Bienensterben: Sind diese Pestizide ein Bienengift?
Maj Rundlöf kann sich noch gut daran erinnern, wie sie ihre Meinung über Neonikotinoide änderte – das war 2013, als sie und ihr Postdoc Georg Andersson die Daten ihrer neusten Studie anschauten. In den Untersuchungen wollten sie herausfinden, was mit Bienen passiert, die sich von mit Neonikotinoiden behandeltem Weizen ernähren. Dabei ging es immerhin um die weltweit am häufigsten eingesetzten Insektizide. »Ehrlich gesagt dachte ich nicht, dass wir überhaupt einen Effekt sehen würden«, erinnert sich Rundlöf.
Laut der Ergebnisse waren die Stöcke der Honigbienen (Apis mellifera) durch die Chemikalien im Pollen und Nektar nicht besonders beeinflusst. Bei den Hummeln (Bombus terrestris) war das schon anders. Hummelkolonien, die mit unbehandeltem Weizen gefüttert wurden, sahen normal aus und legten an Gewicht zu, um den Winter zu überstehen. Bei Kolonien, die den Neonikotinoiden ausgesetzt waren, zeigte die Wachstumskurve dagegen nur eine gerade Linie, sprich keine Gewichtszunahme.
Die Veröffentlichung der schwedischen Studie im April 2015 machte weltweit Schlagzeilen. Hier wurde nämlich zum ersten Mal gezeigt, dass Neonikotinoide, auch bekannt als Neonics, die Bienen in der Realität auf den Feldern schädigen können. Weltweit lässt sich ein Schrumpfen die Bienenpopulationen feststellen – ein alarmierendes Zeichen für Landwirtschaft und Wildpflanzen, die auf eine Befruchtung durch die Pollenträger angewiesen sind. Als Hauptverdächtige galten bisher Parasiten, verschiedene Krankheiten und ein sinkendes Nahrungsangebot. Dazu kommen jetzt aber auch die Neonics.
Schon bevor Rundlöfs Ergebnisse veröffentlicht wurden, hatte die Europäische Union Beschränkungen für drei Neonics festgelegt, die am häufigsten bei blühenden und damit die Bienen besonders anziehenden Feldpflanzen eingesetzt werden. Schon damals gab es nämlich Bedenken, dass die Substanzen den Insekten zusetzen könnten. Einschränkungen existierten für Imidacloprid und Clothianidin, beide vom Agrochemikalienriese Bayer, sowie für das von Syngenta produzierte Thiamethoxam. Dabei betonten etliche Landwirte, Agrochemieunternehmen und Wissenschaftler, dass dieses Moratorium nur vorsorglich sei und nur auf begrenzten Daten, zumeist aus Laboruntersuchungen, beruhe.
Regulierer treten in Aktion trotz unklarer Studienlage
Nach Rundlöfs Veröffentlichung zeigten weitere Studien, wie Pestizide nicht nur im Labor, sondern auch auf dem realen Feld Schaden anrichten können, weshalb Umweltorganisationen immer wieder weitreichendere Verbote forderten. So werden die Zulassungsbehörden demnächst auch über den Einsatz der Neonics entscheiden, die jährlich 1,5 Milliarden US-Dollar Umsatz auf dem globalen Markt ausmachen. Im Februar 2018 hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ihre Reevaluation hinsichtlich Beschränkungen der Neonics abgeschlossen, und die EU wird dann entscheiden müssen, welche Maßnahmen sie diesbezüglich einleitet. Die amerikanische Umweltbehörde (US Environmental Protection Agency) will ihre Bewertung der Insektizide im Jahr 2019 bekannt geben, und Frankreichs Parlament hat schon ein Gesetz beschlossen, das Neonics ab dem Jahr 2018 verbieten soll, selbst wenn es Ausnahmen geben wird.
