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Astronomiegeschichte: Der ewige Zweite – wie Simon Marius siebeneinhalbmal zu spät kam

Heute vor 400 Jahren starb Simon Marius. Der fränkische Astronom beobachtete im 17. Jahrhundert als einer der Ersten mit dem Teleskop, doch andere waren schneller als er.
Darstellung von Simon Marius
Der fränkische Galilei | Simon Marius wurde im Jahr 1573 in Gunzenhausen geboren und war von 1606 bis 1624 markgräflicher Hofastronom in Ansbach. Im Jahr 2024 wurde sein 400. Todestag mit einem Jubiläum gewürdigt.

Wer entdeckte die Jupitermonde als Erster: Galileo Galilei oder der markgräfliche Hofastronom Simon Marius? Inzwischen gilt der Prioritätsstreit als gelöst: Marius entdeckte sie kurz nach Galilei. Insgesamt kam er bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts erstaunliche siebeneinhalbmal zu spät: bei Supernovae, den Venusphasen, dem Andromedanebel, beim Nachbau eines Teleskops, bei einer Euklid-Übersetzung und dem tychonischen Weltsystem. In gewissem Sinn ist er auch bei seiner Benennung der Jupitermonde der Zweite, obwohl die Internationale Astronomische Union im 20. Jahrhundert seine Vorschläge übernahm.

Im Folgenden werden die siebeneinhalb Fälle präsentiert, in denen der unglückselige Astronom aus Mittelfranken leider zu spät kam.

1. Marius sieht eine Supernova in Padua

Simon Marius wurde an der Heilsbronner Fürstenschule ausgebildet und bekam im Jahr 1601 die Gelegenheit einer Forschungsassistenz beim kaiserlichen Hofastronomen Tycho Brahe (1546 – 1601) in Prag. Durch dessen Tod im Oktober kam eine Zusammenarbeit aber nicht mehr zu Stande, und der Markgraf schickte Marius nach Padua, wo er sich im Dezember für ein Medizinstudium immatrikulierte. Er lebte sich an der Universität offenbar gut ein und wurde im Juli 1604 zu einem von zwei Consiliares der »Natio Germanica« gewählt, die den deutschen Studentenverband leiteten und bei Berufungen und Rektorwahl beteiligt waren.

Zu dieser Zeit hielt Galileo Galilei (1564 – 1642) in Padua Vorlesungen und gab profitablen Privatunterricht. Es gibt keine Belege, ob Galilei und Marius je ein Gespräch geführt hatten, aber sie wussten sicherlich voneinander. Zur Aufbesserung des markgräflichen Salärs nahm Marius ebenfalls wohlhabende Studenten auf. Ab 1604 unterrichtete er auch den Mailänder Adeligen Baldessare Capra (1580 – 1626), dessen Vater Galilei Fechtunterricht gegeben hatte. Nachdem sich Capra ein Instrument geliehen und 1605 eine Zeit lang die Werkstatt von Galileis Handwerkern aufgesucht hatte, veröffentlichte er 1607 eine Schrift, die sich als eine lateinische Übersetzung einer Gebrauchsanweisung für den Militärkompass von Galilei aus dem Jahr 1606 erwies. Auch wenn Galilei den Proportionszirkel – einen Vorläufer des Rechenschiebers – nicht erfunden, sondern nur weiterentwickelt hatte, blieb Capra den Hinweis auf Galileis Autorenschaft schuldig.

