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Superwahljahr 2024: Manipulation hinter verschlossenen Türen

Im Superwahljahr 2024 spielen soziale Medien eine größere Rolle denn je. Dabei wird ihr Einfluss immer intransparenter - denn immer öfter sperren die Plattformen Forschende aus.
Mehrere Hände mit Wahlzetteln an einer Urne
Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen 2024 Wahlen stattfinden. Forschende wollen untersuchen, wie Social Media ihre politischen Entscheidungen beeinflusst.

In Indonesien wimmelte es von »Buzzern«: Menschen, die dafür bezahlt wurden, die sozialen Medien mit Inhalten zu überschwemmen. Ihr Ziel: Die Wählerschaft bei den Parlamentswahlen zu beeinflussen, die am 14. Februar 2024 stattgefunden haben. Inmitten der digitalen Flut versuchten die Sozialwissenschaftlerin Ika Idris von der Monash University in Jakarta und ihre Kollegen, den Einfluss von Hassreden und Fehlinformationen auf die Wählerinnen und Wähler zu verfolgen. So kursierte ein von künstlicher Intelligenz (KI) erzeugtes Deepfake-Video, das einen Präsidentschaftskandidaten zeigt, der chinesisch spricht – was eine enge Allianz mit China suggerieren sollte.

Früher konnte Idris für ihre Arbeit auf Daten von X (ehemals Twitter) zugreifen. Doch 2023 hat die Social-Media-Plattform den zuvor freien Zugang für akademische Forschung eingestellt; nun muss man für die Daten bezahlen. Die nötigen Gebühren konnte sich Idris allerdings nicht leisten und musste deshalb Kolleginnen und Kollegen in wohlhabenderen Ländern bitten, die Daten vor der Wahl mit ihr zu teilen – was ihr jedoch weniger Spielraum ließ, um mit den Suchparametern zu experimentieren.

Im etwa 13 000 Kilometer entfernten Seattle untersuchen die Informatikerin Kate Starbird und ihre Kollegen von der University of Washington, wie sich Gerüchte in sozialen Medien verbreiten. Bei der letzten Präsidentschaftswahl vier Jahre zuvor hatte es in ihrem E-Mail-Postfach vor Ratschlägen und Anfragen nach Zusammenarbeit gewimmelt. Doch obwohl sich die Vereinigten Staaten auf die nächste Wahl im November 2024 zubewegen, ist es in diesem Jahr viel ruhiger, sagt sie.

2024 ist ein Superwahljahr: Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen Wahlen stattfinden. In der Zwischenzeit nimmt die Reichweite der sozialen Medien zu, zudem werden generative KI-Tools (die unter anderem Deepfakes erzeugen können) immer zugänglicher und leistungsfähiger. Bei der Untersuchung der Frage, wie sich diese Faktoren auf Wahlen auswirken, stehen Fachleute so schlecht da wie seit Jahren nicht mehr. »Am Ende des Jahres 2024 werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit viel weniger darüber wissen, was passiert ist, als im Jahr 2020«, sagt der Sozialwissenschaftler Joshua Tucker von der New York University. Er fügt jedoch hinzu, dass Wissenschaftler, wie Idris und Starbird, stets Wege finden, die Probleme zu umgehen. »Forschende sind kreativ.«

Ein neues EU-Gesetz macht Hoffnung

In Europa ist man zuversichtlicher. Dort stehen 2024 in neun Ländern sowie in der Europäischen Union selbst Parlamentswahlen an. Grund für den Optimismus ist der am 17. Februar 2024 in Kraft getretene Digital Services Act (DSA) der EU, ein umfassendes Gesetz, das die Verbreitung von Desinformation eindämmen soll. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Forschende Zugang zu Daten von Social-Media-Plattformen erhalten, um die Risiken zu untersuchen, die von sozialen Medien in Europa ausgehen.

»Ich setze große Hoffnungen in den DSA«, sagt der Sozialwissenschaftler Philipp Lorenz-Spreen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Doch aktuell wissen die Fachleute nicht, wie diese Bestimmungen umgesetzt werden. Es ist unklar, welche Art von Daten zur Verfügung gestellt werden müssen, welche Forschung für einen Zugang in Frage kommt und ob die Daten es ermöglichen werden, die kommenden Europawahlen zu untersuchen.

In Ländern außerhalb der EU fragen sich Forschende, ob sie durch die DSA-Bestimmungen ebenfalls Zugriff auf die Daten erhalten. Zwar haben einige Anbieter, darunter Meta und X, die früheren Schnittstellen reaktiviert. Als Lorenz-Spreen jedoch einen Zugang beantragte, wollte X zunächst erfahren, wie sich seine Forschung auf Risiken – unter anderem für die öffentliche Gesundheit – sowie auf die Verbreitung illegaler Inhalte in der EU auswirken würde. Eine Antwort auf seinen Antrag ließ auf sich warten.

