sommer friert das arktische Meer im Winter normalerweise wieder zu – in diesem Jahr behinderte die ungewöhnliche Wärme während des letzten arktischen Winters und Frühlings den Aufbau des Eises und bildete so die Grundlage für den dramatischen Eisverlust des Sommers. Besonders deutlich zeigte sich diese Dynamik im Beringmeer. »Von Januar bis Mai gab es schlichtweg kein Eis im Beringmeer«, sagt Alice Bradley, Polarwissenschaftlerin am Williams College in Williamstown. »Das haben wir noch nie zuvor gesehen.« Ein Tiefdruckgebiet hing fast den ganzen Februar lang über dem Meer, führte warme Luft aus dem Süden herbei und trieb das bisschen Eis, das sich bildete, in nördlichere Gewässer.
Im Frühjahr und Sommer schmolz das arktische Meereis schneller weg, als es für Gebiete wie die Beaufortsee und den zentralen Arktischen Ozean üblich ist. Im Juli erreichten Ausmaß und Volumen des Eises Rekordtiefststände. Anfang August war innerhalb von 240 Kilometern vor der Küste Alaskas kein Meereis mehr zu sehen.
Die Forscher warten noch darauf, dass das arktische Meereis seine endgültige Minimalbedeckung in diesem Jahr erreicht. Die Schmelzsaison 2019 dürfte das am 17. September 2012 gemessene Rekordminimum von 3387 Millionen Quadratkilometern zwar nicht unterbieten. Doch sie belegt erneut, dass das Meereis in einer Abwärtsspirale gefangen ist.
In jedem der letzten fünf Jahre hat sich das Ausmaß des arktischen Meereises im September deutlich unter dem Mittel von 1981 bis 2010 bewegt. Und auch das Eisvolumen nimmt rapide ab. Das im Juli verzeichnete Niveau von 8800 Kubikkilometern liegt 47 Prozent unter dem Mittelwert der Jahre 1979 bis 2018.
Der winterliche Gefrierprozess beginnt Mitte bis Ende September. Ein Großteil des sich neu bildenden Eises wird aber dünn sein und wahrscheinlich schon im nächsten Jahr wieder schmelzen. Mehrjähriges, dickes Eis ist großflächig verschwunden.
Grönland schmilzt
Die extreme Hitze des Sommers setzte auch der gewaltigen Eisdecke Grönlands zu. Ende Juli waren die Temperaturen auf der ganzen Insel bis zu zwölf Grad Celsius höher als für den Monat üblich.
An der Summit Station, einem Forschungslager, das sich auf dem höchsten Punkt der Eisschicht befindet, lagen die Temperaturen am 30. und 31. Juli über dem Gefrierpunkt. Wie selten das ist, zeigen Eisbohrkerne: Zwischen 500 und 1994 schmolz das Eis auf dem Gipfel lediglich achtmal.
Während einer nur fünftägigen Hitzewelle in diesem Jahr hat Grönland rund 55 Milliarden Tonnen Eis verloren, schätzungsweise 13 davon allein am 1. August 2019. Das ist seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1950 der Rekord für einen 24-Stunden-Zeitraum.
Insgesamt haben in diesem Sommer etwa 60 Prozent der Oberfläche der grönländischen Eisschicht gelitten. Das ist viel – allerdings immer noch weniger als 2012. Damals waren 98 Prozent der Eisoberfläche zumindest zeitweise von Schmelze betroffen.
Durch Wasser, das an der Oberfläche einer schmelzenden Eisfläche entsteht, sowie das Kalben der Gletscher hat Grönland in diesem Jahr wahrscheinlich etwas mehr als 1,5 Millimeter zum globalen Anstieg des Meeresspiegels beigetragen, schätzt der Polarforscher Xavier Fettweis von der Universität Lüttich in Belgien. Vergleichen die Forscher außerdem die Masse, die während der diesjährigen Sommerschmelze verloren ging, mit der Schneemenge, die während des vorangegangenen Winters gewonnen wurde, dürfte Grönland 2019 mindestens so viel – oder sogar mehr – Eis verloren haben wie im Extremjahr 2012.
Die Temperaturen schossen in die Höhe
Laut dem europäischen Copernicus Climate Change Service und der US-amerikanischen Oceanographic and Atmospheric Administration war der Juli 2019 der heißeste Monat, der weltweit je verzeichnet wurde. Doch nicht nur der diesjährige – jeder Juli der letzten fünf Jahre zählt zu den fünf heißesten Monaten der Messgeschichte.
Die arktischen Teile Alaskas, Westkanadas und Zentralrusslands erlebten von Januar bis Juli Temperaturen, die mindestens um zwei Grad Celsius über dem Durchschnitt lagen. In der ersten Juliwoche wurden in vielen südlichen Städten Alaskas die Hitzerekorde gebrochen. Tausende Seevögel starben in den überdurchschnittlich warmen Gewässern vor der Küste – hauptsächlich durch Hunger. Es ist das fünfte Jahr in Folge, in dem das geschieht.
In Schweden meldete das Dorf Markusvinsa am 26. Juli eine Temperatur von 34,8 Grad Celsius – die höchste jemals gemessene Temperatur oberhalb des Polarkreises. Bevor die Hitzewelle Ende Juli Grönland erreichte, rollte sie über Westeuropa. Zum ersten Mal in der Geschichte der niederländischen und belgischen Aufzeichnungen stiegen die Temperaturen dort auf über 40 Grad Celsius.
Alaska brach Anfang September immer noch Rekorde: Mehrere Städte im Norden des Landes stellten Temperaturhochs für den Monat auf.
Feuer entfacht
Die Hitze und vor allem die begleitende Dürre verwandelten den Wald der nördlichen Regionen in wahre Zunderbüchsen. Mehr als eine Million Hektar Wald brannten in diesem Sommer in Alaska, vor allem in südlichen und zentralen Teilen. Die Zeit der Brände begann im April. Das ist ungewöhnlich früh. Zudem dauerte sie länger an als sonst. Um sicherzustellen, dass sie genügend Feuerwehrleute hatten, um die Brände zu bekämpfen, mussten Beamte die offizielle Saison der Feuerwehr um einen Monat, von Ende August bis Ende September, verlängern.
In Sibirien fielen mehr als 2,6 Millionen Hektar dem Feuer zum Opfer. Hohe Temperaturen, Trockenheit, Winde und Gewitter trugen dazu bei, die Brände zu entfachen und zu verbreiten. Städte in ganz Ostrussland waren in Rauch gehüllt. Ende Juli rief Russland den Ausnahmezustand für mehrere sibirische Regionen aus.
Im August ließen die Feuer in Alaska und Sibirien endlich nach. Dennoch zählen sie zu den langwierigsten arktischen Waldbränden, die je aufgezeichnet wurden. Allein im Juni emittierten sie 50 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Wie der Copernicus Atmospheric Monitoring Service der Europäischen Kommission mitteilte, entspricht das etwa den gesamten jährlichen CO2-Emissionen Schwedens und übertrifft den Ausstoß aller arktischen Waldbrände, die in den letzten neun Jahren im Juni auftraten.
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