Wiederansiedlung der Auster: Ein Eldorado am Nordseegrund
Eigentlich war es die Dampfmaschine, die den Europäischen Austern zum Verhängnis wurde. Mit reichlich Kraft und unabhängig vom Wind zogen die Nordseefischer nun schwere Schleppgeschirre über den Meeresgrund, stöberten auf, was am Grund lebte – Nordseegarnelen, Plattfische, Seelachse –, und trieben es in den unentrinnbaren Netztrichter.
Einträglich war das für die Fischer, verheerend aber für die Lebewesen in der Tiefe. Allen voran für eine Delikatesse, die schon die alten Römer, die Wikinger und selbst die steinzeitlichen Bewohner der Küsten Europas schäzten: Ostrea edulis, eine hellgraue, relativ flache und oft fast kreisrunde Muschel.
Spätestens um die Mitte des 20. Jahrhunderts war sie aus deutschen Gewässern verschwunden. Wer heute Austern bestellt, bekommt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die aus dem Pazifik stammende Verwandte der Europäerin vorgesetzt, eine zu kommerziellen Zwecken eingeführte Art, die sich in europäischen Gewässern inzwischen breitgemacht hat.
Nun soll ein Großprojekt deutscher Meeresforscher rückgängig machen, was rückgängig zu machen ist. Die Europäische Auster könnte bald auch in der deutschen Nordsee wieder heimisch werden. Das hat sich etwa Henning von Nordheim, Meeresbiologe von der Universität Rostock, vorgenommen. Von Nordheim leitete bis Anfang 2020 im Bundesamt für Naturschutz (BfN) die Abteilung Meeresnaturschutz und stellte dort in den 2010er Jahren ein Wiederansiedlungsprogramm auf die Beine. Der Startschuss für die entscheidende Phase ist nun gefallen: Seit dem Juli 2020 leben in der deutschen Nordsee, weit vor den Ostfriesischen Inseln, wieder junge Europäische Austern.
Überfischung und Schleppnetze zerstören die Austernpopulation
Über Jahrtausende hatten sich die Menschen vermutlich vor allem jene Austern geholt, die bei Ebbe nicht allzu tief unter Wasser hafteten. Doch bereits im 12. und 13. Jahrhundert wurde in Europa die Austernfischerei kommerziell betrieben. Das jedoch bekam den Beständen nicht gut, weil die großen, alten Muscheln, die bei Fischern und Käufern gleichermaßen begehrt waren, bevorzugt entnommen wurden. Genau diese Alttiere aber produzieren mit Abstand die meisten Nachkommen, gleichzeitig heften sich Jungmuscheln sehr gern an ihre Schalen.
Kein Wunder, dass schon am Ende des 18. Jahrhunderts in den tieferen Bereichen der Priele zwischen den Ostfriesischen Inseln und dem Festland immer weniger Austern gefangen wurden. Im 19. Jahrhundert musste die Austernfischerei dort aufgegeben werden.
Doch die Muscheln gab es ja noch woanders. Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten Fischer in der Deutschen Bucht südwestlich von Helgoland verlockende Fanggründe, die sich über ein gewaltiges Areal erstreckten – von Sylt bis vor die Küsten der Niederlande. Auf rund 21 000 Quadratkilometern, was der Landfläche von Hessen entspricht, wuchsen hier in einer Wassertiefe von gut 30 Metern »Tiefseeaustern«.
Artenvielfalt am Nordseeriff
Von einem »Eldorado des Lebens« spricht Henning von Nordheim. Aus alten Austern und den auf ihnen wachsenden nächsten Generationen entstanden nach und nach ausgedehnte Austernbänke. Im Schwarzen Meer wurden sie einst meterhoch, aber auch in der Nordsee erreichten sie beträchtliche Ausmaße. Genau wie die Korallen in den Tropen sind die Austern Ökosystemingenieure, die im Lauf der Zeit einen eigenen Lebensraum gestalten, in dem nicht nur sie selbst wohnen: Dort wachsen Seenelken, es krabbeln verschiedene Krebse umher, und für Plattfische, Grundeln und andere Fischarten bieten sie eine Kinderstube. »Völlig zu Recht werden die Austernbänke daher als Riffe der Nordsee bezeichnet«, sagt von Nordheim.
