Wiederbesiedlung Europas: Die Überlebenden der Kälte
Vor 25 000 Jahren nähert sich die Eiszeit ihrem letzten großen Höhepunkt. Von Norden schieben sich Eismassen aus Skandinavien heran. Von Süden dringen die Alpengletscher nordwärts. Wo heute Berlin liegt, wird bald ein Eisschild 100 Meter in den Himmel reichen. Zwischen den Eisfronten: eine unwirtliche, kalte Steppe. Die Menschen, die hier einst Jagd machten auf Mammut, Pferd oder Rentier und sich Figuren schnitzten, sucht man vergeblich. Sie sind verschwunden. Aber wohin? Und wer machte Mitteleuropa wieder zu seiner Heimat, als 6000 Jahre später das frische Grün zurückzukehren begann?
Antworten gibt jetzt eine Veröffentlichung in der Zeitschrift »Nature«. Eine Gruppe um Cosimo Posth von der Universität Tübingen hat das Erbgut von mehreren hundert Menschen analysiert, deren Knochen bei archäologischen Ausgrabungen entdeckt wurden. Die ältesten sind 35 000 Jahre alt, die jüngsten nur 5000, die westlichsten Funde stammen von der Iberischen Halbinsel, die östlichsten aus dem heutigen Tadschikistan. Das ermöglichte es dem Team, die genetische Landschaft der europäischen Eiszeit in Raum und Zeit zu durchstreifen.
Die vielköpfige Gruppe, an der neben Posth auch He Yu von der Universität Peking und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig beteiligt waren, bestimmte das Erbgut von 116 Menschen der Altsteinzeit neu und fügte die Daten den bereits bekannten Sequenzen von 230 weiteren Individuen hinzu. In Europa begann die Geschichte der modernen Menschen allerdings nicht erst vor 35 000 Jahren, sondern bereits viel früher. Ihre ältesten, ungefähr 45 000 Jahre alten Spuren hat eine Gruppe um Jean-Jacques Hublin vom EVA in Leipzig im heutigen Bulgarien gefunden. Auch im heutigen Rumänien, Tschechien und in anderen Ländern war Homo sapiens bereits vor mehr als 40 000 Jahren zu Hause.
Als die Gruppe um Posth nun ihre DNA-Sequenzen mit denen jener ältesten Europäer verglich, machte sie die verblüffende Feststellung: Das Erbgut dieser ersten modernen Menschen in Europa ist nahezu spurlos verschwunden. »Dauerhaft erfolgreich war diese erste Einwanderung von Homo sapiens also nicht«, erklärt Olaf Jöris, Steinzeitexperte vom Forschungszentrum MONREPOS in Neuwied, der an der »Nature«-Studie selbst nicht beteiligt war.
Der zweite Anlauf hatte Erfolg – bis heute
Doch bei ihrem zweiten Anlauf bissen sich die modernen Menschen dauerhaft fest. Die Nachfolger der Pioniere sind der Forschung durch ihre Steinwerkzeuge bereits gut bekannt. Ihre Hinterlassenschaften ähneln sich stark, ob sie nun auf der Iberischen Halbinsel oder in der heutigen Ukraine gefunden wurden. Das »Gravettien«, wie es in der Fachsprache heißt, war eine frühe Europäische Union: In der Zeit vor 32 000 bis vor 24 000 Jahren fertigten die Menschen ihre Steinwerkzeuge in diesem riesigen Gebiet mit einer ähnlichen Technik und freuten sich an der gleichen Kleinkunst mit Schnitzereien und Gravierungen von Tiergesichtern auf Geweihen, Knochen und anderen leicht zu transportierenden Gegenständen. Es waren jene Menschen, die in Europa vor dem Höhepunkt der Eiszeit ein gutes Auskommen fanden.
Aber waren sie auch untereinander verwandt? Gehörten sie zu ein und derselben genetischen Gruppe? Dank einer wahren Detektivarbeit habe das Team um Posth »überraschende Antworten auf diese Fragen« bekommen, sagt Jens Blöcher, der an der Universität Mainz das Erbgut von Menschen aus Bronze- und Steinzeit untersucht, an der aktuellen Studie jedoch nicht beteiligt war.
