Interview: »Wachkoma-Patienten dürfen nicht instrumentalisiert werden«
Das Schicksal des französischen Wachkoma-Patienten Vincent Lambert hat in den vergangenen Jahren weltweit für Aufsehen gesorgt. Im Juli 2019 ist Lambert gestorben, nachdem kurz zuvor lebenserhaltende Maßnahmen eingestellt wurden. Der 42-Jährige war 2008 bei einem Motorradunfall schwer verletzt worden. Seiner Frau und auch den behandelnden Ärzten zufolge lag Lambert daraufhin im Wachkoma, während seine Eltern davon überzeugt waren, dass ihr Sohn auf Bilder und Stimmen reagierte. In einem Video, das sie ins Internet gestellt haben, sieht man zum Beispiel, wie er offenbar aufmerksam ein Telefongespräch verfolgt.
Herr Nacimiento, kann es sein, dass Vincent Lambert doch auf Bilder und Stimmen reagierte?
Patienten im Wachkoma können tatsächlich die Lippen bewegen, grimassieren, sogar lächeln. Man muss dabei aber unbedingt überprüfen, ob sich diese mimische Reaktion wiederholen lässt und ob sie wirklich in Bezug steht zu dem äußeren Reiz, der geboten wird. Kann ein Patient zum Beispiel sehen, würde man ihm ein Bild präsentieren, zu dem er einen emotionalen Bezug hat. Gibt es eine mimische Reaktion auf diesen Bezug, liegt er nicht im Wachkoma. Vincent Lambert wurde von sehr kompetenten Neurologen untersucht, die zwar zwischenzeitlich ein minimales Bewusstsein diagnostiziert haben, das jedoch in ein Wachkoma überging. Sie haben sich daher nach elf Jahren zu Recht darauf festgelegt, dass dieses Wachkoma unumkehrbar ist.
Angehörige kennen den Patienten jedoch in der Regel länger als die Ärzte und können daher vielleicht besser beurteilen, welche Regung willkürlich und welche reflexhaft ist.
Man muss die Beobachtungen der Angehörigen sehr ernst nehmen und immer wieder genau zuhören. Man muss sie aber auch relativieren hinsichtlich ihrer prognostischen Bedeutung. Im Fall der US-amerikanischen Patientin Terry Schiavo gab es vor 15 Jahren einen ähnlichen öffentlichen Streit mit höchst unredlicher Einmischung führender Politiker. Auch damals wurden Videos veröffentlicht, in denen die Patientin grimassiert, lächelt und die Augen aufreißt. Diese Reaktionen haben in der Öffentlichkeit in Bezug auf das diagnostizierte Wachkoma Unbehagen und Zweifel hervorgerufen, weil es nach einer echten emotionalen Regung aussah – was aber aus neurologischer Sicht nicht der Fall war. Die Veröffentlichung solcher Videoaufnahmen im Internet – von wem und mit welcher Intention auch immer initiiert – muss als massive Verletzung der Persönlichkeitsrechte und Entwürdigung dieser Patienten entschieden abgelehnt werden. Wachkoma-Patienten dürfen nicht in einem Medienspektakel für ideologische Grabenkämpfe oder politische Ambitionen instrumentalisiert werden.
Was bedeutet es, wenn jemand im Wachkoma liegt?
Das apallische Syndrom, wie man das Wachkoma auch nennt, ist hinsichtlich der zu Grunde liegenden Hirnschädigung unendlich vielfältig. Grundsätzlich handelt es sich um eine schwere Hirnfunktionsstörung, die mit einer Bewusstseinsstörung einhergeht. Bewusstsein kann man in zwei Dimensionen beschreiben: durch Wachheit zum einen und Wahrnehmungsfähigkeit zum anderen.