Vermutlich mehr als 100 Tierarten gaben sie ein Zuhause. Wie vielen genau und welchen, weiß jedoch niemand mehr. Die großen Austernbänke sind seit Langem Geschichte. Allenfalls in der Bretagne oder vor den britischen Küsten leben die Tiere noch in kleinen Klumpen. In den lukrativen Fanggründen der Deutschen Bucht wurde eine zusehends intensivere Fischerei betrieben. Mit speziell für den Austernfang konzipierten Schleppnetzen wurden die Austern an die Oberfläche geholt und die Riffe rasiert.
Aber die für den regulären Fischfang vorgesehenen Schleppnetze vernichteten den Lebensraum der Austern. Weil die Fischer mit ihnen Steine, Schalen toter Austern und sonstige feste Gegenstände aus der Tiefe holten, planierten sie den Meeresgrund. Die Austern fanden immer weniger Orte, an denen sie sich ansiedeln konnten.
Die Muschelbänke vor den Nordfriesischen Inseln überlebten ihre Entdeckung gerade mal ein paar Jahrzehnte. Ab den 1920er Jahren war der kommerzielle Austernfang in Deutschland tot, wenige Jahrzehnte später die Auster selbst.
Höchste Zeit sei es darum, die Austern in die Nordsee zurückzuholen, erklärt Henning von Nordheim. Bis diese Rückkehr abgeschlossen ist, dürften allerdings einige Jahrzehnte vergehen, vielleicht Jahrhunderte, bis wieder Riffe mit den Ausmaßen von einst entstanden sind.
Aus der Freiheit in die Anstalt
Die neue Gründergeneration stammt von den letzten Überlebenden in verschiedenen Atlantikregionen Europas ab. Dort lockten die Fischer bereits vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten nach dem Zusammenbrechen der küstennahen Wildbestände Babyaustern mit so genannten Kollektoren an. Das sind mit Kalk überzogene Strukturen, die den Larven einen attraktiven Standort bieten, weil die Weichtiere zum Aufbau ihrer ein Leben lang wachsenden Schale diesen Kalk brauchen. Die Fischer ziehen ihren Fang dann in riesigen Säcken auf Gestellen im Uferbereich groß und verkaufen die Delikatesse im Alter von rund drei Jahren.
Einige der so gefangenen Larven erwartete jedoch ein anderes Schicksal. Sie kamen direkt auf die Insel Helgoland und in die Obhut von Bernadette Pogoda und ihrem Team am Alfred-Wegener-Institut (AWI), dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, die für das BfN die Europäischen Austern in der Nordsee wieder ansiedeln. Auf Helgoland liefern die Winzlinge den Grundstock für die zukünftigen Riffe der Nordsee.
Anfangs können die gerade einmal ein drittel Millimeter großen Larven mit Hilfe eines noch winzigeren Füßchens ein wenig umherkriechen oder auch ein Stück weit schwimmen, um einen geeigneten Untergrund zu suchen: Auf dem heften sich die Austern dann für den Rest ihres Lebens mit einem Klebstoff aus einer Drüse an ihrer linken Schalenhälfte fest. Dort filtrieren sie Nährstoffe aus dem Wasser. Und das äußerst effektiv: 240 Liter filtert eine einzige Auster am Tag und holt dabei alles für die eigenen Lebensprozesse Verwertbare aus dem Wasser. »Diese enorme Leistung führt dazu, dass direkt über einer Austernbank eine mächtige Schicht mit glasklarem Wasser liegt, erst weiter oben wird es trüber«, erklärt von Nordheim. Austernbänke ähneln daher einer biologischen Kläranlage.