Zunächst stellten die Forscher fest, dass die Angehörigen des Gravettien wie vermutet den Rückzug aus Mitteleuropa antreten mussten, als sich das Eis heranschob. Aber niemals gingen sie so ganz: Spuren ihres Erbguts finden sich noch bei heute lebenden Menschen. Folglich zählen sie bereits zu den Ururahnen vieler Europäer.
Unerwarteter aber war die zweite Erkenntnis zur vermeintlichen Europäischen Union der Altsteinzeit. Ihre Angehörigen im Westen des Kontinents stammen anscheinend von einer älteren, noch nicht näher identifizierten Gruppe ab. Sie sind genetisch klar unterscheidbar von ihren Kulturgenossen im Osten, die im heutigen Tschechien bis hinunter auf den italienischen Stiefel lebten und deren Ahnen wohl aus noch weiter östlichen Regionen im heutigen Russland stammten. Diese genetische Zweispaltung der Gravettien-Gruppen manifestierte sich auch in der sonst überregional einheitlichen Kultur. »Wir können zeigen, dass es im östlichen Mitteleuropa und in Südeuropa andere Bestattungsriten als in West- und Südwesteuropa gab«, erklärt Cosimo Posth. Wo sich die Populationen aus Ost und West berührten, kam es allerdings auch immer wieder zur Vermischung der beiden genetischen Gruppen.
Rückzug in den Süden
Bald aber mischten die vorrückenden Gletscher und das kälter werdende Klima die Karten völlig neu. Vermutlich war die Kälte nicht einmal das größte Problem, die Steinzeitmenschen litten wohl viel stärker an anderen großen Veränderungen. So schnitten die Eismassen Flüssen wie der Oder und der Weichsel den Weg nach Norden zu ihren alten Mündungen ab. Das Wasser bahnte sich daher seinen Weg nach Westen und floss schließlich in den Nordatlantik. Die Landschaft veränderte sich jedoch nicht nur dadurch gravierend, sondern auch, weil es den allermeisten Bäumen wahrscheinlich zu kalt und vor allem zu trocken wurde: Nur noch in gut geschützten Lagen konnten sich wohl kleine Baumgruppen halten.
»In dieser Zeit verdunstete aus dem sehr kalten Nordatlantik nur noch sehr wenig Wasser, und die Niederschläge in Mitteleuropa gingen drastisch zurück«, schildert Olaf Jöris die vielleicht wichtigste Veränderung in den Regionen zwischen den Eismassen. Verwandelte dieser Wassermangel doch die gesamte Natur. Bäume verschwanden, Tiere zogen sich in mildere und vor allem feuchtere Regionen zurück – und die Steinzeitmenschen folgten ihnen. Solche Rückzugsregionen vermutet die Forschung schon lange im heutigen Südfrankreich und auf der Iberischen Halbinsel sowie auf dem italienischen Stiefel und auf dem Balkan.
Dank der neuen DNA-Daten konnten die Fachleute nun gemeinsam mit einem Team um die Leipziger Forscherin Vanessa Villalba-Mouco erstmals in diese Rückzugsorte der westlichen Angehörigen des Gravettien vorstoßen. Auf ihrem Weg nach Süden entwickelten die Menschen eine neue Kultur: das Solutréen. Es ist bekannt für sehr fein gearbeitete Lanzen- und Speerspitzen. Solche Funde tauchen nur in der Zeit vor 22 000 bis vor 18 000 Jahren entlang der Atlantikküste vom heutigen Südfrankreich bis hinunter nach Portugal sowie an der Mittelmeerküste des heutigen Spaniens auf.
Als sich danach die Gletscher langsam wieder zurückzogen, die Temperaturen stiegen und vor allem die Niederschläge wieder häufiger wurden, kehrten die Menschen in die vorher entvölkerten Regionen weiter im Norden zurück: »Die Nachkommen der westlichen Gruppe tauchen sogar im heutigen Polen wieder auf«, sagt Cosimo Posth. Archäologen kennen die Kultur, die sie ausprägten, als Magdalénien.