Allerdings ist die Datenlage wohl nicht eindeutig, wenn man so manchen Vertretern der Industrie wie auch der Forschung glauben darf. Und das Ganze scheint auch recht kompliziert zu sein: Je nach Studie und Bedingungen werden die Bienen nämlich beeinträchtigt oder nicht. Dabei sind die Ergebnisse von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt von der Bienenart und den Futterpflanzen. Einige Fachleute sehen auch die Atmosphäre in der Branche schon stark vergiftet, weil bei jeder neu veröffentlichten Studie sofort die Befürworter beider Seiten sehr aggressiv auf den Daten und Argumenten herumhacken.
Selbst die Ergebnisse der größten Studie, die übrigens von der agrochemischen Industrie finanziert wurde, sind nicht eindeutig. Nach ihrer Publikation 2017 kam es erneut zu Anschuldigungen und Beschwerden auch derjenigen, die sie finanziert hatten. Letztlich werden wohl eher politische oder zulassungsrelevante Faktoren den Streit beilegen, bevor sich die gegnerischen Parteien jemals einigen, sagt Sainath Suryanarayanan, der als Entomologe und Soziologe an der University of Wisconsin–Madison arbeitet und die Gesundheit der Bienenvölker untersucht. »So läuft es doch immer bei sehr kontroversen und polarisierten Debatten«, fügt er hinzu.
Lieblingskind unter den Insektiziden
In den frühen 1980er Jahren begannen Wissenschaftler des Bayer-Abkömmlings Nihon Tokushu Noyaku Seizo in Tokio damit, das zehn Jahre zuvor in Kalifornien entwickelte Insektizid Nithiazin zu variieren. Sie entdeckten dabei eine neue Substanz, die mehr als 100-mal effektiver gegen Getreideschädlinge wie beispielsweise Blattläuse wirkte. Die Substanz wurde Imidacloprid genannt und in den 1990er Jahren auf den Markt gebracht, wo sie schnell zum weltweit beliebtesten Schädlingsbekämpfungsmittel wurde. Schon Mitte 2000 stellten Imidacloprid und vergleichbare Substanzen ein Viertel aller Insektizide. Der Stoff greift in das Nervensystem der Insekten ein und führt dazu, dass die Nerven so lange und kontinuierlich Signale feuern, bis die Bienen schließlich sterben. Viele der Neonics werden direkt auf dem Saatgut angewendet und von der wachsenden Pflanze aufgenommen. Wenn die Pflanzen dann blühen, finden die Wirkstoffe ihren Weg auch in den Pollen und den Nektar.
In Frankreich kamen die ersten von Imidacloprid umhüllten Sonnenblumensamen im Jahr 1994 auf den Markt, woraufhin die Imker Alarm schlugen. Ihre Honigbienen kamen wohl von der Futtersuche nicht mehr zum Stock zurück, und die Sonnenblumen schienen die Schuldigen. Infolgedessen wurden von Imidacloprid umhüllte Sonnenblumensamen in Frankreich im Jahr 1999 verboten, was immer noch gilt, auch wenn hier eher aus Vorsicht und nicht so sehr auf Grund formaler Beweise entschieden wurde, erzählt der Wissenschaftler Axel Decourtye vom UMT PrADE (UMT Protection des abeilles dans l’environnement), dem Institut für Bienenschutz im französischen Avignon.