»Wenn der Patient den Blick einem lauten Geräusch zuwendet, ist das ein Orientierungsreflex, aber keine willkürliche Blickzuwendung«Wilhelm Nacimiento, Neurologe
Im Wachkoma ist die Wachheit erhalten – es lässt sich aber in einer klinischen Untersuchung nicht nachweisen, dass der Patient auch wahrnehmungsfähig ist. Es gibt also keine willkürlichen, reproduzierbaren Reaktionen auf äußere Reize wie Geräusche, Bilder, Berührungen oder Schmerz. Im Englischen nennt man diesen Zustand deshalb auch »vegetative state«. Die Hirnstrukturen für überlebenswichtige Funktionen sind erhalten: Bereiche, die Kreislauf, Atmung und Temperaturregulation steuern. Auch Reflexe, die im Hirnstamm oder im Rückenmark generiert werden, sind teilweise erhalten. Der Patient wendet dann zum Beispiel den Blick einem lauten Geräusch zu. Das ist ein Orientierungsreflex, aber keine willkürliche Blickzuwendung.
Heute setzen Forscher verschiedene bildgebende Verfahren ein, um Hinweise auf Bewusstsein bei einem Wachkoma-Patienten zu finden. Hat das den klinischen Alltag verändert?
Nein, für die klinische Untersuchung ist die Definition heute noch gültig. Mit zusätzlichen bildgebenden Verfahren wie quantitativer EEG-Analyse oder funktioneller Kernspintomografie lässt sich unter Umständen ein »verborgenes Bewusstsein« erfassen. Dabei kann man sehen, ob visuelle oder akustische Reize bestimmte Hirnbereiche aktivieren – vorausgesetzt, diese Hirnregionen sind noch intakt.
Diese Verfahren wurden in den vergangenen 20 Jahren entwickelt und haben den Begriff »Wachkoma« relativiert: Den Zustand dieser Patienten beschreibt man heute als »Syndrom der reaktionslosen Wachheit«. Im klinischen Alltag haben diese Verfahren aber eine untergeordnete Bedeutung, weil sie mit gewaltigem apparativem Aufwand verbunden sind. Das wird eher im wissenschaftlichen Sinne verfolgt. Wichtig ist immer die Abgrenzung zu dem, was sich im Übergang zum Wachkoma entwickeln kann: das Syndrom des minimalen Bewusstseins.
Was bedeutet »minimales Bewusstsein«?
Diese Patienten liegen bei oberflächlicher Betrachtung im Wachkoma, dabei verfügen sie über ein Bewusstsein, das durch klinische Untersuchungen teilweise zugänglich ist. Sie können zum Beispiel Blickkontakt aufnehmen, Augenfolgebewegungen durchführen oder einfache Aufforderungen befolgen. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass viele Patienten, die zum Teil über Jahre unter der Diagnose Wachkoma geführt worden sind, in Wirklichkeit das Syndrom des minimalen Bewusstseins haben. Einer Metastudie von vor drei Jahren zufolge könnte es sich bei etwa 40 Prozent aller Patienten mit diagnostiziertem Wachkoma um eine Fehldiagnose handeln.
Manchmal hört man auch von Menschen, die nach einem Unfall in ihrem eigenen Körper gefangen sind: Sie bekommen alles mit, können sich aber nicht äußern.
Dieses so genannte Locked-in-Syndrom ist von Koma und Wachkoma klar abzugrenzen. Ein Locked-in-Syndrom entsteht, wenn im Hirnstamm Nervenbahnen unterbrochen sind, die von der Großhirnrinde zum Rückenmark und zu den Hirnnervenkernen ziehen. Dieser Schaden entsteht meist durch einen Infarkt oder eine Blutung. Locked-in-Patienten können Wachkoma-Patienten auf den ersten Blick sehr ähnlich sein, sie können jedoch gezielte vertikale Augenbewegungen durchführen: nach oben und unten schauen, die Augen öffnen und schließen. Diese Patienten sind aber wach und komplett wahrnehmungsfähig, weil ihr Großhirn intakt ist. Mit den Augenbewegungen kann ein Code generiert werden, der eine komplexe Kommunikation oder gar mit technischen Mitteln Schreiben ermöglicht.