Da die Gerichtsbarkeit für interne Angelegenheiten bei den Universitäten lag, brachte Galilei das Plagiat vor die Rektoren. Nach der Anhörung mussten alle Exemplare des Buches von Capra vernichtet werden. In den damaligen Akten taucht der Name von Marius nicht auf, und eine Beteiligung von Marius ist auch nicht naheliegend, da er bereits seit zwei Jahren wieder in Deutschland war. In der Schrift »Prognosticon Astrologicum auf das Jahr 1606« nannte er August 1605 als Ende seines Italienaufenthalts. Anfang 1606 wurde Marius Hofmathematicus im mittelfränkischen Ansbach, und im Mai heiratete er die Tochter seines Nürnberger Verlegers. Auch Galilei erhob zunächst keine Vorwürfe. Viele Jahre später stellt er 1623 im Werk »Saggiatore« den Sachverhalt anders dar, macht Marius für die Arbeit Capras verantwortlich und ergänzt, »er reiste unverzüglich und um vielleicht einer Strafe zu entgehen, in sein Heimatland und ließ seinen Schüler zurück«. Das ist mit der Chronologie schwerlich vereinbar.

Vielleicht war Marius bereits vorher ein Ärgernis für Galilei, denn er entdeckte schon am 10. Oktober 1604 eine Supernova – damals noch als »Nova« bezeichnet –, die heller als Jupiter strahlte. Während seine Schüler Capra und Camillo Sasso aus Kalabrien einen Quadranten vorbereiteten, um die Höhe des Pols von Padua zu ermitteln, erblickte Marius im Fuß des Sternbilds Schlangenträger die bislang letzte direkt sichtbare Sternexplosion im Milchstraßensystem – freilich war seinerzeit nicht klar, was physikalisch bei diesem Helligkeitsausbruch geschehen war. Am selben Tag bemerkten sie chinesische Astronomen, einige Tage später koreanische, und am 17. Oktober begann Kepler seine Beobachtungen. Heute ist der Ausbruch als »Keplers Supernova« in der Literatur bekannt.

Galilei erhielt mehrere Hinweise und vermerkte die Supernova zum ersten Mal am 28. Oktober, woraufhin er – vermutlich im November – öffentlich darüber sprach. Er selbst nennt mehr als 1000 Zuhörer. Man darf sicher nicht erwarten, dass Galilei dabei andere Beobachter erwähnte. Da nur die Titelseite und ein Fragment vom Ende des Manuskripts erhalten blieben, ist es natürlich reine Spekulation, aber vielleicht verstieg sich Capra damals zu der Auffassung, er habe bei Galilei »etwas gut«. Marius war aber doch nicht ganz der Erste, denn einen Tag früher sahen Ilario Altobelli in Verona und Raffaello Gualterotti in Florenz die Nova am 9. Oktober.

2. Marius erfährt im Jahr 1608 vom Teleskop

Als Geburtsstunde des Teleskops gilt eine Präsentation Ende September 1608 am Rande einer Friedenskonferenz in Den Haag, bei welcher der Middelburger Brillenmacher Hans Lipperhey sein Fernrohr vorstellte. Am 2. Oktober 1608 reichte er einen Patentantrag ein. Da in der Zwischenzeit weitere Ansprüche erhoben wurden und die Erfindung wohl »in der Luft lag«, wurde jedoch kein Patent erteilt.

Wie konnte man nun zu dieser Zeit vom Teleskop erfahren? Das Einfachste war, man bekam ein Fernrohr zugesandt. So konnten die Niederländer ihrem wichtigsten Verbündeten Frankreich die Bitte um zwei Fernrohre kaum abschlagen. Weniger befreundete Nationen mussten sich auf dem freien Markt umtun, so dass es bis Frühjahr 1609 dauerte, bis sich alle europäischen Potentaten mit einem Fernrohr versorgt hatten.

Wer in weniger erlauchten Kreisen verkehrte, konnte in einer französischsprachigen Flugschrift davon lesen. Anlass der Veröffentlichung war die erste Delegation eines asiatischen Königs in Europa, aber es wurde auch von der Vorführung eines Fernrohrs berichtet, und bereits dort wurde die astronomische Verwendung angesprochen. Dieses Flugblatt erschien vor Mitte Oktober 1608 (siehe »Die Kunde vom Fernrohr«). Paolo Sarpi, venezianischer Theologe und Freund Galileis, las diesen Bericht im November 1608 und korrespondierte mit Francesco Castrino und Jacques Badovere in Paris darüber. Badovere informierte wiederum Galilei, der aber offenbar den Durchbruch in Den Haag nur für ein weiteres Gerücht hielt. Wohl auch durch einen Fernrohrhändler aufgeschreckt, konnte Galilei dann aber schon im August 1609 dem Dogen Leonardo Donato auf dem Glockenturm von San Marco seinen Nachbau vorführen.