Daraufhin gab es eine Vielzahl von Untersuchungen, um Beweise oder zumindest Hinweise darauf zu finden, dass diese Bedenken weit überzogen waren. Doch die Wissenschaftler stellten schon bald fest, dass Honigbienen tatsächlich sterben, wenn sie mit hohen Dosen von Neonikotinoiden gefüttert werden. Und sogar subletale Dosen führten zu ungewöhnlichem Verhalten der Insekten, die ihre Futtergewohnheiten änderten und sich weniger häufig, dafür aber für längere Zeit auf Futtersuche machten. Wie andere Untersuchungen zeigten, wirken die Neonics bei den Bienen auf die Teile des Gehirns, die mit Gedächtnis und Lernen im Zusammenhang stehen. Honigbienen, die darauf trainiert sind, auf bestimmte Gerüche mit dem Herausstrecken ihrer Zunge zu reagieren, taten dies auf einmal seltener oder erlernten diese Fähigkeit erst gar nicht, wenn sie mit Neonics in Kontakt kamen. Im Rahmen der Untersuchungen wurde aber auch immer wieder der Realitätsbezug der Experimente in Frage gestellt, erzählt Decourtye. »Woher wissen wir, dass die eingesetzten Neonikotinoid-Dosen realistisch sind? Hat der Effekt auf das Individuum auch einen Einfluss auf die gesamte Kolonie?«
Langsameres Wachsen und weniger Königinnen
Die Forscher arbeiteten deshalb nicht nur im Labor, sondern gingen immer öfter aufs Feld hinaus. Im Jahr 2012 beschrieb die Gruppe um Decourtye, wie die so genannte Thiamethoxam-Vergiftung die Honigbienen daran zu hindern scheint, nach der Futtersuche in ihren Stock zurückzukehren. Doch auch bei diesen Untersuchungen waren die Bienen mit Neonics enthaltenem Futter gefüttert worden und suchten sich dieses nicht selbst auf behandelten Feldern. Außerdem scheinen nicht nur die Honigbienen betroffen zu sein, wie etwa zeitgleich veröffentlichte Untersuchungen britischer Wissenschaftler zeigen. Die Forscher hatten Hummelkolonien im Labor realistischen Mengen Imidacloprid ausgesetzt und gesehen, dass diese unter Feldbedingungen langsamer wuchsen als Kontrollkolonien. Zudem stellten sie fest, dass sich 85 Prozent weniger neue Königinnen entwickelten, die essenziell für das Weiterführen der Populationen sind.
Die Analysen wurden von Dave Goulson geleitet, einem Bienenforscher, der inzwischen an der University of Sussex in Brighton im Vereinigten Königreich arbeitet. Schon 2006 gründete Goulson eine Organisation zum Schutz der Hummeln, weshalb ihm immer wieder Bedenken über Neonics zu Ohren kamen. »Anfangs war alles noch etwas dubios«, erzählt er. Bis 2014 hatte dann aber die Arbeitsgruppe Task Force on Systemic Pesticides (TFSP) – eine Gruppe von etwa 30 Wissenschaftlern einschließlich Goulson – 800 anerkannte Studien über Neonics und Bienen ausgewertet und »klare Beweise für die Schädlichkeit gefunden. Diese waren ausreichend, um Zulassungsbeschränkungen zu fordern.«
Rundlöfs Experimentbedingungen waren noch die realistischsten aller bis dahin geführten Studien. Ihr Team hatte auf acht Feldern in Schweden Rapssamen gesät, die mit Clothianidin überzogen waren; zum Vergleich dazu nahm sie acht andere Felder mit unbehandelten Samen. Wie sich zeigte, wuchsen die Hummelkolonien von den behandelten Feldern nicht nur weniger gut als die Kontrolltiere, sondern auch die Zahl der Wildbienen schrumpfte auf den behandelten Feldern. Die Industrie stellte die Relevanz der Studie in Frage, weil Bienenkolonien gar nicht betroffen seien und die kleine Anzahl von ausgesetzten Wildbienen keine statistisch haltbaren Daten ergeben könnten. Laut Rundlöf untersuchten die Forscher aber auch die umherfliegenden Wildbienen und konnten außerdem auf die Daten der Hummeln zurückgreifen. »Ich weiß, dass wir starke Beweise haben«, kontert sie.
Deutsche Honigbienen als einzige nicht beeinträchtigt?
Mitte 2017 wurden die Daten der bisher größten, mit rund drei Millionen Dollar Industriegeldern finanzierten Feldstudie veröffentlicht und damit die seit Langem erwarteten Ergebnisse publik gemacht. Wissenschaftler des Zentrums für Ökologie und Hydrologie (CEH) in der Nähe von Wallingford in Großbritannien hatten Honigbienen, rote Mauerbienen (Osmia bicornis) und Hummeln in 33 Rapsfeldern in Großbritannien, in Deutschland und Ungarn ausgesetzt. Bei diesen Versuchen waren die im Winter gesäten Samen zuvor mit Clothianidin oder Thiamethoxam, beziehungsweise mit einem von neonikotinoidfreien Pestizid behandelt worden. Die Forschung wurde von dem Entomologen Ben Woodcock vom CEH geleitet und ergab, dass es Hummeln und Mauerbienen umso schlechter ging, je stärker sie den Neonics ausgesetzt waren.