Welche Hirnschäden verursachen ein Wachkoma?
Das Wachkoma ist in dieser Hinsicht bei Weitem kein einheitliches Syndrom. Unzählige unterschiedliche Hirnschädigungen können dem zu Grunde liegen. Deshalb ist jeder Wachkoma-Patient vollkommen unterschiedlich zu bewerten in Hinblick auf seine Diagnose, seinen Zustand und die Dynamik, die sich daraus entwickeln kann. Die häufigsten Ursachen sind schwere Schädel-Hirn-Traumata und die so genannte hypoxische Hirnschädigung. Dabei haben Patienten häufig einen lang anhaltenden Herzstillstand erlitten, aus dem sie reanimiert werden konnten. Der Sauerstoffmangel hat jedoch zu einer globalen Schädigung des Gehirns geführt.
Der Übergang von Koma zu Wachkoma ist dann häufig graduell: Die Patienten sind wegen schwerer Hirnschädigungen anfangs im Koma, später öffnen sie die Augen, sind aber nicht reaktionsfähig. Je länger das Wachkoma anhält, desto schlechter ist die Prognose, dass die Wahrnehmung wiederhergestellt wird.
»Wie der Patient einen Reiz in dieser Situation subjektiv erlebt, kann man nicht beurteilen. Dahinter steckt auch die philosophische Frage, was Bewusstsein überhaupt ist«Wilhelm Nacimiento
Wie stellt man zweifelsfrei fest, dass kein Bewusstsein mehr vorhanden ist – dass jemand also wirklich nichts mehr wahrnimmt?
Das kann man in der klinischen Untersuchung nicht beweisen oder ausschließen. Apparative Untersuchungen können teilweise komplexe kognitive Funktionen zugänglich machen, doch immer unter der Voraussetzung, dass die dafür erforderlichen Hirnstrukturen noch erhalten sind. Das sind häufig isolierte Regionen, also nur Fragmente von neuronalen Netzwerken. Wie der Patient einen Reiz in dieser Situation subjektiv erlebt, kann man nicht beurteilen. Dahinter steckt auch die philosophische Frage, was Bewusstsein überhaupt ist – und wie es sich auf neurowissenschaftlicher Ebene durch Bildgebung darstellen lässt.
Wie stellt man bei diesen Patienten eine Reaktionsfähigkeit fest?
Das ist alles andere als einfach, denn schwer hirnverletzte Patienten sind oft Polytrauma-Patienten. Das heißt, sie haben zusätzlich viele andere Verletzungen. Bei der klinischen Untersuchung ist deshalb das genaue Ausmaß der Reaktionsfähigkeit auch davon abhängig, welche sensorischen und motorischen Fähigkeiten die Patienten noch haben.
Ein komplett gelähmter Patient wird auf äußere Reize nicht mit Bewegungen antworten können. Ein Patient, der blind ist, weil zum Beispiel die Sehrinde im Gehirn beschädigt wurde, wird auf optische Reize gar nicht reagieren können. Ein tauber Patient kann keine Stimmen verstehen. Das heißt, man muss bei der Untersuchung sehr genau hinterfragen, was für die Diagnose Wachkoma überhaupt praktikabel klinisch untersucht werden kann. Das war auch bei der Patientin in Bad Aibling der Fall.
Sie meinen die Patientin Munira Abdulla, die in der Schön Klinik in Bad Aibling behandelt worden ist. Sie war bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Im April 2019 hieß es, sie hätte nach 27 Jahren in einem wachkomaähnlichen Zustand wieder Reaktionen gezeigt.