Es gibt aber einen dritten Weg, und diesen bringt Simon Marius ins Spiel. Dessen Förderer, der Oberst und spätere General Hans Philipp Fuchs von Bimbach (um 1567 – 1626), kam auf der Frankfurter Herbstmesse im Jahr 1608 in Kontakt mit einem »Belgier« (tatsächlich war er Niederländer), der ein Teleskop entwickelt habe. Da eine Linse einen Sprung hatte, brachte Fuchs von Bimbach zwar kein Fernrohr, aber schon im Oktober 1608 eine genaue Beschreibung nach Ansbach, die Marius wohl zum ersten Fachastronomen außerhalb der Niederlande machte, der Kenntnis von der Erfindung erlangte.

Simon Marius konnte seinen Kenntnisvorsprung von einem halben Jahr allerdings nicht verwerten, weil eine Nachkonstruktion mit Hilfe von Nürnberger Brillenmachern nicht gelang. Dadurch verlor er wertvolle Zeit, bis sein Förderer im Sommer 1609 ein fertiges Teleskop erhielt. Ab Ende November durfte er das Instrument mit nach Hause nehmen, und er sah den Jupiter zum ersten Mal, als er in Opposition zur Sonne stand. Wäre ein Jahr zuvor bereits ein Nachbau geglückt, wären Teile der Frühgeschichte des Teleskops wohl umzuschreiben, und etliche der neuen teleskopischen Nachrichten hätten nicht von Venedig und Florenz aus ihren Siegeszug gestartet, sondern von Ansbach oder Nürnberg aus. In diesem Fall hatte Marius großes Pech.

3. Marius kann den Andromedanebel nicht auflösen

Mit dem Teleskop bricht für die Astronomie eine neue Ära an. Viele Nebel lassen sich in Einzelsterne auflösen. Marius nennt die »Wolke des Krebses« – heute: Krebsnebel – und Galilei die Plejaden und eine Konstellation von Gürtel und Schwert des Orions. Beide beschreiben die Milchstraße als eine Vielzahl einzelner Sterne. Mit dieser Erwartung dürfte sich Marius im Dezember 1612 auch dem »Andromedanebel« – heute als Andromedagalaxie (Messier 31, M31) bekannt – zugewandt haben und überrascht gewesen sein, dass eine Auflösung in Einzelsterne nicht gelang. Den blassen Glanz verglich er mit dem Schein einer brennenden Kerze durch ein durchscheinendes Tierhorn und nannte einen weit entfernten Kometen als mögliche Erklärung.

Die wahre Natur musste ihm freilich verborgen bleiben. Im Jahr 1755 mutmaßte Immanuel Kant (1724 – 1804) ein Sternensystem ähnlich der Milchstraße (siehe SuW 11/2024, S. 34). Im Jahr 1785 vermutete Wilhelm Herschel (1738 – 1822) das Schimmern von Millionen von Sternen, und 1899 erkannte Julius Scheiner mit Hilfe von Spektren, dass Spiralnebel Sternhaufen enthalten. Doch erst im 20. Jahrhundert konnte die Frage der Entfernung entschieden werden. Seit Mitte der 1920er Jahre beobachtete Edwin Powell Hubble (1889 – 1953) am Mount Wilson Observatory winzige Nebel, die er als Ansammlung unzähliger Sterne erkannte. Doch um festzustellen, ob diese Nebel Teil unserer Milchstraße oder eigene Galaxien sind, bedurfte es einer Entfernungsmessung, für die Triangulation vollkommen aussichtslos war.

