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Quantenchromodynamik: Die Entschlüsselung der starken Kernkraft

Die starke Kernkraft bindet Protonen und Neutronen aneinander und führt so zu stabilen Atomkernen. Doch wie groß ist die stärkste aller Kräfte wirklich?
Pünktchen in der Mitte, die von einer Art Feuerwerk umgeben sind
Ohne starke Kernkraft gäbe es keine Materie. Lange Zeit galt sie als die am wenigsten verstandene der vier Grundkräfte.

Sie hält unsere Welt im Innersten zusammen: Die starke Kernkraft verbindet Quarks zu Protonen und Neutronen und schweißt diese wiederum zu Atomkernen zusammen. Damit auch größere Kerne mit mehreren positiv geladenen Protonen stabil bleiben, muss die starke Kernkraft deren gegenseitige elektrische Abstoßung überwinden. Das gelingt ihr mühelos, schließlich ist sie von den vier Grundkräften der Natur mit Abstand die stärkste: Sie wirkt 100 Billionen Billionen Billionen Mal stärker als die Schwerkraft.

Zudem ist sie die geheimnisvollste aller vier Kräfte. Fachleute können zwar ungefähr abschätzen, wie sie im Vergleich zu den anderen Grundkräften wirkt, aber die genaue Stärke der starken Kernkraft ist bis heute nicht bekannt. Die Gravitation, der Elektromagnetismus und die schwache Kernkraft sind sowohl experimentell als auch in theoretischen Modellen viel besser untersucht.

Die Stärke einer Kraft wird durch die »Kopplungskonstante« angegeben. Wenn man beispielsweise herausfinden möchte, wie sehr sich zwei elektrische Ladungen abstoßen, bildet man das Produkt aus beiden Ladungen, teilt es durch das Quadrat ihrer Entfernung und multipliziert das Ganze mit der Coulomb-Konstante, der elektromagnetischen Kopplungskonstante. Die Größe der Ladungen sowie die Distanz der zwei Objekte sind von Situation zu Situation unterschiedlich. Doch für die Coulomb-Konstante setzt man in der Regel immer denselben Wert ein: 14πε0. Sie spiegelt die Stärke der elektromagnetischen Kraft wider, denn sie gibt an, wie Ladungen aufeinander reagieren. Ihr Wert konnte inzwischen schon sehr genau bestimmt werden.

Die Gravitationskonstante für die Schwerkraft und die Kopplungsstärke für die schwache Kernkraft sind mittlerweile ebenfalls recht gut untersucht. Anders verhält es sich mit der starken Kernkraft. Ihre Kopplungskonstante αs blieb lange Zeit rätselhaft. Die besten Messungen waren 100 Millionen Mal ungenauer als die der elektromagnetischen Kopplung.

Und es kommt noch schlimmer: Selbst dieser Grad an Unsicherheit war nur in dem Wirkungsbereich der starken Kraft bekannt, der am einfachsten zu untersuchen ist – bei extrem hohen Energien, die lediglich in großen Teilchenbeschleunigern erreicht werden. Bei den niedrigeren Energien, die für die Welt um uns herum relevant sind, wächst αs scheinbar ins Unermessliche. Bis vor Kurzem gab es überhaupt keine experimentellen Messungen von αs bei moderaten Energiebereichen. Die theoretischen Vorhersagen waren ebenfalls wenig hilfreich; sie deckten die gesamte Spanne von null bis unendlich ab.

Was eine Kraft stark macht

Falls Sie sich jetzt wundern, warum eine Konstante überhaupt veränderlich ist: Anders, als man vermuten könnte, sind Kopplungsstärken keine wirklichen Konstanten. Je nachdem, welchen Energiebereich man betrachtet, nimmt die Kopplung unterschiedliche Werte an – das ist bei allen vier Grundkräften so. Doch keine Kopplungsstärke schwankt derart wie αs.

Es ist gerade die Stärke der starken Kraft, die ihre Erforschung in vielerlei Hinsicht schwierig macht. Die Theorie, die ihre Funktionsweise beschreibt, heißt Quantenchromodynamik. Die Bezeichnung deutet schon darauf hin, dass sie sehr kompliziert ist. In der Regel ist es unmöglich, genaue Vorhersagen aus ihr abzuleiten, unter anderem deshalb, weil der Träger der starken Kraft – ein Teilchen namens Gluon – mit sich selbst wechselwirkt. Das ist im Elektromagnetismus beispielsweise anders: Dessen Vermittler, das Photon, besitzt keine elektrische Ladung. Dadurch können Photonen nicht direkt miteinander interagieren.