Bei den Honigbienen aber war es komplizierter: Teils schien die Gesundheit der Bienen beeinflusst, teils nicht. In Großbritannien und in Ungarn führten die Insektizide zur Reduktion der Arbeiterinnenzahl je Bienenstock, und in Ungarn war auch die Zahl der Eier in den Bienenstöcken reduziert, was auf schlechtere Fortpflanzung hindeutete. In Deutschland dagegen fanden sich bei den Stöcken mit Neonics-Exposition sogar mehr Eizellen – ein Ergebnis, das im Moment schwer zu erklären ist. Die CEH-Studie kam insgesamt zu dem Schluss, dass Neonikotinoide die Fähigkeit der Bienen zur Koloniebildung nach dem Winter verringert. Die Zusammenfassung des Papers im Editorial trug dann auch die Überschrift »Schaden bestätigt«.
»Es ist naiv von den Industrieunternehmen, einen Effekt der Neonics auf die Bienen zu bestreiten«
Ben Woodcock
Die Agrochemieunternehmen als Studienfinanzierer stimmten da allerdings nicht zu. Nachdem die Wissenschaftler vom CHE ihre Ergebnisse präsentiert hatten, wenn auch nicht in Gegenwart von Woodcock, der gerade auf der anderen Seite des Globus war, äußerten sich die Sprecher von Syngenta und Bayer auf der Pressekonferenz kritisch, weil ihrer Ansicht nach Analyse und Schlussfolgerung der Studie noch zu diskutieren seien. Sie verwiesen dabei auf die Auswertung von etwa 200 Datenpaketen zu Honigbienen durch Woodcocks Team, in denen neunmal ein negativer und siebenmal ein positiver Effekt der Neonikotinoide festgestellt worden war. »Die sehr vereinfachte Schlussfolgerung gibt die Daten der Veröffentlichung nicht richtig wieder«, sagt Peter Campbell, Umweltspezialist bei Syngenta in Reading im Vereinigten Königreich, in einem in den Medien verbreiteten Statement.
Woodcock ärgerte sich sehr über die Kritik und gab bei einem Interview mit der Umweltorganisation Greenpeace zu verstehen, die Industrie habe ihn als Lügner bezeichnet. Inzwischen bedauert er diese Wortwahl, ist aber immer noch der Meinung, die Industrie hätte die Ergebnisse zu einseitig betrachtet. »Die von mir vermittelte Meinung war vielleicht unpassend, aber es war keine unangemessene Schussfolgerung«, verteidigt er sich. Die angeführten negativen Effekte bezogen sich hauptsächlich auf die Gesundheit der Bienen, erklärt er, und es sei doch »wohl naiv« von den Industrieunternehmen, einen Effekt der Neonics auf die Bienen zu bestreiten.
Unterschied zwischen größeren und kleineren Kolonien?
Viele der von »Nature« befragten Wissenschaftler stimmten zu. »In meinen Augen halten die meisten Wissenschaftler die Schwächung der Bienenpopulationen durch die Neonikotinoide für bewiesen«, sagt Decourtye. Doch nicht alle sind sich da so sicher. »Ob sich die schädliche Wirkung auch auf die Gesamtpopulationen auf den Feldern auswirkt, ist wesentlich schwieriger zu klären«, weiß Linda Field, Abteilungsleiterin von Biointeractions and Crop Protection bei Rothamsted Research in Harpenden im Vereinigten Königreich. Große Kolonien können vielleicht auch überleben, wenn einzelne Bienen geschädigt sind, weil andere Arbeiterbienen dies kompensieren, führt der Biologe Nigel Raine von der University of Guelph in Kanada an. Solitärbienen, wie Wildbienen und Hummelköniginnen nach dem Winterschlaf, könnten da wesentlich anfälliger sein.