Hier half eine Entdeckung von Henrietta Leavitt (1868 – 1921), die im Jahr 1912 bemerkte, dass die Periode des Helligkeitswechsels einer Gruppe pulsierender Sterne – der Cepheiden – mit deren absoluter Helligkeit korreliert. Da ein Jahr später Ejnar Hertzsprung (1873 – 1967) die Entfernungen einiger Cepheiden unserer Galaxis bestimmen konnte, war es nun möglich, mit dieser Perioden-Leuchtkraft-Beziehung Cepheiden als Standardkerzen zu nutzen, um auch viel größere Distanzen zu ermitteln. Anfang 1924 identifizierte Hubble Cepheiden im Andromedanebel und berechnete deren Entfernung auf 900 000 Lichtjahre. Wir korrigieren heutzutage auf 2,5 Millionen Lichtjahre, doch auch mit Hubbles Wert war klar: Der Andromedanebel ist eine eigenständige Galaxie.

Von solchen Erkenntnissen war Marius weit entfernt, aber zu seiner Zeit galt er als Entdecker. Auch der französische Astronom Charles Messier (1730 – 1817) bezeichnete den Nebel im Jahr 1771 in seinem berühmten Nebelkatalog so. Dass Marius M31 sah, war dabei als solches gar nicht außergewöhnlich, denn jeder geübte Beobachter wird das Objekt bei gutem Seeing mit bloßem Auge erkennen. Dennoch führen weder antike noch mittelalterliche Sternkataloge diesen Nebel auf. Der Grund dafür war die aristotelische Auffassung, dass Kometen und Nebel nicht im Himmel lokalisiert waren, sondern dass es sich um Feuererscheinungen der Erdatmosphäre handelte. So ist Marius der erste Mensch, der den Andromedanebel durch ein Teleskop gesehen hat, und der erste Europäer, der ihn im Druck beschrieben hat. War er der Allererste? Nicht ganz, denn heute wissen wir, dass sich die früheste Beschreibung in einer Pergamenthandschrift des persischen Astronomen Abd ar-Rahman as-Sufi über die Fixsterne von etwa 964 findet. Unser Nebel taucht hier als »die kleine Wolke« auf, so dass Marius fast 700 Jahre später doch erst den zweiten Bericht lieferte.

Trabanten des Planetenkönigs | Im Werk »Prognosticon Astrologicum auf das Jahr 1612« präsentiert Marius seine erste Darstellung der Jupitermonde.

4. Die Jupitermonde sind eine Sensation

Die Entdeckung der vier großen Monde von Jupiter im Januar 1610 lieferte zwar keinen Beweis des Heliozentrismus, dennoch markieren diese Satelliten eine Zäsur, denn erstmals gab es nun Gestirne, die sich nicht unmittelbar um die Erde drehen. Galileo Galilei sah am 7. Januar drei winzige Sternchen in gerader Linie mit dem Jupiter und war sich sicher bewusst, dass bald überall in Europa Astronomen solche Entdeckungen machen würden. Nur wer als Erster publizierte, würde sich in die Geschichtsbücher eintragen. Das tat er im März mit seiner Veröffentlichung »Sidereus Nuncius« (auf Deutsch: Sternenbotschaft).