Geschlechtswandler
Auch in der Anlage auf Helgoland wachsen die Austern rasch, während sie eifrig Plankton und Nährstoffe aus dem Wasser filtern. Werden die Tiere erwachsen, schließt sich eine erstaunliche Folge von etlichen Geschlechtsumwandlungen an. Zunächst sind die Europäischen Austern männlich und bilden Samen, die sie in Spermienpaketen in das Wasser abgeben. Diese bleiben eine ganze Weile lebensfähig und können so mit Strömungen auch zu weiter entfernten Weibchen getragen werden. Die wiederum entstehen aus der männlichen Phase, wenn sich innerhalb einiger Wochen das männliche Gonadengewebe in Follikel umwandelt, in denen die Eizellen heranreifen.
Dieser Wechsel des Geschlechts wiederholt sich bei den Europäischen Austern ähnlich wie bei einigen anderen Austernarten ein ganzes Leben lang immer wieder. Abhängig von Nährstoffgehalt und Temperatur des Wassers dauert der Zyklus unterschiedlich lange: In skandinavischen Gewässern wechseln die Tiere nur einmal im Jahr das Geschlecht, in den britischen zweimal und in Biskaya und Mittelmeer sogar noch häufiger.
Wenn die winzigen Larven dann ins Meer gelangen, können sie schon Nahrung aufnehmen und schwimmen. In den kommenden sieben bis zwölf Tagen suchen sie eine feste Bleibe am besten in Form der Schale eines Artgenossen. Im Rahmen eines PROCEED genannten Projekts liefert in der Zuchtanlage auf Helgoland eine kerngesunde Elternpopulation inzwischen massenweise solche Austernwinzlinge, die bereits fest Fuß gefasst haben.
Experiment am Windpark
Bleibt die Frage, wie sie sich im Wasser der Nordsee behaupten. Eine erste Antwort lieferte ein Experiment des AWI-Teams um Bernadette Pogoda. »Seit 2017 haben wir an drei Standorten in Wassertiefen zwischen 10 und 27 Metern rund zwei Millimeter große Jungaustern aus Frankreich ins kalte Nordseewasser entlassen«, erläutert die AWI-Forscherin Corina Peter, die in Pogodas Team mitarbeitet.
Dazu versenkten sie in der Sicherheitszone vor einem Offshorewindpark, in dem die Fischerei aus Sicherheitsgründen strikt verboten ist, Metallgestelle. An diesen waren Plastikkörbe befestigt, in denen die Babyaustern saßen. Die Körbe kontrollierte das AWI-Team in regelmäßigen Abständen – und staunte nicht schlecht. Nach acht Monaten waren einige schon auf vier Zentimeter angewachsen.
Nach weniger als zwei Jahren waren die Tiere im Rekordtempo geschlechtsreif geworden. »Und drei Jahre später hatten manche der Austern bereits die Ausmaße eines Handtellers erreicht«, sagt Peter.
In weiteren Experimenten haben die AWI-Forscher inzwischen ausgetestet, auf welchem Untergrund die Larven am besten gedeihen. Am liebsten nehmen sie Schalen oder Bruchstücke von Schalen ihrer Artgenossen und von Miesmuscheln. Auch die Schalen anderer Austernarten verschmähen sie nicht. Sehr beliebt sind ebenfalls Kalk und Ton als Haftgrund für die Larven.
Konkurrenz aus dem Fernen Osten
Einer erfolgreichen Wiederansiedlung könnte aber noch eine weitere Hürde im Weg stehen: eben jene Pazifische Auster Magallana gigas, die Zoologen bis vor Kurzem unter dem Namen Crassostrea gigas kannten und die mittlerweile nicht nur auf den Speisekarten allgegenwärtig ist, sondern auch in den Lebensräumen entlang der Küsten. Zuhause war sie ursprünglich im Fernen Osten zwischen der russischen Insel Sachalin und dem Süden Chinas. Weil sie aber äußerst robust und schmackhaft ist, wird sie heute in sehr vielen Küstengewässern einschließlich der Nordsee gezüchtet und hat inzwischen einen Marktanteil von mehr als 93 Prozent erreicht. Längst ist sie in verschiedenen Weltregionen verwildert. Spätestens 1986 erreichte sie auch die deutschen Küsten in der Nordsee. Kann die Europäische Auster gegenüber diesem omnipräsenten Neuankömmling bestehen?