Das Gluon besitzt hingegen eine Ladung, die für die starke Kraft relevant ist: eine so genannte Farbladung. Und wie sich herausstellt, geraten die Wechselwirkungen von Gluonen schnell außer Kontrolle. Die mathematischen Terme, die solche Prozesse beschreiben, nehmen riesige Werte an und werden ausgesprochen komplex. Daher ist die starke Kraft trotz ihrer Bedeutung für die Kernphysik und den Aufbau unserer Welt bei Fachleuten nicht immer beliebt. Stattdessen betrachten viele den Bereich, in dem die starke Kraft wirklich stark ist, als »Terra damnata« (auf Deutsch: verfluchtes Land) – etwas, was man um jeden Preis meiden sollte.

Die starke Kernkraft unter der Lupe | Für Physikerinnen und Physiker war die stärkste Kraft der Natur lange Zeit ein Rätsel. Die starke Kernkraft bindet die Teilchen in den Atomkernen aneinander. Jahrzehntelang versuchten Fachleute zu verstehen, wie sich diese Kraft auf verschiedenen Größenskalen äußert. Dank der wissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre ist es nun möglich zu erklären, wie die Kraft zu ihrer Stärke kommt und wie sie zur sichtbaren Masse im Universum beiträgt.

Dabei ist das Verständnis der starken Kernkraft unerlässlich, um die uns umgebende Materie zu erklären. Tatsächlich ist diese Kraft für etwa 99 Prozent der Masse im sichtbaren Universum verantwortlich (das verbleibende eine Prozent stammt vom Higgs-Boson). Und jetzt, nach einem halben Jahrhundert Bemühungen, haben Fachleute endlich begonnen, einige ihrer Geheimnisse zu enthüllen.

Einer von uns (Deur) hat kürzlich die ersten Messungen vorgenommen, um herauszufinden, wie sich αs innerhalb der Terra damnata verändert. Und die beiden anderen (Brodsky und Roberts) haben unabhängig voneinander neue theoretische Vorhersagen entwickelt, um die experimentellen Ergebnisse zu erklären. Inzwischen beginnt die Terra damnata etwas einladender auszusehen. Damit sind wir endlich in der Lage, Aspekte der Quantenchromodynamik direkt aus den grundlegendsten Prinzipien der Theorie abzuleiten.

Eine Konstante, die gar nicht konstant ist

Die Änderung von Kopplungskonstanten hat mit einem seltsamen Konzept der Quantenphysik zu tun, das als Vakuumpolarisation bekannt ist. Die Quantentheorie hat gezeigt, dass selbst das Vakuum nie völlig leer ist. In Wirklichkeit tauchen immerzu Teilchenpaare aus dem Nichts auf, die sogleich wieder verschwinden. Dieser kurzlebige Zyklus aus Entstehung und Vernichtung wird als »Quantenschleife« bezeichnet. Im Gegensatz zu realen Partikeln lassen sich Quantenschleifen nicht direkt messen – ihre Auswirkungen allerdings schon.

Als Physiker das Konzept von Quantenschleifen erstmals entdeckten, war das aus mathematischer Sicht eine unangenehme Überraschung. Denn diese erzeugen unendliche Größen – ein klares Zeichen dafür, dass mit der Theorie etwas nicht stimmt. Glücklicherweise fanden Fachleute einen Weg, um diese Unendlichkeiten zu zähmen. In der Quantenchromodynamik (kurz QCD), die sich der starken Kernkraft widmet, beeinflussen die Quantenschleifen das Verhalten von Gluonen und bestimmen damit, wie stark sich αs mit dem Abstand zwischen den Quarks ändert. Je kleiner dieser ist, desto größere Energiemengen sind erforderlich, um Quantenschleifen aufzulösen. Und da Letztere je nach Längenskala häufiger oder seltener auftauchen, hängen auch die Werte der Kopplungskonstanten von der Längen- beziehungsweise Energieskala ab. Damit sind sie nicht mehr konstant.