Simon Marius nennt später den 8. Januar als Tag der ersten Beobachtung und begann während der Rückläufigkeit von Jupiter daran zu zweifeln, dass dies Fixsterne sind. Dies war zwischen den stationären Punkten am 9. Oktober 1609 und dem 4. Februar 1610 (nach gregorianischem Kalender). Da Marius Galileis Buch seit Mitte 1610 kannte, ist seine Angabe des 8. Januar 1610 vermutlich so zu verstehen, dass er die Veröffentlichung von Galilei respektiert, aber darauf hinweisen möchte, dass er zur gleichen Zeit die Monde sah.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Marius langsamer war und sich erst Anfang März über die genaue Zahl dieser Gestirne völlige Gewissheit verschaffte. Leider versäumte Marius eine frühzeitige Mitteilung und spricht im Druck erstmals in der Schrift »Prognosticon auf 1612« (Widmung vom 1. März 1611) über seine teleskopischen Beobachtungen (siehe »Trabanten des Planetenkönigs«). Somit geht der Punkt an Galilei, der Marius im Jahr 1623 unnötigerweise des Plagiats beschuldigte und ihn bei der Gelegenheit auch für Capras Plagiat verantwortlich machte.

Auswiegen der Weltsysteme | Giovanni Battista Riccioli erschienen in seinem Werk »Almagestum novum« (Bologna 1651) die Argumente für das kopernikanische System als zu leicht; schwerer wiegt das semi-tychonische System.

5. Die Venusphasen widerlegen Ptolemäus

Systematisch am bedeutendsten war die Entdeckung der Venusphasen, die den Mondphasen sehr ähneln. Die im Teleskop sichtbare Abfolge von der Neuvenus über die Sichelgestalt bis zur Vollvenus war nicht in Einklang zu bringen mit den erwarteten Phasen im ptolemäischen System und brachte den Beweis, dass sich die Venus um die Sonne dreht. Damit war das ptolemäisch-aristotelische Weltsystem erstmals widerlegt – zumindest hinsichtlich seiner Aussagen über die inneren Planeten.

Ab Winter 1610/11 beobachtete Marius die Phasen der Venus und berichtete darüber in einem verloren gegangenen Brief an Nikolaus von Vicke, über den dieser am 6. Juli 1611 (nach julianischem Kalender) Kepler wie folgt in Kenntnis setzt: »Drittens werde ich beweisen, dass Venus nicht anders [als der Mond] von der Sonne beleuchtet wird und dass sie gehörnt und halb wird, wie sie vom Ende des vorigen Jahres an bis in den April des jetzigen von mir […] beobachtet und gesehen worden ist.« Im Druck gibt sich Marius in der Widmung vom 1. März 1611 des »Prognosticons auf 1612« überzeugt: »Dass also gar kein zweiffel mehr ist / denn das Venus von der Sonnen erleuchtet wird / wie der Mond / Welcher Meinung wol etliche auß den Alten gewesen / aber nie von keinem mit Augen gesehen worden.« Auch für Marius gilt der Umlauf der Venus um die Sonne damit als erwiesen.

Demgegenüber unterbleibt in Mariusʼ Schrift »Mundus Iovialis« von 1614 jede Erwähnung von Venusphasen. Vielleicht wollte er keine weitere Angriffsfläche bieten, weil zwischenzeitlich, im Jahr 1611, Keplers Werk »Dioptrik« erschienen war. Darin stellt Kepler dem Haupttext einige Briefe Galileis zu dessen Entdeckung der Phasen der Venus voran, lässt Vickes Mitteilung folgen und bemerkt in der Überleitung: »Weil aber es in der Wissenschaft niemals an dem Wetteifer oder der Verkleinerungssucht der Nationen fehlt und viele in Deutschland hier die Zeugnisse von Deutschen verlangen werden, teile ich für diese über dieselben Gegenstände den Brief eines Deutschen mit, aus dem zugleich auch das sich erkennen lassen wird, dass es von Galilei nicht übel getan war, dass er für das Seine sorgend seine Erfindungen frühzeitig wenigstens durch Buchstabenrätsel uns nach Prag hin mitgeteilt hat.«

Den Brief von Marius kommentiert Kepler mit spitzen Bemerkungen, die Marius nicht unbegründet verärgert haben, woraufhin er sich über einen Hofrat des Markgrafen am Kaiserhof beschwerte, so dass sich Kepler zu zwei Schreiben veranlasst sah, um seine Bemerkungen als »weder ungerecht noch unehrenhaft« darzulegen. Galilei selbst publizierte seine Entdeckung erst in der Einleitung zu seinem »Diskurs über die Dinge im Wasser« von 1612, doch Galileis Briefe und Keplers Darstellung gaben für die Zukunft die Priorität vor, so dass Marius nur die erste visuelle Darstellung von Venusphasen bleibt.

