Epigenetik: Neurotransmitter mit Doppelleben
Die Hälfte von dem, was Sie in der Universität gelernt haben, ist falsch«, sagte mein Biologieprofessor David Lange einmal. »Das Problem ist, wir wissen nicht, welche Hälfte.« Wie Recht er hatte! Als ich studierte, galt etwa Jean-Baptiste de Lamarcks Theorie, dass durch Lebenserfahrung erworbene Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden könnten, als überholt. Das alberne traditionelle Beispiel ist die Mamagiraffe, die ihren Hals streckt, um in den Baumkronen an Nahrung zu gelangen, was zu Babygiraffen mit längeren Hälsen führt. Doch dann entdeckten Biologen die epigenetische Vererbung. Sie ermöglicht es tatsächlich, dass sich Spuren aus dem Leben der Eltern auf ihre Nachkommen übertragen.
Epigenetische Prozesse versehen die DNA mit Botschaften, ohne ihre Sequenz zu verändern. Als ich eines Abends das Fachmagazin »Science» aufschlug, fiel mir eine neue Form eines solchen Markers auf: Die Studienautoren nannten ihn »dopaminylation« (auf Deutsch: Dopaminylierung). Im zugehörigen Artikel beschrieben sie, wie der Neurotransmitter Dopamin in den Zellkern eindringen und dort die Aktivität bestimmter Gene steuern kann.
Als ich die Arbeit las, wurde mir klar, dass sie unser Verständnis von Genetik und Drogenabhängigkeit völlig auf den Kopf stellt: Laut den Studiendaten könnten epigenetische Veränderungen das intensive Verlangen nach Drogen wie Alkohol und Kokain verursachen, indem sie der Sucht zu Grunde liegende Schaltkreise im Gehirn beeinflussen. Interessanterweise legen die Ergebnisse auch eine Antwort darauf nahe, warum viele Antidepressiva erst nach wochenlanger Einnahme wirken. Aber um die dramatische Entdeckung wirklich zu verstehen, musste ich mir zunächst etwas Hintergrundwissen aneignen.
Genetische Information liegt als Abfolge von vier verschiedenen molekularen »Buchstaben« in der DNA vor. Würde man die DNA einer einzelnen menschlichen Zelle ausrollen, wäre sie etwa zwei Meter lang. Tatsächlich nimmt sie sehr wenig Platz ein, weil sie im Zellkern fest auf winzige Spulen, bestehend aus Eiweißen namens Histone, aufgerollt ist – ähnlich wie ein Magnetband im Inneren einer Videokassette. Im Lauf des Lebens werden Gene auf diesem Strang ständig an- und ausgeschaltet. So kann die Zelle jene Proteine erzeugen, die sie gerade benötigt. Das funktioniert nur, sofern der entsprechende DNA-Abschnitt auch zugänglich ist.
Hier kommt die Epigenetik ins Spiel: Marker, die wie molekulare Post-it-Notizen an den Histonen kleben, steuern, auf welche genetischen Anweisungen die Zelle Zugriff hat. Manche derartige Etiketten weisen bestimmte Proteine an, die DNA von einem Histon zu lösen. Andere signalisieren, dass dieser Bereich stillgelegt ist. Das erklärt, weshalb die Zellen in unserem Körper so unterschiedlich sind, obwohl sie die gleiche Erbinformation besitzen: Bleibt der DNA-Strang aufgerollt, kann die zelluläre Maschinerie die Information darauf nicht lesen. In sich entwickelnden Neuronen schalten die Markierungen zum Beispiel Gene aus, die zu roten Blutkörperchen führen würden.
Monoamine in ungewohnter Rolle
Epigenetik ist ein faszinierendes Thema, über das Forscher immer noch Neues lernen. Etwa, dass Neurotransmitter bei epigenetischen Prozessen eine Rolle spielen. Die Hauptaufgabe der Botenstoffe ist es eigentlich, Signale zwischen Nervenzellen zu übertragen. Das ermöglicht es uns, zu denken, zu lernen und unterschiedliche Stimmungen zu erleben. Läuft die Signalübertragung aus dem Ruder, können kognitive Schwierigkeiten oder psychische Erkrankungen entstehen.
Zu den Neurotransmittern zählen die Monoamine Serotonin und Dopamin. Ersteres wirkt an der Stimmungsregulierung mit. Wer unter Depressionen leidet, bekommt von Ärzten oft Medikamente aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer verschrieben. Diese sollen den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen und so die Kommunikation in den neuronalen Schaltkreisen fördern, die Stimmung, Motivation, Angst und Belohnung kontrollieren. Es dauert allerdings einen Monat oder mehr, bis solche Antidepressiva wirken.
Dopamin wiederum steuert das Belohnungssystem des Gehirns. Das Signalmolekül vermittelt das Gefühl von Euphorie, das etwa dann einsetzt, wenn wir einen Erfolg erzielen. Fast alle süchtig machenden Substanzen erhöhen den Dopaminspiegel in bestimmten Gehirnregionen. Das steigert seinerseits wieder das Verlangen nach der Droge.