Bei den meisten Grundkräften ändert sich die Kopplung nur sehr langsam mit der Größenskala. So nimmt zum Beispiel die Coulomb-Konstante von den kleinsten in Teilchenbeschleunigern erforschbaren Entfernungen bis hin zu beobachtbaren Distanzen um rund zehn Prozent ab. Bei der starken Kopplung αs sind die Veränderungen hingegen enorm: Selbst in dem Bereich, in dem Physiker αs problemlos berechnen können (das heißt weit entfernt von der Terra damnata), ändert sich ihr Wert um mehrere Größenordnungen.

Und die starke Kraft fällt mit noch einer weiteren seltsamen Eigenschaft auf: Im Gegensatz zur elektromagnetischen Kopplung nimmt sie mit der Entfernung zu. Wenn man versucht, zwei Quarks in einem Proton auseinanderzuziehen, wird die Anziehung zwischen ihnen mit wachsendem Abstand immer stärker. Sie wird sogar so stark, dass es unmöglich ist, Quarks voneinander zu trennen. Darum kann man niemals ein einzelnes Quark beobachten. Gleiches gilt für die Wechselwirkungen zwischen Quarks und Gluonen sowie für die zwischen Gluonen.

Bei kurzen Längenskalen, also hohen Energiebereichen, nimmt die Kopplung der starken Kernkraft ab: Je näher man zwei Quarks zusammenführt, desto lockerer sind sie aneinander gebunden. Der kleine Wert von αs bei kurzen Entfernungen wird als »asymptotische Freiheit« bezeichnet, eine Entdeckung, für die David Gross und Frank Wilczek 2004 den Nobelpreis für Physik erhielten.

Kopplungsstärke | Während die elektromagnetische Kraft mit wachsendem Abstand schwächer wird, nimmt die starke Kernkraft über längere Distanzen zu.

Möchte man den Wert von αs bei sehr geringen Entfernungen bestimmen, kann man daher dieselben Berechnungsmethoden nutzen wie für die relativ schwache elektromagnetische Kraft. Schon bei Längenskalen wie dem Durchmesser eines Protons funktionieren jene Methoden für die QCD jedoch nicht mehr. Selbst wenn dieser Wert nach alltäglichen Maßstäben immer noch winzig wirkt (ein Proton ist 50 000-mal kleiner als ein Atom), ist er aus teilchenphysikalischer Sicht geradezu gewaltig. Das Problem ist, dass αs zu schnell wächst und die gewöhnlichen Berechnungstechniken deshalb versagen: Ihnen zufolge nimmt αs bei vergleichsweise größeren Distanzen unendliche Werte an. Aber aus dieser Unendlichkeit, dem so genannten Landau-Pol, folgt nur, dass die Theorie hier nicht mehr gilt. Das Ergebnis sagt nichts über die starke Kraft an sich aus. Der Bereich, an dem die theoretischen Modelle zusammenbrechen, ist die bereits erwähnte Terra damnata.

Da die üblichen Berechnungsmethoden nicht funktionieren, verfolgten Physiker andere Strategien, allerdings ohne Erfolg. Die Modelle sagten für αs bei großen Distanzen unterschiedliche Werte voraus, die sich von null bis unendlich erstreckten – und hatten somit keine Vorhersagekraft. Die Fachleute steckten in einer Sackgasse.

Doch nun ist dank umfassender Anstrengungen endlich ein Durchbruch gelungen. Die Geschichte entfaltet sich in drei Etappen, in denen jeder von uns eine Rolle gespielt hat.

Ein großer Zufall

Der erste entscheidende Fortschritt begann Ende der 1990er Jahre mit einem Zufall. Damals war Deur Doktorand an der Thomas Jefferson National Accelerator Facility (am Jefferson Lab) in Virginia und untersuchte am dortigen Teilchenbeschleuniger verschiedene Prozesse am Übergang zur Terra damnata. Deur hatte zwar vom Landau-Pol gehört, aber ihm war nicht klar, dass diese Unendlichkeit nicht real ist. Darum war er überrascht, als er in seinen Experimenten einen fast konstanten endlichen Wert von αs vorfand. Die Messdaten waren völlig gleichmäßig, ohne Anzeichen dafür, dass αs ins Unermessliche wachsen würde.