Laut Campbell haben viele Wissenschaftler eine eher neutrale Meinung dazu, äußern das nur nicht. Wenn Studien eine schädliche Wirkung zeigen, erhalten sie einfach mehr Aufmerksamkeit durch die Medien und werden in weit verbreiteten Zeitschriften publiziert, während Studien ohne Effekt in weniger häufig zitierten Medien beschrieben werden, erklärt er. Nach Goulsons und Woodcocks Meinung sind einige der von der Industrie angeführten Studien ohne negative Wirkung statistisch fragwürdig und weniger klar als die auf den Headlines prangenden Studien mit Auswirkungen.
Christian Maus ist Forschungsleiter des »Bee Care Center« bei Bayer in Monheim am Rhein und wählt seine Worte sehr sorgfältig: »Ich glaube, es ist klar und steht außer Frage, dass Neonikotinoide einen gewissen toxischen Effekt auf Bienen haben. Doch unter realistischen Bedingungen, wie sie auf dem Feld und in der Landwirtschaft herrschen, haben wir keine Hinweise auf schädliche Effekte auf Honigbienenkolonien gefunden, wenn die Substanzen richtig angewendet werden.«
Kombinationseffekte verschiedener Substanzen
Inzwischen schauen die Forscher auch nicht mehr nur nach einfachen Beziehungen zwischen einzelnen Pestiziden und Bienen. Wie die Gruppe um Raine 2012 zeigen konnte, mindert die Exposition von Hummeln mit einem Neonikotinoid in Kombination mit einem Pyrethroid genannten Pestizid die Fähigkeit des Pollensammelns. Werden Kolonien beiden Substanzen ausgesetzt, kommt es zu stärkeren Verlusten von Arbeiterbienen als bei Kontakt der Bienen mit nur einem der Wirkstoffe. Laut Raine ist dies die erste Studie, die einen Kombinationseffekt zeigt, was nicht zuletzt deswegen wichtig ist, weil Bienen in der Wildnis natürlich mehreren Substanzen ausgesetzt sind. Außerdem wurde neben Woodcocks Paper noch eine weitere Veröffentlichung publik, in der eine kanadische Forschergruppe Honigbienenkolonien in der Nähe von Maisfeldern untersuchte. Dabei zeigte sich, wie das Fungizid Boscalid die tödliche Dosis der Neonikotinoide um die Hälfte reduzierte.
Noch dazu scheinen Neonics auch auf andere Pflanzen überzugehen, bei denen sie eigentlich gar nicht direkt eingesetzt werden. Die Forscher hatten den Ursprung der Pollen in den Bienenstöcken untersucht und Erstaunliches gefunden. So waren die Insekten Neonics ausgesetzt, obwohl sie Pollen von unbehandelten Feldern sammelten. Der Grund dafür: Neonikotinoide sind wasserlöslich und gelangen auf diesem Weg vom Samen in das wachsende Pflanzengewebe. »Das bedeutet aber auch, dass sie aus den Samen ausgewaschen werden und in den Boden gelangen können, und dabei eben auch in andere Pflanzen«, erklärt der Entomologe Christian Krupke von der Purdue University in West Lafayette in Indiana.
Laut Krupke gelangen letztendlich nur 1,34 Prozent des zur Vorbehandlung von Maissamen eingesetzten Clothianidins ins Pflanzengewebe. Wenn Neonics auch weiter von der Pflanze weg in die Umwelt gelangen, könnten sie aber noch ganz andere, eher indirekte Probleme aufwerfen. So zeigte beispielsweise eine niederländische Untersuchung aus dem Jahr 2014, wie einige Populationen der Insektenfresser schrumpfen, wenn hohe Neonics-Konzentrationen im Wasser zu finden sind. Das legt nahe, dass die Nahrungsgrundlage der Vögel durch die Chemikalien zerstört wird.