»Ich sorge mich um die Zukunft des Fachgebiets«Daniel Kreiss, Journalismus- und Medienprofessor

Dennoch hoffen Forscherinnen und Forscher außerhalb der EU, dass der DSA es ihnen ermöglicht, Daten zu beschaffen – oder dass andere Länder nachziehen und ähnliche Gesetze einführen. »Es eröffnen sich Möglichkeiten«, sagt Maria Elizabeth Grabe, die an der Boston University in Massachusetts Falschinformationen und Desinformationen untersucht. »Wir sind recht aufgeregt.«

In den Vereinigten Staaten seien die Auswirkungen des politischen Drucks auf das Forschungsfeld jedoch spürbar, erklärt sie. Grabe befürchtet, dass Geldgeber vor Forschungsarbeiten zurückschrecken, die das Wort »Desinformation« enthalten, um Kritik – oder gar rechtliche Schritte – von Technologieunternehmen zu vermeiden. Das ist nicht unrealistisch, meint Daniel Kreiss, Professor an der School of Journalism an der University of North Carolina. »Die meisten von uns lassen sich davon nicht einschüchtern«, sagt er. »Aber ich sorge mich um die Zukunft des Fachgebiets und um die Leute, die ohne den Schutz einer Festanstellung dastehen.«

Kreative Umwege

Trotz der anhaltenden Herausforderungen wächst die Gemeinschaft der Forschenden, die die gesellschaftlichen Auswirkungen der sozialen Medien untersuchen, weiter an, sagt die Forscherin für politische Kommunikation Rebekah Tromble von der George Washington University. Hinter den Kulissen erforschen Fachleute neue Arbeitsmethoden, erklärt Starbird. Sie entwickeln Analysetechniken für online geteilte Videos und versuchen, die erschwerten Datenzugänge zu umgehen. »Wir müssen lernen, wie wir aus begrenzten Datenbeständen Erkenntnisse gewinnen können«, sagt sie. »Das bietet Möglichkeit für Kreativität.«

Einige Fachleute greifen auf qualitative Methoden wie gezielte Befragungen zurück, um zu untersuchen, wie sich die sozialen Medien auf das politische Verhalten auswirken. Andere bitten Nutzerinnen und Nutzer, ihre Daten zu spenden, etwa mit Hilfe von Browsererweiterungen. Tucker zahlte hingegen Freiwilligen eine geringe Gebühr, damit sie eine bestimmte Social-Media-Plattform nicht mehr nutzten, und ermittelte dann über Umfragen, wie sich der Verzicht auf ihre Fähigkeit, Wahrheit von Fiktion zu unterscheiden, ausgewirkt hat. Tucker hat solche Versuche in Bosnien, Zypern und Brasilien durchgeführt und plant, sie auf Südafrika, Indien und Mexiko auszuweiten, wo 2024 Wahlen stattfinden.

»Wir wissen viel mehr über die Auswirkungen der sozialen Medien auf Wähler aus den USA als anderswo«Philip Howard, Sozialwissenschaftler

Die meisten Untersuchungen zum politischen Einfluss sozialer Medien wurden jedoch in den Vereinigten Staaten durchgeführt. Doch die Erkenntnisse sind nicht unbedingt auf andere Länder übertragbar, sagt der Sozialwissenschaftler Philip Howard, Leiter des International Panel on the Information Environment, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Zürich, der Forscher aus 55 Staaten angehören. »Wir wissen viel mehr über die Auswirkungen der sozialen Medien auf Wähler aus den USA als anderswo«, sagt er.

Das kann den Blick auf die Geschehnisse in verschiedenen Regionen verzerren, sagt Ross Tapsell, der an der Australian National University in Canberra digitale Technologien untersucht. So konzentrieren sich westliche Forschende und Geldgeber oft darauf, wie ausländische Akteure die sozialen Medien in Südostasien beeinflussen. Laut Tapsell sorgen sich südostasiatische Fachleute jedoch mehr über lokale Quellen von Fehlinformationen, die beispielsweise von Buzzern ausgehen. Die indonesischen Buzzer haben auch Analoga auf den Philippinen (»Trolle«) und in Malaysia (»Cybertrooper«).

Da es an relevanten und umfassenden Daten über den Einfluss von Falschinformationen bei Wahlen mangelt, können sich widersprüchliche, auf Anekdoten basierende Annahmen in den Vordergrund drängen, sagt der Informatiker Paul Resnick von der University of Michigan in Ann Arbor. »Anekdoten können irreführend sein«, warnt er.

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