6. Das tychonische Weltsystem ist ein ernsthafter Kandidat

Für überzeugte Kopernikaner sprachen die teleskopischen Beobachtungen für das heliozentrische System, doch einen Beweis gab es noch nicht. Kepler verfügte mit seinem dritten Gesetz, das Abstände und Umlaufzeiten in Zusammenhang bringt, ab dem Jahr 1618 noch über das beste Argument. Ein theoretischer Rahmen oder gar Fixsternparallaxen lagen in weiter Ferne.

Galilei führte die Gezeiten der Meere als finalen Beweis der Erddrehung an – ein Feld, das besser mit Mond und Sonne in Beziehung gesetzt werden sollte, was Galilei als absurd betrachtete. Dafür wurde er vielfach gescholten, doch die Zielrichtung war instruktiv und brachte im 18. Jahrhundert mit der Corioliskraft den Erfolg.

Solange man allerdings nicht dynamisch argumentieren kann, ist innerhalb des Planetensystems letztlich jeder Punkt als kinematischer Koordinatenursprung möglich. Es müssen sich nur die beobachtbaren Phänomene korrekt ergeben. Im Jahr 1610 lassen sich aber alle teleskopischen Beobachtungen auch im tychonischen Weltmodell erklären. Dort ruht die Erde in der Mitte und wird von Mond und Sonne umkreist, und die Planeten ziehen ihre Bahnen um die Sonne. Alle Lagebeziehungen, Abstände, Größen und Helligkeiten ergeben sich in beiden Modellen identisch. Gleichzeitig vermeidet Tychos Modell aber den Umstand, dass wir weder Umlauf (Revolution) noch Rotation der Erde wahrnehmen. Dies wird erst vom Trägheitsbegriff, von Newtons Kraftgesetz und der Gravitation aufgeklärt, weswegen Newtons Fundamentalwerk »Principia« von 1687 einen Wendepunkt markiert.

Fassen wir die Argumente zur Zeit von Marius zusammen: Die Phasen der Venus lassen sich am leichtesten durch ihren Sonnenumlauf erklären, und das, was für die Venus gilt, sollte auch für den anderen inneren Planeten Merkur gelten. Marius findet nun ein weiteres Argument, indem er zeigen kann, dass die Bewegung der Jupitermonde nur gleichförmig erscheint, wenn diese nicht von der Erde, sondern von der Sonne aus betrachtet werden. Damit ist für Marius klar: Jupiter dreht sich mit seinen Satelliten um die Sonne, und dies dürfte auch auf die anderen äußeren Planeten, Mars und Saturn, zutreffen. Daraus ergibt sich das vollständige tychonische Modell. Marius berichtet, er sei auf dieses Modell gekommen, bevor ihm das tychonische Weltmodell begegnet sei. Kurz davor soll er im Jahr 1596 eine Handschrift über sein Weltsystem mit einer Erklärung dem Konsistorium in Ansbach überreicht haben. Erhalten geblieben ist davon nichts.

Wie auch immer, Marius ist nicht als Erster auf diese vorneuzeitliche Lösung gekommen. Brahe veröffentlichte sie in der Schrift »De mundi aetherei recentioribus phaenomenis« von 1588. Ähnliche Systeme vertraten Nicolaus Raimarus Ursus und Paul Wittich. Im Gegensatz zu Brahe lässt Ursus statt der Fixsternsphäre die Erde rotieren, und der Marsorbit schneidet den Sonnenorbit nicht, so dass sein System mit den kristallinen Schalen kompatibel wäre. Beim System Wittichs, das nur durch eine Anmerkung von 1578 auf einem Exemplar der Schrift »De revolutionibus« erhalten ist, umkreisen Mars, Jupiter und Saturn noch die Erde. Dieses von Martianus Capella (um 420 n. Chr.) beschriebene System wurde unter dem nicht sachgemäßen Namen »Ägyptisches System« bekannt, das schon Herakleides Pontikos (4. Jh. v. Chr.) mit einer rotierenden Erde vertreten haben soll.