Diese Patientin befand sich den publizierten Informationen zufolge eigentlich nicht im Wachkoma, sondern in einem Zustand minimalen Bewusstseins. In einer sehr guten, intensiven Reha-Behandlung wurde dieser Zustand in Bad Aibling optimiert. Die Patientin hatte zum Beispiel eine ausgeprägte Spastik der Extremitäten, die ihr jegliche Bewegungen nahezu unmöglich gemacht hat. Man hat dann die Spastik behandelt, so dass sie einfache Bewegungen wieder ausführen konnte. Nur durch derartige Maßnahmen kann so ein Patient wieder reagieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass er vorher im Wachkoma war. Durch ein minimales Bewusstsein sind elementare Antwortmöglichkeiten auf äußere Reize gegeben, deshalb kann man in solchen Fällen nicht von einem »Erwachen aus dem Wachkoma« sprechen.
»Dadurch wird eine falsche Erwartungshaltung aufgebaut: dass man Wachkoma-Patienten, die sich seit Jahren in dem Zustand befinden, wiedererwecken und heilen kann«Wilhelm Nacimiento
Angehörige von Wachkoma-Patienten schöpfen durch solche Berichte Hoffnung …
Ohne Frage handelt es sich um eine hervorragende Reha-Behandlung. Aber meiner Meinung nach hätte man damit nicht an die Öffentlichkeit gehen sollen, auch wenn das von der Familie der Patientin in diesem Fall initiiert wurde. Dadurch wird eine falsche Erwartungshaltung aufgebaut: dass man Wachkoma-Patienten, die sich seit Jahren in dem Zustand befinden, wiedererwecken und heilen kann. Das ist jedoch nicht der Fall. Da entsteht eine völlig falsche Hoffnung bei Familien, die ohnehin stark emotional belastet sind.
Trotzdem handelt es sich doch um einen Behandlungserfolg, oder?
Das muss man differenziert sehen. Man steht immer wieder vor der Frage: Was bedeutet es, wenn jemand wieder kontaktfähig ist, nachdem sich die Person jahrelang im Zustand des minimalen Bewusstseins befand? Die Patienten haben trotzdem bei Weitem keine Genesung erreicht. Auch die Patientin aus Bad Aibling ist nach wie vor schwerstkrank und wird für den Rest ihres Lebens schwerstpflegebedürftig bleiben.
Ich glaube, darin liegt ein fundamentales Missverständnis: Der Begriff »Erwachen« suggeriert einen Behandlungserfolg, der aber mitnichten verbunden ist mit Lebensqualität in unserem Verständnis. Das gilt ebenso für Wachkoma-Patienten, die sich im Verlauf »partiell erholen« und dauerhaft ein minimales Bewusstsein erlangen. Wenn die Patienten ihren Zustand auch nur in elementarster Form wahrnehmen können, bedeutet das für sie in vielen Fällen einen erheblichen Leidenszustand. Als Arzt muss man da sehr viel Behutsamkeit und Empathie in die Gespräche mit Angehörigen hineinbringen, wenn man die Prognose formuliert.
Wenn der Patient über ein minimales Bewusstsein verfügt, kann er aber doch seine Entscheidung über eine Behandlung mitteilen, oder?
Nicht mit der dafür erforderlichen Tragweite. Minimales Bewusstsein beinhaltet Verständnis auf allenfalls elementarster Ebene und schließt die Fähigkeit zu kritischer Abwägung weitestgehend aus. Man ist daher immer darauf angewiesen, dass es eine Patientenverfügung gibt oder dass der Patient zu gesunden Zeiten seinen erklärten Willen geäußert hat. Andernfalls sollte der mutmaßliche Wille eruiert werden.
Der Patientenwille steht über allem, das ist auch juristisch fest verankert und die Grundlage für Therapieentscheidungen. Es gibt natürlich Patienten, die trotz Wachkoma eine Chance haben, sich mit guter Lebensqualität wieder zu erholen. Das sind in aller Regel junge Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata, bei denen das Ausmaß der Hirnschädigungen aber überschaubar ist. Spontan fallen mir zwei Patienten aus unserer Klinik ein, beide um die 20 Jahre alt, die sich dank der Rehabilitationsbehandlung sehr gut erholt haben.
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