Flaschenhals auf dem Stiefel
Etwas völlig anderes passierte dagegen im östlichen Mitteleuropa und in Südeuropa. Den Höhepunkt der letzten Eiszeit überdauerten diese Gruppen offenbar nicht – ihr Erbgut lässt sich danach nicht mehr nachweisen. Doch ungefähr gleichzeitig tauchte im Nordosten des heutigen Italiens eine neue Gruppe auf. »Die genetischen Strukturen dieser Neuankömmlinge deuten auf einen Ursprung im Nahen Osten hin«, erklärt Cosimo Posth. Möglicherweise kamen diese Menschen damals vom Balkan, aus dem in der »Nature«-Studie kein Erbgut untersucht wurde. Den Archäologinnen und Archäologen sind sie als Angehörige des Späten Gravettien oder Epigravettien bekannt, auch wenn sie mit ihren Vorgängern vor dem eiszeitlichen Maximum genetisch gesehen wenig verbindet.
Diese Neuangekommenen breiteten sich mit der Zeit bis zur Spitze des italienischen Stiefels aus. Je weiter sie kamen, umso kleiner wurde diese Bevölkerungsgruppe. Als sie schließlich Sizilien erreichten, steckten sie nicht nur geografisch in einer Sackgasse: »Dort ähnelt sich das Erbgut der Menschen damals sehr«, erklärt Cosimo Posth. Das aber deutet auf einen genetischen Flaschenhals hin. »Die effektive Populationsgröße lag in dieser Zeit nach den Erbgutanalysen auf Sizilien wohl nur noch bei 70 Personen«, fasst der Mainzer Paläogenetiker Blöcher zusammen. Mit dieser Kennzahl werden allerdings nur jene Menschen erfasst, die zu einem gegebenen Zeitpunkt ihr Erbgut tatsächlich weitergegeben haben. Die wahre Bevölkerungsgröße auf Sizilien war deshalb sicher deutlich höher. In solchen Flaschenhalssituationen genügt dann oft eine kleine Störung – eine Hungersnot, ein Vulkanausbruch –, und von der Population ist nichts mehr übrig. Vielleicht erledigte ein ähnliches Schicksal die östlichen Angehörigen des Gravettien.
Doch die Bewohner des italienischen Stiefels starben nicht aus. Als sich das Klima vor ungefähr 14 000 Jahren rasch erwärmte, Niederschläge wieder Mitteleuropa erreichten und Wälder nach Norden vordrangen, begannen sie mit ihrer Wanderung zurück Richtung Norden. Nach und nach ersetzten sie dort die Gruppen, die bereits mit etwas Vorsprung aus Südwesteuropa dorthin gewandert waren. Diese Entwicklung deckt sich mit den archäologischen Daten: »Vor 14 000 Jahren wurden vorher naturalistische durch abstrakte oder geometrische Darstellungen ersetzt«, erklärt Olaf Jöris.
Bald aber zeichnete sich eine neue Teilung des Kontinents ab: 6000 Jahre lang tauschten die Jäger-und-Sammler-Gruppen in Osteuropa kaum Erbgut mit den Jägern und Sammlern im Westen und dem Zentrum des Kontinents aus. Auch anatomisch unterschieden sich diese Gruppen in Haut- und Augenfarben deutlich. Doch dann begannen sich vor ungefähr 8000 Jahren die ersten sesshaften Bauern von Anatolien aus nach Europa auszubreiten. Sie drängten die ursprünglichen Gruppen vermutlich nach Norden und Nordosten zurück und brachten sie so in engeren Kontakt, wodurch sich ihre Genpools wieder aneinander annäherten. Danach endet zwar die Studie des Teams um Cosimo Posth, die sehr dynamischen Veränderungen der Bevölkerung in Europa gingen allerdings weiter.
In einem begleitenden Kommentar zur »Nature«-Studie des Teams um Cosimo Posth zieht der Paläogenetiker Ludovic Orlando von der Université Paul Sabatier im südfranzösischen Toulouse einen wichtigen Schluss aus dieser lebhaften Dynamik: »Keine Bevölkerungsgruppe im heutigen Europa kann für sich in Anspruch nehmen, allein von einer Population abzustammen, die sich damals auf dem Kontinent etabliert hatte.« Europa war schon immer ein Schmelztiegel für Menschen aus aller Welt.
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