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Deutsche Sprache: Die Kuh ist gemelkt, der Zopf geflechtet, der Schatz gehebt

Sprache wandelt sich. Aber wohin genau geht die Reise? Im Fall der deutschen Verben geben bestimmte Regeln den Weg vor, während einige Wörter schon mitten im Wandel sind.
Ein Landwirt gießt Milch in einen Kanister.
Nachdem der Bauer die Kuh gemelkt hatte, gießte er die Milch in einen Kanister … Momentchen! Es muss doch »gemolken« und »goss« heißen? So ganz sicher ist das in Zukunft aber vielleicht nicht mehr.

Habe ich die Wäsche nun aufgehängt oder aufgehangen? Und hat mir mein Bekannter zugewinkt oder zugewunken? Viele deutschsprachige Menschen zögern, wenn sie diese oder ähnliche Verben verwenden – und fragen sich: Wie muss es denn korrekt lauten? Wer sich unsicher ist, hadert aber nicht unbedingt mit der deutschen Grammatik. Solche Unsicherheiten können auch Indizien für einen Sprachwandel sein. Unbestritten ist nämlich, dass sich Sprache fortwährend ändert. Und dabei folgt sie einigen Gesetzmäßigkeiten. So neigen Deutschsprechende dazu, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Bei den Tätigkeitswörtern ziehen sie eine Verbklasse ganz klar der anderen vor.

Grundsätzlich lassen sich deutsche Verben in zwei Klassen unterteilen: in solche, die stark, und solche, die schwach gebeugt werden. Die schwache Beugung oder Flexion wird gleichförmig gebildet und folgt diesem Muster: ich koche (Präsens), ich kochte (Präteritum), ich habe gekocht (Perfekt). Der Verbstamm »koch« bleibt also gleich. Bei starken oder unregelmäßigen Verben hingegen ändert sich nicht nur die Endung des Verbs, sondern auch der Stammvokal. Ein Beispiel: ich trinke, ich trank, ich habe getrunken. Daneben gibt es noch wenige so genannte gemischte Verben. Sie vereinen die starke und schwache Flexion, beispielsweise: ich bringe, ich brachte, ich habe gebracht. Wie bei den starken Verben ändert sich auch hier der Stammvokal, doch die Endung entspricht der schwachen Flexion.

Die große Mehrheit der deutschen Verben wird schwach, also regelmäßig gebildet. Der Sprachhistoriker Andreas Bittner von der Universität Hannover, der den Sprachwandel bei deutschen Verben erforscht hat, zählt im heutigen deutschen Sprachgebrauch etwa 4000 schwach flektierte Verben – dagegen folgen nur zirka 170 Tätigkeitswörter der starken Beugung. Die Zahl unregelmäßiger Verben ist demnach deutlich geringer als die der regelmäßigen, allerdings werden die wenigen starken Tätigkeitswörter viel öfter gebraucht als die schwachen.

Weshalb häufig verwendete Verben stark sind, selten gebrauchte aber schwach, hat sprachökonomische Gründe. Laut der Sprachwissenschaftlerin Damaris Nübling von der Universität Mainz bringen beide Flexionsklassen Vorteile: Regelmäßige Verben lassen sich bei Bedarf leichter zusammensetzen und damit einfacher bilden – man nehme den Verbstamm und füge für die Vergangenheit die Endung »te« an. Sprechende müssen also lediglich die Grundform kennen, aber keine zusätzlichen Formen auswendig lernen.

Oft gebrauchte, starke Tätigkeitswörter haben ebenfalls einen Vorzug. Ihre Formen sind kürzer und komprimierter; sie zu kennen und nutzen zu können, spart Zeit. Auch weil die Wörter nicht aus der Grundform abgeleitet werden müssen. Doch das gilt eben nur, wenn die Verben häufig vorkommen. Nübling zufolge ist sonst »ein hoher kognitiver Aufwand damit verbunden, wenn man selten vorkommende Formen wie ›küren‹ und ›kürte‹ fertig zusammengesetzt im Gedächtnis gespeichert hätte«. Für ebenjenes Wort wundert es daher nicht, dass die früheren Formen »kor« und »gekoren« außer Gebrauch gekommen sind.

Kinder bevorzugen schwache Verben

Dieses Phänomen lässt sich schon bei kleinen Kindern beobachten, die ihre Muttersprache erlernen. Sie meistern zuerst die Regeln der schwachen Verbbildung, anschließend beherrschen sie die starke Flexion. Deshalb neigen Kinder dazu, starke Verben regelmäßig zu bilden. Es entstehen Formulierungen wie »ich gehte« oder »ich habe ausgeschlaft«. Spracherwerbsforschende vermuten, dass Kinder ein mentales Schema bilden, indem sie bekannte Regeln auf andere Wörter übertragen. Und die regelmäßige Verbflexion eignet sich dafür besonders gut.