Messungen am Jefferson Lab | Neue Messungen verdeutlichen, dass die starke Kernkraft mit wachsender Distanz zwar zunimmt, aber nicht bis ins Unendliche anwächst.

Die Messungen schienen seine erfahrenen Kollegen nicht zu stören, die es gewohnt waren, ähnliche Daten zu sammeln. Weil Studierende jedoch nur eine bestimmte Anzahl von naiven Fragen stellen können, bevor sie die Aufmerksamkeit der Experten erschöpfen, fügte Deur diese Tatsache der langen Liste von Dingen hinzu, die er nicht verstand. Vielleicht würde er eines Tages eine Antwort darauf finden, dachte er und setzte seine Experimente fort.

Einige Jahre später nutzte Deur seine Daten und andere Messungen aus dem Jefferson Lab, um das so genannte Bjorken-Integral zu bestimmen. Die nach dem Physiker James Bjorken benannte Größe hängt mit dem Spin (einer quantenphysikalischen Größe, die dem Drehimpuls ähnelt) der Quarks im Inneren von Protonen und Neutronen zusammen. Tatsächlich bietet das Bjorken-Integral allerdings auch eine relativ einfache Möglichkeit, um αs zu berechnen – zumindest solange man sich von der Terra damnata fernhält.

Deur konnte mit seinen experimentellen Daten und dem Integral also αs für kurze Entfernungen bestimmen. Da er neugierig und experimentierfreudig war, prüfte er noch, was die Formel für große Distanzen vorhersagen würde. Das machte er nur zum Spaß: Er wusste, dass er die Antwort nicht ernst nehmen durfte, da das Bjorken-Integral bloß für sehr kurze Abstände gilt. Wie sich aber herausstellte, lieferte das Integral Werte von αs, die sich nicht allzu stark mit wachsender Entfernung verändern. Stattdessen hörte die Kopplung irgendwann auf zu wachsen und nahm einen konstanten Wert an.

Der junge Forscher erzählte seinem damaligen Betreuer Jian-Ping Chen vom Jefferson Lab davon. Dieser bemerkte, dass Deurs Ergebnisse einigen theoretischen Vorhersagen ähnelten, die er schon einmal gesehen hatte. Bei der Durchsicht früherer Studien fand Deur andere Fälle, in denen die Kopplungen bei großen Entfernungen konstant wurden, ähnlich wie bei ihm. Vielleicht enthüllte seine spielerische αs-Berechnung ja doch das echte Verhalten der starken Kraft?

Inzwischen ist bekannt, dass sich das Bjorken-Integral hervorragend für die Berechnung von αs bei großen Distanzen eignet – das war bis dahin allerdings niemandem aufgefallen. Während sich die meisten Experimente darum drehen, wie mehrere Quarks miteinander wechselwirken, filtert das Bjorken-Integral solche Multiquark-Prozesse heraus und gibt so die Eigenschaften einzelner Quarks preis. Das ermöglicht eine Bestimmung von αs. Man braucht jedoch die richtigen Messdaten, um die Variablen innerhalb des Integrals richtig anzugeben. Tatsächlich würde die Berechnung von αs mit fast jeder Art von Messdaten fehlschlagen – Deur hatte einfach Glück, dass er das passende Experiment durchgeführt hatte.

Von fünf Dimensionen zur starken Kraft

Deur haderte zunächst mit der Idee, sein Ergebnis auf Physikkonferenzen vorzustellen – er befürchtete, sich lächerlich zu machen. Schließlich schienen seine Messungen der vorherrschenden Meinung zu widersprechen. Aber er rang sich dazu durch, es zu riskieren. Brodsky nahm zufällig an einer dieser Konferenzen teil und beschloss, Deur dabei zu helfen, seine Arbeit auf eine solidere theoretische Grundlage zu stellen. Das war der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit, die bis heute andauert.

Während Deur αs im Labor untersuchte, entwickelte Brodsky mit seinen Kollegen Guy de Téramond Peralta und Hans Günter Dosch eine neue Methode, um QCD-Eigenschaften bei großen Entfernungen zu berechnen. Dazu nutzten sie ein mathematisches Verfahren, das als Holografie bekannt ist und bei der Untersuchung Schwarzer Löcher verwendet wird. Wie sich herausstellte, lassen sich mit holografischen Methoden auch Erkenntnisse über die starke Kernkraft gewinnen.