Insoweit trickst Galilei in seinem berühmten Werk »Dialogo« über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische. Das ptolemäische Modell war im Jahr 1632 längst zu den Akten gelegt und durch das tychonische ersetzt worden (siehe »Auswiegen der Weltsysteme«). Gegenpart war dagegen nicht das kopernikanische System mit seinen Kreisbahnen, Exzentern und Epizykeln, sondern der keplersche Heliozentrismus, den Galilei und Marius leider ignorierten.

7. Euklids »Elemente« werden übersetzt

Auf verschiedenen Feldern hätte man Simon Marius geraten, frühzeitiger zu publizieren. Bei den Jupitermonden hätte ihm dies viel Ärger erspart. Doch gerade im Jahr 1610 übersetzte er im Auftrag seines Mäzens Fuchs von Bimbach »Die Ersten Sechs Bücher Elementorum Euclidis« aus dem griechischen Original. Euklid fasste im 3. Jahrhundert v. Chr. Ergebnisse von Vorgängern zusammen und entwarf ein axiomatisches Gesamtbild der Mathematik, das sein Werk »Elemente« bis ins 19. Jahrhundert zum nach der Bibel meistverbreiteten Werk machte. Seine axiomatische Methode, aus unbezweifelbaren Grundsätzen Lehrsätze zu beweisen, wurde beispielgebend für das Vorgehen in den Wissenschaften schlechthin.

Das Werk wurde vielfach ins Lateinische und Arabische übersetzt, blieb damit aber den Fachgelehrten vorbehalten. Im 16. Jahrhundert entstand das Interesse, die »Elemente« auch Praktikern zugänglich zu machen. Gerade die Bücher 1–6 behandeln Flächengeometrie, wie sie für Landvermessung, Instrumentenbau, Architektur, Fortifikation und Kriegswesen nützlich ist. Auch Albrecht Dürers Veröffentlichung mit dem Titel »Underweysung der Messung« von 1525 folgt dem Bemühen, den Handwerkern eine theoretische Fundierung anzubieten. Während Dürers Veröffentlichung sehr anspruchsvoll war, vereinfachen die volkstümlichen Euklid-Ausgaben und ersetzen oft die Beweise durch Beispiele.

Die erste Übersetzung in eine moderne Sprache stammt aus dem Jahr 1543 von Niccolò Tartaglia ins Italienische. Die erste englische Übersetzung erschien 1570, die erste französische 1564, die erste spanische 1576 und die erste niederländische 1606. Die früheste Übersetzung der ersten Teile ins Chinesische erfolgte durch Xu Guangqi und Matteo Ricci im Jahr 1607.

Im Jahr 1610 veröffentlichte Simon Marius seine deutsche Übersetzung des geometrischen Teils des Werks »Elemente«, was ihn laut dem Euklid-Artikel in Wikipedia zum Ersten macht. Na also – doch einmal! Doch Wikipedia übersieht (Stand: 12. Dezember 2024), dass diese Ehre Wilhelm Holtzman (1532 – 1576) gebührt, der sich schon in seiner Studentenzeit Guilielmus Xylander nannte und bereits 1562 in Basel die ersten sechs Bücher, direkt aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt, herausgab.