Neonikotinoide werden teils unnötig eingesetzt
So mancher Wissenschaftler fragt sich nun, ob der Einsatz von Neonikotinoiden überhaupt einen Vorteil hat. Krupkes Gruppe untersuchte den Einsatz der Pestizide in Indiana in den USA und fand keinerlei Nutzen hinsichtlich des Maisertrags. Bei Mais sei die prophylaktische Anwendung der Neonics einfach nur blöd, erklärt der Forscher – nichtsdestotrotz sind die Substanzen inzwischen oft Teil eines wahren Pestizidpakets, das bei der Vorbehandlung von Samen zur Anwendung kommt und auf diese Weise gleich mitverkauft wird. »Die ganze Art und Weise, wie sie einsetzt werden, macht überhaupt keinen Sinn«, schimpft er. »Dafür gibt es nur ein Motiv – den Profit der Hersteller.«
Campbell dagegen besteht darauf, dass Neonics ertragssteigernd wirken, auch wenn ein Großteil der Beweise dafür entweder noch in Firmenhänden liegt oder noch nicht publiziert ist. Seit den Beschränkungen der Substanzen durch die EU sprechen die Forscher von einem vierprozentigen Rückgang der Rapserträge, erklärt Maus. Unabhängig davon, ob die Maßnahmen der EU tatsächlich Auswirkungen haben, protestieren die Farmer schon seit einiger Zeit heftig dagegen. Vereinzelt wird berichtet, Landwirte versuchten die Einschränkungen durch den verstärkten Einsatz von Pyrethroiden auszugleichen. Diese werden auf den Feldern versprüht und nicht direkt beim Samen angewendet – doch auch sie werden Gesundheitsrisiken mit sich bringen, wenn sie in großen Mengen ausgebracht werden, nicht zuletzt auf Grund ihrer Toxizität für Fische und Wasserinsekten.
»Egal, was die Wissenschaftler auch tun, es wird ihnen derzeit nicht gelingen, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, um eine Lösung zu finden«
Dave Goulson
Die Zulassungsstellen mehrerer Länder werden demnächst über weitere Maßnahmen zur Beschränkung der Neonics entscheiden – die Meinung der Forscher hierzu ist unterschiedlich. Manche Aktivistengruppen, wie Greenpeace und das Pesticide Action Network, sind für ein Verbot von Neonics bei allen Freilandpflanzen, nicht nur jenen, die Bienen besonders anziehen, wie dem hellgelb blühenden Raps. »Viele Farmer sind auf Neonikotinoide angewiesen«, weiß Woodcock. Und wenn eine Substanz stark eingeschränkt wird, werden sie möglicherweise eine andere schädliche Substanz in größeren Mengen verwenden. »Ist das dann besser, wenn die Farmer zu anderen Insektiziden wechseln, weil sie Neonikotinoide nicht mehr einsetzen dürfen? Das hat alles viele Folgeeffekte«, sagt Field.
Es gibt darüber hinaus ganz prinzipielle Bedenken über ein Zulassungssystem, das Agrochemikalien wie Neonics überhaupt auf den Markt kommen lässt, meint Goulson. Viele Wissenschaftler zögern noch, ein vollständiges Verbot zu fordern, und in Rundlöfs Augen ist es auch nicht Aufgabe der Forschung, politische Empfehlungen zu geben. Goulson sieht das allerdings inzwischen anders, nachdem immer mehr Daten bekannt wurden. Damals, 2014, als die Arbeitsgruppe TFSP erstmals von der Synthese berichtete, galten Neonics auch für ihn noch für manche Gegebenheiten als beste Möglichkeit. Inzwischen gäbe es aber immer stärkere Beweise für einen Zusammenhang mit dem Rückgang der Insektenpopulationen, erklärt er. Teilverbote sind allerdings schwierig. »Ich glaube, heute würde ich für ein komplettes Verbot stimmen«, sagt er. Wie auch immer entschieden wird – Goulson glaubt kaum noch an einen Konsens zwischen Industrie und Forschung. »Ich komme langsam zu dem Schluss, dass diese verfahrene Situation nicht zu ändern ist«, sagt er. »Und egal, was die Wissenschaftler auch tun, es wird ihnen derzeit nicht gelingen, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, um eine Lösung zu finden.«
Der Artikel ist unter dem Titel »The Bitter Battle Over the World’s Most Popular Insecticides« am 8. November 2017 in »Nature« erschienen.
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