Indem man die Schwerkraft in fünf Dimensionen untersucht, kann man herausfinden, wie sich αs in einer vierdimensionalen Raumzeit verhält. Ob das fünfdimensionale Modell, das dieser Methode zu Grunde liegt, die reale Welt widerspiegelt, spielt keine Rolle. Es dient nur als mathematisches Hilfsmittel, da die Berechnungen damit einfacher durchzuführen sind. Jener neuartige Ansatz für die Physik der starken Kraft, die so genannte Lichtfront-Holografie, könnte αs für große Entfernungen bestimmen – und damit vorhersagen, wie Quarks und Gluonen in Nukleonen wechselwirken.

Brodsky und de Téramond Peralta tauschten sich mit Deur aus, um αs mit der holografischen Methode zu berechnen. 2010 veröffentlichten sie ihr Ergebnis: Das holografische αs stimmte hervorragend mit den experimentellen Daten von Deur überein.

Holografie-Berechnungen | Eine neue Berechnungsmethode kann den Verlauf der am Jefferson Lab gemessenen Datenpunkte wiedergeben.

Die Holografie ist ein spannender, neuartiger Ansatz für die Quantenchromodynamik – aber sie entspricht ihr nicht exakt. Holografische Methoden können die starke Kernkraft zwar gut modellieren, doch bisher wurde noch keine Äquivalenz zwischen dem Verhalten der Gravitation in fünf Dimensionen und der QCD in der vierdimensionalen Raumzeit bewiesen.

Um wirklich verkünden zu können, dass wir αs für große Entfernungen bestimmt haben, benötigten wir eine QCD-basierte Berechnung. Daher lag es nahe, sich den Bewegungsgleichungen der QCD zu widmen.

Was sagt die QCD?

Deur veröffentlichte seine ersten Ergebnisse zu αs 2005, vor fast 20 Jahren. Schon damals fragte sich Roberts, was diese Messung, die bloß einen einzigen QCD-Prozess untersuchte, für die QCD an sich bedeuten könnte. Denn die Theorie benötigt eine universelle Kopplung, die für alle möglichen Vorgänge gleich ist. Da er keine Antwort darauf fand, widmete er sich anderen Dingen.

Während einer Tagung in Trient neun Jahre später kehrte er zu Deurs Ergebnis zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Fachleute zwei parallele Strategien verfolgt, um αs mit Hilfe der QCD-Bewegungsgleichungen zu verstehen. Der »Top-down«-Ansatz versucht, die Kopplung durch die Eigenschaften von Gluonen mathematisch vorherzusagen. Der »Bottom-up«-Ansatz zielt hingegen darauf ab, durch den Vergleich mit experimentellen Daten auf αs zu schließen.

Auf dieser Tagung in Trient wies ein Kollege darauf hin, dass die beiden Ansätze sehr unterschiedliche Ergebnisse lieferten, die sich nicht miteinander in Einklang bringen ließen. Er wusste jedoch nichts von den jüngsten Fortschritten beim Bottom-up-Ansatz, die Roberts zusammen mit dem Physiker Lei Chang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften erzielt hatte. Innerhalb von 24 Stunden hatten die beiden Forscher eine neue Bottom-up-Schätzung von αs entwickelt. Sie teilten diese mit den zwei führenden Vertretern des Top-down-Bereichs, Daniele Binosi und Joannis Papavassiliou, die ebenfalls an der Tagung teilnahmen. Gemeinsam erkannten die Physiker, dass die Top-down- und die Bottom-up-Ergebnisse für αs zusammenpassten.

Damit blieb nur noch eine Frage offen: Wie lassen sich die Messung von Deur und die Bestimmung von αs aus den QCD-Bewegungsgleichungen miteinander verbinden?