Johannes Kepler war diese Ausgabe noch bekannt, und er erkundigte sich, was denn neu sei an der von Marius. Diese Frage beantwortete Fuchs von Bimbach im Vorwort der Marius-Ausgabe und nennt drei Gründe: Zum einen war die Xylander-Übersetzung wohl kaum mehr verfügbar. Dann monierte er umständliche Beweisgänge und unglückliche Eindeutschungen. Gerade die Fachsprache der Geometrie war in der frühen Neuzeit noch in reger Diskussion. So konnten sich auch nicht alle Eindeutschungen von Marius durchsetzen: Weder der »Durchschneider« für den Diameter beziehungsweise unseren heutigen Durchmesser noch »Winkelrecht« für Quadrat oder »geschrägte Vierung« für Rhombus haben sich gehalten. Sein »halber Umkreiß deß Zirckels« für »semicirculo« ist zumindest unserem Halbkreis nahe.

7½. Marius benennt die Jupitermonde

Wie kann man nun ein halbes Mal der Zweite sein, und das ausgerechnet bei der Benennung der Jupitermonde, die doch im Oktober 1975 von der Internationalen Astronomischen Union (IAU) der Schrift »Mundis Iovialis« von Simon Marius entnommen wurde? In seinem Hauptwerk schreibt Marius: »Der Jupiter wird von den Dichtern am meisten wegen unerlaubter Liebesverhältnisse beschuldigt. Am meisten werden aber drei junge Frauen genannt, zu welchen Jupiter durch heimliche Liebe erfasst wurde, nämlich Io, die Tochter des Flussgottes Inachus, hierauf Kallisto, die Tochter des Lycaon, und dann Europa, die Tochter des Agenor; allzu heiß liebte er gar auch den wohlgestalteten Knaben Ganymedes, den Sohn des Königs Tros, und zwar so sehr, dass er ihn in der Gestalt eines Adlers auf seinen Schultern in den Himmel gebracht hat.«

Jupiter umkreist die Sonne | Im Werk »Prognosticon Astrologicum auf das Jahr 1613« berichtet Marius, dass er nach vielen Berechnungen erkannte, dass die Bewegung der Jupitermonde (e) auf die Sonne (b) und nicht auf die Erde (a) bezogen werden muss.

Marius hat aber noch eine andere Benennung parat. So wie im tychonischen Weltsystem der Planet Sonne die Satelliten Merkur bis Saturn besitzt, nimmt Marius diese in Analogie für Jupiter (siehe »Jupiter umkreist die Sonne«). Deswegen nannte er den entferntesten Mond »Saturn des Jupiter« und sieht in der Farbe eine Ähnlichkeit mit dem Sonnensaturn. Derjenige, »der durch den Glanz des Lichtes und die offensichtliche Größe die übrigen Begleiter des Jupiter übertrifft«, wird »Jupiter des Jupiter«. Den zweiten Mond nennt er »Venus des Jupiter« und den ersten schließlich »Merkur des Jupiter«. Als Tychoniker gefällt Marius diese Analogie zu den Sonnenplaneten, und man darf annehmen, dass er diese Variante präferiert hätte. So wurde in diesem Fall zwar Marius’ Vorschlag übernommen, aber mutmaßlich nicht seine erste Wahl.

Bleibt schließlich für die Forschung noch die Frage, ob Marius in seinem Zweitersein einen Rekord aufgestellt hat oder ob es einen Unglücklichen gibt, der noch öfter das Siegerpodest verfehlte. In diesem Fall wäre Marius auch hier der Zweite.

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  • Quellen

Literaturhinweise

Bredekamp, H.: Die Geschichte von Galileos O. Sterne und Weltraum 1/2012, S. 42 – 51
Padova, T. de, Staude, J.: Galilei, der Künstler. Sterne und Weltraum 12/2007, S. 36 – 41
Staude, J.: Galileis erster Blick durchs Fernrohr und die Folgen heute. Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg, 2010
Wetz-Weingart, M.: Das Universumsgenie Immanuel Kant. Sterne und Weltraum 11/2024, S. 34 – 38

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