»Natürlich haben wir uns diese Frage anfangs auch gestellt«, erklärt Henning von Nordheim. Tatsächlich scheint jedoch der Konkurrenzdruck geringer zu sein, als manche befürchtet hatten: »Die Pazifische Auster konzentriert sich ungefähr auf die oberen fünf Meter Wassertiefe.« Dort verträgt sie es durchaus, bei Ebbe trockenzufallen. Im Flachwasser aber konkurriert sie eher mit den Miesmuscheln und nicht mit den Europäischen Austern, die das Trockenfallen nicht so gut tolerieren und in größeren Tiefen zuhause sind. »Auch in den Prielen des Wattenmeers der Nordsee lebten die Europäischen Austern im 19. Jahrhundert in tieferen Bereichen«, sagt Corina Peter.
Rückkehr in die Tiefen der Nordsee
Im Juli 2020 war es schließlich so weit für die Rückkehr der Europäischen Auster. »Dazu brauchten wir ein Gebiet, in dem die Fischer mit ihren Grundschleppnetzen die Austern nicht sofort wieder vom Meeresgrund reißen«, erklärt Henning von Nordheim. Erste Wahl war der Borkum-Riffgrund: Hier gibt es in der ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands weit nordwestlich der Ostfriesischen Inseln ein 625 Quadratkilometer großes Meeresschutzgebiet, in dem Fischer zwar nach wie vor ihre Geschirre und Netze über den Boden schleppen. »Dennoch kann man mit Hilfe von Regeln der Europäischen Union dort viel leichter die Fangpraktiken unterbinden, die die Meeresumwelt zerstören«, erklärt Henning von Nordheim.
Es wurde dann zunächst ein Areal von nicht ganz einem Quadratkilometer Größe mit Tonnen markiert, als Sperrgebiet für die Bodenschleppnetzfischerei ausgewiesen und in die Seekarten eingetragen. Taucher richteten dort am Meeresgrund kleine Felsbänke ein. Vom Forschungsschiff »Heincke« brachten die AWI-Forschungstaucher dann mehrere Millionen Saataustern aus, die zwei bis vier Millimeter groß waren und von denen sich viele bereits auf Schalen ihrer Artgenossen angesiedelt hatten. Sie sitzen jetzt auf verschiedenen Strukturen am Meeresgrund. »Die kommenden Jahre werden die AWI-Forschungstaucher genau beobachten, wie sich die Austern an den verschiedenen Standorten entwickeln«, erklärt Corina Peter.
Wie stark werden räuberisch lebende Tiere solche Miniaustern dezimieren? Wie entwickeln sich die Überlebenden? Welche Unterwasserstandorte sind die günstigsten? Haben Saataustern, die sich in einer Gruppe auf einer Schale angesiedelt haben, vielleicht Vorteile gegenüber Einzelgängern? Wie ändern sich die Biodiversität und die biologischen Funktionen am Austernriff? Auf all diese Fragen soll das Wiederansiedlungsprojekt mit dem Namen RESTORE in den kommenden Jahren Antworten liefern.
Ziel ist es, das RESTORE-Projekt laufend zu erweitern. Und das nicht nur auf dem Borkum-Riffgrund. Befindet sich doch mit dem Sylter Außenriff ein weiteres, 5603 Quadratkilometer umfassendes Meeresnaturschutzgebiet westlich von Sylt in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone in der Nordsee. »Dort gibt es am Grund ohnehin etliche Felsen, die eine Fischerei mit Grundschleppnetzen erheblich erschweren«, erklärt Henning von Nordheim.
Es ist ein Meeresgebiet von der doppelten Größe des Saarlandes. Genug Raum also, um der Auster eine zweite Chance zu geben. Vielleicht finden hier die Riffe der Nordsee zu alter Größe zurück.
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