Alle losen Enden werden verknüpft

Roberts tauschte sich mit José Rodríguez-Quintero aus, der schon lange am Top-down-Ansatz arbeitete und Zugang zu QCD-Computersimulationen hatte. Nach einigem Hin und Her konnten die Forscher zusammen mit Binosi, Papavassiliou und Cédric Mezrag im Jahr 2017 eine universelle QCD-Kopplung berechnen: ein αs, das für jeden QCD-Prozess gilt. Nicht nur das – dieses mathematische Ergebnis deckt sich auch erstaunlich gut mit den Daten von Deur und den Holografieberechnungen von Brodsky und seinen Kollegen.

Bewegungsgleichungen der QCD | Die Bewegungsgleichungen der Quantenchromodynamik – die Quantenfeldtheorie der starken Kernkraft – kann ebenfalls den Verlauf der gemessenen Datenpunkte beschreiben.

In den folgenden zwei Jahren verfeinerten die Fachleute ihre theoretischen Ergebnisse und konnten zeigen, dass diese außerhalb der Terra damnata mit 99-prozentiger Genauigkeit mit den Daten von Deur übereinstimmen. Innerhalb der Terra damnata entdeckten sie komplexe Wechselwirkungen zwischen Quarks, die Deurs Ergebnis hätten verfälschen können. Aber Deur hatte zufällig einen Prozess gemessen, dessen Kopplung am besten zu den QCD-Bewegungsgleichungen passt – in diesem Spezialfall heben sich die Quark-Wechselwirkungen im Bjorken-Integral auf.

Damit haben wir nun endlich sowohl überzeugende Messungsdaten als auch theoretische Berechnungen von αs, die den gesamten Größenbereich abdecken – einschließlich der Terra damnata. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass die Kopplung irgendwann aufhört zu wachsen und die Konstante für große Distanzen tatsächlich konstant wird. Das hat weit reichende Folgen.

So lassen sich nun viele Größen bestimmen, die zuvor aus mathematischer Sicht unerreichbar waren. Die meisten Phänomene im Zusammenhang mit der starken Kraft – von der Struktur der Atome, aus denen wir bestehen, bis zum Innenleben von Neutronensternen – hängen von αs ab. Da diese Kopplung durch ihr Verhalten über weite Entfernungen dominiert wird, eröffnet sich eine große Bandbreite möglicher Berechnungen.

Zudem tragen die Lösungen der QCD-Bewegungsgleichungen dazu bei, den Ursprung von 99 Prozent der sichtbaren Masse in unserem Universum aufzuklären. Diese Masse besteht aus Atomen, also zum größten Teil aus Protonen und Neutronen, die zusammen auch Nukleonen genannt werden. Doch woher nehmen die Nukleonen ihre Masse? Die Quarks, aus denen sie bestehen, sind extrem leicht. Laut unseren Ergebnissen sind Quarks von Wolken aus Gluonen umgeben, die eine enorme Bindungsenergie besitzen. Und Letztere ist für den Großteil der Masse der Nukleonen verantwortlich. Wenn Sie also 80 Kilogramm wiegen, dann lassen sich mehr als 79 davon mit der Quantenchromodynamik erklären; insbesondere durch den Mechanismus, der αs zu einer Konstante einfriert. Das Higgs-Boson trägt nur den kleinen Rest bei: über die winzige Masse, die Quarks und Elektronen von sich aus besitzen.

Die konstante Natur von αs bei großen Entfernungen macht die QCD außerdem zur ersten vollständigen Quantenfeldtheorie, die nur endliche Größen vorhersagt. Alle anderen bekannten Quantenfeldtheorien – einschließlich der Quantenelektrodynamik für die elektromagnetische Kraft – stoßen bei hohen Energien auf unendliche Landau-Pole, die sich bisher noch nicht beseitigen ließen. Vielleicht liefert damit die QCD den Schlüssel, um die letzten Rätsel der Teilchenphysik zu erklären.

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  • Quellen
Binosi, D. et al.: Process-independent strong running coupling. Physical Review D 96, 2017 Binosi, D. et al.: Bridging a gap between continuum-QCD and ab initio predictions of hadron observables. Physical Letters B 742, 2015 Deur, A. et al.: Nonperturbative QCD coupling and its 𝛽 function from light-front holography. Physical Review D 81, 2010 Mezrag, C. et al.: Effective charge from lattice QCD. Chinese Physics C 44, 2020 Roberts, C. D. et al.: QCD running couplings and effective charges. ArXiv 2303.00723, 2023

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