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Knotentheorie: Wie sich 50 000 verhedderte Würmer in Sekundenschnelle entwirren

Glanzwürmer sind wahre Entfesselungskünstler. Die Wasserbewohner rotten sich zu Knäueln zusammen, die sie superschnell entknoten können. Weil sie sich auf spezielle Weise bewegen.
Verknotete Glanzwürmer
Glanzwürmer (Lumbriculus variegatus) verheddern sich bisweilen zu Tausenden zu einem Knäuel – und können blitzschnell wieder auseinanderstieben.

Jeder, der sich schon einmal mit einem verhedderten Kopfhörer herumgeschlagen hat, weiß: Es ist nicht leicht, ein verknotetes Kabel zu entwirren. Für den Glanzwurm hingegen ist es ein Kinderspiel. Die winzigen Wirbellosen können sich zu Tausenden ineinander verschlingen und so dichte Klumpen bilden – wie ein Häufchen Spagetti. Bis sich die Würmer zu einem Knäuel zusammengefunden haben, vergehen einige Minuten. Doch um sich wieder voneinander zu trennen, brauchen sie nur Millisekunden.

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben nun herausgefunden, wie die beinlosen Entfesselungskünstler sich entknoten. »Wir dachten, wenn die Würmer dieses Problem lösen können, dann können wir das auch«, sagt Mathematiker Vishal Patil von der Stanford University. Wie er und seine Kollegen in der Fachzeitschrift »Science« schreiben, schlüsselten sie mit Hilfe mathematischer Simulationen die Bewegungen der Glanzwürmer auf.

Mit einer Länge von nur wenigen Zentimetern sind Glanzwürmer (Lumbriculus variegatus) kaum zu erhaschen. Doch die Wasserbewohner, die häufig als Futter für Zierfische dienen, entwickeln ihre Stärke, wenn sie in Massen zusammenkommen. Zwischen 5 und 50 000 Würmer können sich ineinander zu einem Knäuel verflechten. Der Grund: Sie regulieren so ihren Feuchtigkeitshaushalt und ihre Körpertemperatur. Im Knäuel hängen die Ringelwürmer dicht zusammen, doch naht ein räuberischer Schwimmkäfer, fällt der Würmerball schlagartig auseinander und die Tiere machen sich in alle Richtungen davon.

Ein Würmerball, der explodiert

Harry Tuazon, Doktorand der Biotechnologie am Georgia Institute of Technology, beobachtete die Reaktion der Würmer im Labor. »Ich richtete ein UV-Licht auf einen Würmerball, der plötzlich explodierte«, sagt er. »Es war faszinierend.« Tuazon beeindruckte, wie sich die Würmer innerhalb weniger dutzend Millisekunden entwirrten – also im Bruchteil eines Augenblinzelns. Er zeichnete die Bewegungen einzelner Würmer in mikroskopischen Videos auf und fügte nach und nach Tiere hinzu, um die Komplexität der Knäuel zu erhöhen. Zusammen mit Patil, damals noch Doktorand und spezialisiert auf die Geometrie von Knoten und anderer komplexer Systeme, machte sich Tuazon daran, die Würmerkugeln physikalisch zu verstehen.

Würmerball »explodiert«
Würmerball »explodiert« | Wenn die Würmer Gefahr wittern, können sie sich superschnell voneinander lösen.

Patil fiel etwas Interessantes auf, als er sich die Mikroskopvideos von einem einzelnen Wurm ansah, der auf einen elektrischen Reiz reagierte: Das Tier bewegte seinen Kopf erst im Uhrzeigersinn, dann machte es kehrt und drehte sich gegen den Uhrzeigersinn weiter. Auf diese Weise entstand ein Achtermuster, das auch abwechselnde schraubenförmige Welle genannt wird.

Patil wollte ein genaues mathematisches Modell der spiralförmigen Wurmbewegungen erstellen. Dafür musste er einen Blick ins Innere eines Knäuels werfen. Die Aufgabe erwies sich als schwierig, da die Würmerkugeln kaum zu durchdringen waren. Die Würmer leben unter Wasser, mit Röntgenstrahlen käme man daher nicht weiter. Und die Mikrocomputertomografie bot nur Einblicke in geringer Auflösung. Schließlich entschied sich Tuazon dafür, es mit Schall zu versuchen. Er platzierte einen Haufen Würmer in Gelatine und richtete ein Ultraschallgerät auf die Tiere. Nun endlich konnten die beiden Forscher sehen, was im Inneren des Würmerballs vor sich geht.

Im Uhrzeigersinn und dann wieder dagegen

Mit Hilfe der Ultraschallbilder zeichneten die Forschenden mehr als 46 000 Datenpunkte für die Wurmbewegungen im Wirrwarr auf. Patil und seine Kollegen erstellten nun mathematische Modelle und generierten dreidimensionale Simulationen der Wurmschrauben. Auf diese Weise fanden sie heraus, dass sich die Würmer durch die abwechselnde schraubenförmige Bewegung problemlos entwirren konnten. »Wenn die Würmer schnell zwischen den Drehbewegungen im Uhrzeigersinn und gegen den Uhrzeigersinn wechseln, entwirren sie sich.« Und es zeigte sich, dass Knoten entstehen, wenn sich die Wirbellosen hauptsächlich in eine Richtung schlängeln.

© Vishal Patil
Wie sich die Würmer entwirren
Mit einer Simulation in Zeitlupe ahmten die Forschenden nach, wie sich die Glanzwürmer wieder voneinander trennen.

Weil die Glanzwürmer ihre Bewegungen flexibel und rasch anpassen können, ist es ihnen möglich, sich genau aufeinander abzustimmen, erklärt die Mathematikerin Eleni Panagiotou von der Arizona State University, die sich mit Verschlingungen in physikalischen Systemen befasst, an der Studie von Patil und Co jedoch nicht beteiligt war. Sie schrieb parallel einen thematisch passenden Beitrag in »Science«. Klar sei: Wenn sich die Tiere zu stark verdrehen, wird das Knäuel zu fest und die Würmer können nicht mehr entkommen. Verdrehen sie sich nicht genug, verliert das Gewirr seine Funktion.

Panagiotou zufolge kann das Verständnis derartiger Bewegungsabläufe helfen, komplizierte Knoten zu entwirren – sowohl solche natürlicher Art als auch vom Menschen hergestellte. Als verknotete Fasern gelten Wurzelgeflechte oder eng gewundene DNA-Stränge, ebenso Seile oder gewebte Stoffe. »Die Forschenden erklären nicht nur, wie das natürliche Verhalten dieser Würmer aussieht, sondern sie legen auch eine Anleitung vor, was in anderen Systemen und Kontexten möglich ist«, sagt Panagiotou.

Eine Möglichkeit wäre, so schlägt das Team um Patil vor, softe Robotersysteme zu bauen, die aus fadenförmigen Strängen bestehen und ihre Form verändern können. Ebenso wären flexible Pflaster denkbar, die ihre Form dem Stand der Wundheilung anpassen – oder Wasserfilter, die je nach Partikelgröße ihre Siebkörnung verändern können. »Die Würmer liefern uns die Grundregeln dafür, wie man sich verheddern und entknoten kann – und ermöglichen es uns, auch andere Systeme zu manipulieren«, sagt Patil. »Es ist eben nicht nur ein mathematisches Modell, sondern wir wissen, dass die Würmer dazu in der Lage sind.«

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