Beispielsweise signalisiert die Endung »te« wie in »hinkte«, dass es sich um etwas Vergangenes handelt. Dagegen würde die veraltete Form »hank« Deutschlernenden wohl deutlich schwerer fallen – sowohl Kindern beim Erwerb der deutschen Muttersprache als auch Menschen, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Denn eine solche irreguläre Form muss erst neu und zudem auswendig gelernt werden.

Bedeutet das langfristig, dass immer mehr Verben die Klasse wechseln, weil sie in ihrer regelmäßigen Form leichter zu verarbeiten sind? Dass das, was heute ein Fehler ist, in Zukunft zur Norm wird? Andreas Bittner ist überzeugt davon. Zumindest in gewissem Maß wird sich ihm zufolge die deutsche Sprache in diese Richtung entwickeln, auch wenn sicher nicht alle Verben irgendwann schwach gebeugt werden. Dennoch: »Der Übergang von starken, also kognitiv aufwändiger zu verarbeitenden Verben hin zu schwachen, die kognitiv weniger Aufwand bedeuten, setzt sich fort«, erklärt Bittner. Was aktuell ein Fehler ist, könnte demnach irgendwann nicht mehr als solcher empfunden werden. Dies ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts, sondern ist so in der Sprachgeschichte schon vielfach passiert.

Der Hund hat gebollen

Noch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) hat das Verb »bellen« stark gebeugt verwendet. Bei ihm bill der Hund, ball oder hat gebollen. Bereits im 19. Jahrhundert nutzte man dieses Verb dann ausschließlich regelmäßig flektiert, wie es bis heute der Fall ist.

Was wäre die deutsche Sprache ohne Sonderfälle? Ein solcher ist »winken«

Vor nicht allzu langer Zeit krisch die Frau noch laut auf – weil ihr Bein so stark schmarz, bis sie zum nächsten Arzt gehunken ist, wo sie sich in der Warteschlange einrieh. Den meisten Menschen kommen diese alten Formen vermutlich merkwürdig vor. Weil sich, wie das Beispiel zeigt, die deutsche Sprache fortwährend wandelt – konkret: Weitere Verben schwächen sich ab.

Andreas Bittner hat einige Übergangsformen ausgemacht, etwa für »glimmen«, »fechten«, »schallen« oder »flechten«. Für diese starken Tätigkeitswörter haben sich schwache Formen durchgesetzt oder diese verbreiten sich allmählich. Die wenigsten würden heute wohl noch sagen, die Glut »glomm« oder die Glocke »scholl«. Zudem existieren einige Verben mit Doppelformen. Für sie sind beide Flexionsklassen möglich, die regelmäßige Form setzt sich aber zunehmend durch. Zum Beispiel: Der Bauer »melkte« statt »er molk«, der Bäcker »backte« statt »er buk« und das Bier »gärte« statt »es gor«.

Die Sprachgeschichte zeigt: Verben, die aktuell zwei Formen aufweisen, werden über kurz oder lang schwach. Es sei denn, die beiden Formen übernehmen unterschiedliche Funktionen. Das Stichwort lautet hier Transitivität. Tätigkeitswörter, deren zugehöriges Objekt im Akkusativ steht, sind transitiv und werden in ihrer schwachen Form verwendet – wie in diesem Satz: Ich habe die Wäsche (das ist das Akkusativobjekt) aufgehängt. Daneben gibt es das Verb »hängen« auch als starkes Verb, wenn es intransitiv, also ohne Akkusativobjekt, verwendet wird: Die Wäsche hat gehangen. Da vielen Deutschsprechenden gar nicht bewusst ist, dass es zwei unterschiedliche Verwendungsweisen gibt, oder sie die beiden durcheinanderbringen, entstehen Formulierungen, die heute nicht als standardsprachlich gelten, wie: Ich habe die Wäsche aufgehangen – anstatt aufgehängt.

Ähnlich verhält es sich bei »erschrecken«. Es heißt korrekt – jedenfalls momentan ist dem so: Du hast sie (Akkusativobjekt) erschreckt, aber: Du bist erschrocken. Und ebenso habe ich mich (Akkusativobjekt) erschreckt, aber: Ich bin erschrocken.

Gewinkt oder gewunken?