Wie ich durch die Lektüre der »Science«-Studie erfuhr, hatte ein Forschungsteam unter der Leitung von Ian Maze von der Icahn School of Medicine in New York 2019 eine neue Funktion von Serotonin aufgedeckt: Das Signalmolekül kann als epigenetische Post-it-Notiz wirken, indem es sich an das Histon H3 bindet. So aktiviert es Gene, die menschliche Stammzellen in Serotonin ausschüttende Neurone umwandeln. Stammzellen, deren Zellkerne nie in Kontakt mit dem Botenstoff kommen, bilden dagegen andere Zelltypen aus.
Diese Erkenntnis inspirierte Mazes Team zu fragen, ob Dopamin auf ähnliche Weise wirkt – und ob der Neurotransmitter über epigenetische Prozesse Gene reguliert, die an Drogensucht und Entzug beteiligt sind. In der »Science«-Studie zeigten die Forscher, dass dasselbe Enzym, das Serotonin an H3 anheftet, auch die Bindung von Dopamin an H3 anregen kann. Die Wissenschaftler tauften den Prozess Dopaminylierung.
Das Team um Maze machte sich natürlich gleich daran, die neue Funktion zu erforschen. Zunächst untersuchte es Hirngewebe von verstorbenen Kokainkonsumenten. In einem Cluster von Dopamin ausschüttenden Neuronen in der Area ventralis tegmentalis (AVT) im Mittelhirn fanden die Wissenschaftler eine verminderte Dopaminylierung von H3. Diese Hirnregion spielt bei Sucht eine wichtige Rolle.
Eingriff ins Belohnungssystem
Ob Kokainkonsum tatsächlich die Dopaminylierung von H3 in jenen Neuronen beeinflusst, testeten die Forscher an Ratten. Sie untersuchten die Nager, bevor und nachdem diese zehn Tage lang Zugang zu Kokain gehabt hatten. Genau wie im Gehirn der menschlichen Konsumenten sank die H3-Dopaminylierung in AVT-Neuronen von Tieren, die die Droge erhalten hatten. Nach einem Monat Entzug war sie auf höhere Werte als bei Kontrolltieren angestiegen, die kein Kokain konsumiert hatten. Die verstärkte Dopaminylierung reguliert womöglich Gene, die in den Belohnungskreislauf des Gehirns eingreifen und so das intensive Verlangen nach der Droge bedingen.
Um diese These zu testen, veränderten die Forscher gentechnisch die H3-Histone in Ratten: Sie ersetzten jenen Teil des Proteins, an den Dopamin ankoppelt, durch einen anderen, mit dem es nicht reagiert. Kokainentzug beeinflusst normalerweise die Aktivität von Hunderten von Genen. Neuronale Schaltkreise werden neu verknüpft, und synaptische Verbindungen entstehen oder werden gekappt. Bei Nagern, deren Zellen H3 nicht dopaminylieren konnten, liefen diese Prozesse schwächer ab. Darüber hinaus feuerten ihre AVT-Neurone seltener und setzten weniger Dopamin frei. Der Eingriff hatte also tatsächlich die Belohnungsschaltkreise beeinträchtigt. Die gentechnisch veränderten Ratten zeigten in nachfolgenden Tests zudem ein wesentlich schwächeres Suchtverhalten.
Die Bedeutung der Entdeckung geht wahrscheinlich weit über Sucht hinaus. Maze erzählte mir, dass sein Team in den jüngsten, noch nicht veröffentlichten Experimenten derartige epigenetische Markierungen auch im Hirngewebe von Menschen mit schweren depressiven Störungen nachgewiesen hat. Womöglich erklärt der Zusammenhang sogar, warum Antidepressiva so lange brauchen, bis sie anschlagen: Wenn die Medikamente wirken, indem sie einen epigenetischen Prozess aktivieren, kann es durchaus Tage oder Wochen dauern, bevor eine Besserung eintritt. In Zukunft will Maze herausfinden, ob epigenetische Veränderungen auch beim Konsum von Drogen wie Heroin, Alkohol oder Nikotin auftreten. Dann hätten Wirkstoffe, die in den epigenetischen Prozess eingreifen, das Potenzial, zur besseren Behandlung für viele Arten von Sucht und psychischen Erkrankungen beizutragen.
In einem Kommentar zu der Forschungsarbeit wies Jean-Antoine Girault von der Sorbonne Université in Paris noch auf eine weitere spannende Möglichkeit hin. Die Kalziumkonzentration innerhalb eines Neurons verändert sich kurzzeitig, wenn ein Nervenimpuls durch sein Axon schießt. Girault merkte an, dass Kalzium das Enzym beeinflusst, das Dopamin an H3 anheftet. Feuern die Nervenzellen durch den Drogenkonsum häufiger, könnte das eine Kettenreaktion auslösen, die über epigenetische Mechanismen das Verlangen nach der Droge steigert. Auf diese Weise würden unsere Handlungen mitbestimmen, welche Gene ausgelesen werden und welche nicht. Lamarck wäre stolz.
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