Doch was wäre die deutsche Sprache ohne Sonderfälle? Ein solcher ist »winken«. Heißt es denn nun, ich habe gewinkt oder ich habe gewunken? Sprachhistorisch betrachtet sagte man in der Vergangenheit tatsächlich »winkte« und »gewinkt«, die Form »gewunken« ist später hinzugekommen. Wie Stephan Elspaß von der Universität Salzburg festgestellt hat, verhält es sich damit bei »winken« anders als bei den meisten anderen deutschen Verben. Die ursprünglich schwache Form scheint in eine starke überzugehen.

Dieses Phänomen erklärt der Germanist damit, dass die Sprechenden phonetische Analogien bilden. Die Stammmerkmale von »winken« ähneln solchen von Verben, die in ihren Lauten vergleichbar aufgebaut sind, etwa bei »sinken«, »trinken« oder »singen« und »klingen«. Diese Tätigkeitswörter bilden aber unregelmäßige Formen aus, sie sind stark. Doch weil sie ähnlich klingen wie »winken«, wenden Deutschsprechende sie auch auf »winken« an: Ich habe gewunken – was an »gesunken«, »getrunken« oder »gesungen« erinnert – statt ich habe gewinkt.

Allerdings hat sich diese Änderung offenbar nur für die Form im Partizip durchgesetzt; im Präteritum hält sich ziemlich hartnäckig das schwache »winkte«, es gibt nicht etwa »wank«. Nach heutigem Sprachempfinden sind jedenfalls beide Partizipien korrekt: Der Freund hat mir zugewinkt oder eben zugewunken.

Sterben starke Verben aus?

Auch wenn Kinder lieber schwache Verben bilden und sprachgeschichtlich viele starke Flexionsklassen schwach wurden, ist nicht zu befürchten, dass im Deutschen bald alle Tätigkeitswörter gleich gebeugt werden. Dafür läuft der Prozess vergleichsweise langsam ab – und dann sind da noch die Ausnahmen.

»Brech mir nicht das Herz«

Allerdings existieren Hinweise, welche Verben sich verändern könnten. Genauer gesagt, es gibt eine Reihenfolge: Den Anfang macht die Befehlsform (Imperativ), und am Ende steht das Partizip Perfekt. »Brech mir nicht das Herz« ist im gesprochenen Deutsch inzwischen häufiger zu hören als das korrekte »Brich mir nicht das Herz«. Eine Partizipform wie »gebrecht« ist deshalb aber längst noch nicht gebräuchlich.

In naher Zukunft erwarten Fachleute also nicht, dass Verben wie »brechen« komplett schwach werden, nur weil der umgangssprachliche Imperativ diese Tendenz zeigt. Zudem ist es eher unwahrscheinlich, dass sich unregelmäßige Verben wie beispielsweise »essen«, »trinken«, »geben« oder »sprechen« in absehbarer Zeit verändern werden. Dafür werden sie viel zu oft verwendet – und gerade deshalb können Sprechende sich diese Wörter besonders leicht merken und im Gehirn verankern. Außerdem ändert sich Sprache eben nicht nur strikt nach festen Regeln. Selbst wenn die Tendenz zur Schwächung starker Verben geht, liegt es auch an den Sprechenden, wie genau sich die deutsche Sprache wandelt.

Bittner ist der Ansicht, dass die Zeichen für einen tief greifenden Sprachwandel aktuell eher schlecht stehen: »Zwar wächst die Sensibilität für Sprache beispielsweise durch die Debatte zur gendergerechten Sprache«, erklärt Bittner, aber gleichzeitig diskutieren, ja streiten viele Menschen darüber, ob im Deutschen von Arbeiterinnen und Arbeitern, Arbeiter*innen, Arbeitenden oder einfach nur Arbeitern die Rede sein soll. Weil sich die Debatte um den Wandel an sich dreht, befassen sich viele mit der eigenen Sprache und der Frage, was korrektes Deutsch ist und was nicht. Das erzeuge »Unsicherheit und Normbeharrung, also keine Wandelakzeptanz, sondern Ablehnung«, sagt Bittner.

Die Debatte über gendergerechte Sprache tobt jedoch weniger über die Weiterentwicklung der Verben. Stark oder nicht stark, lautet ja die Frage. Dass seltener verwendete Verben, für die bereits zwei bedeutungsgleiche Beugungsformen existieren, gänzlich regelmäßig werden, ist nur eine Frage der Zeit. Bis es dann vielleicht heißt: Der Bauer melkte die Kuh, die Frau flechtete ihre Haare, und der Mann hebte die Münze auf.

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