Notre-Dame de Paris: Noch schöner als zuvor
Fünf Jahre hatte Staatspräsident Emmanuel Macron für die Renovierung in den Ring geworfen – am 16. April 2019, einen Tag nach der Feuernacht. Als die Feuerwehr die Schläuche zusammenrollte, schlich sich in Paris eine fragile Hoffnung ein. Der Himmel hing tief, es nieselte und die Luft roch nach Lagerfeuer. Die Grundmauern, die Fassade und die Türme von Notre-Dame waren rußschwarz, ein Loch klaffte über der Vierung, aber fast alle Gewölbe und Fenster hatten gehalten.
Es war nicht das erste Mal, dass Notre-Dame einer Ruine glich. Im Jahr 1831 sah die Kathedrale ähnlich aus, weil sie und die anderen »wundervollen Kirchen des Mittelalters« in Frankreich »Verstümmelungen (…) von allen Seiten« erlitten hatten, »von innen so wie von außen«. So schrieb es Victor Hugo (1802–1885) im Vorwort seines Romans »Notre-Dame de Paris«, der im Deutschen »Der Glöckner von Notre-Dame« heißt. Im Original ist die Kathedrale die Titelheldin, in den Übersetzungen ist es ihr Alter Ego Quasimodo.
Im Roman schilderte Hugo den Zustand dann konkreter: »Der ungeheure Leib [von Notre-Dame] ist verlassen; er ist ein Skelett (…) Sie ist einem Schädel ähnlich, in dem sich noch die Höhlen für die Augen befinden, aus denen aber kein Blick mehr strahlt.« Und an anderer Stelle: »Was hat man mit dem hübschen kleinen Thurme angefangen, welcher sich auf den Durchschnittspunkt des Kreuzgewölbes stützte, und (…) in den Himmel hineinragte? Ein Baumeister von gutem Geschmacke hat ihn abgetragen und geglaubt, es genüge, die Verletzung hinter jenem breiten Bleipflaster zu verstecken, das dem Deckel eines Kochtopfes gleicht.« Der Zustand, den der Schriftsteller 1831 beschrieb, erinnerte erschreckend stark an das Bild nach dem 15. April 2019.
Dass Notre-Dame vor fast 200 Jahren schon einmal gerettet wurde, verdankte sie nicht zuletzt Hugos Roman – geschrieben, um die Kathedrale vor dem Verfall und vor den Verstümmelungen der Kalkeinrührer zu schützen, die auf jeden Riss einfach eine Schicht Gips klatschten. Viele hatten an Notre-Dame gewütet. Es wurde abgeschabt, überpinselt und schlecht vermörtelt. Während der Französischen Revolution schlug man den Skulpturen der Königsgalerie an der Westfassade die Köpfe ab, dabei hatten die biblischen Figuren mit dem verhassten Adel nichts zu tun. Pferde wurden in dem Kirchenbau gehalten und Vorräte gelagert. Die Kathedrale war zeitweise nicht mehr als eine Mehrzweckhalle.
Aus Notre-Dame wurde die Kathedrale aus Hugos Roman
Die Welt des Mittelalters galt im 19. Jahrhundert als barbarische Epoche, bis Victor Hugo der Kathedrale ein literarisches Denkmal setzte. Der Erfolg des Romans war enorm. Plötzlich identifizierte sich das Volk mit seiner »Lieben Frau von Paris« und machte sich für deren Instandhaltung stark. Es ist der Anfang der systematischen Denkmalpflege. 1845 bekommen die Architekten Eugène Viollet-le-Duc (1814–1879) und Jean-Baptiste-Antoine Lassus (1807–1857) den Auftrag für die Renovierung. 20 Jahre dauerten ihre Arbeiten, die der Kathedrale ein neues Gesicht gaben. Der Vierungsturm, die Skulpturen von Chimären, einige Wasserspeier, die Apostelstatuen: Viele Elemente sind neogotische Interpretationen von Viollet-le-Duc. Der Restaurator, der nach dem Tod von Lassus allein weiterarbeitete, sah seine Aufgabe weniger darin, einen verlorenen Zustand wiederherzustellen, als dem Bauwerk eine ideale Gestalt zu verleihen – die es aber vielleicht nie hatte, schreibt Adrien Goetz, Kunsthistoriker an der Sorbonne, in seinem Buch »Notre-Dame de l’humanité«. Im Grunde ist Viollet-le-Ducs Werk die steingewordene Roman-Kathedrale von Victor Hugo.
Als Emmanuel Macron in zwei Ansprachen nach der Brandkatastrophe die Kathedrale zum Epizentrum französischer Identität erklärte und die Bevölkerung beschwor, sie gemeinsam wieder aufzubauen, trat er quasi das Erbe Victor Hugos an. Der Staatspräsident appellierte an die emotionale Bindung der Menschen zu Notre-Dame. Diese Identifikation hatte Hugo über den mittelalterlichen Mikrokosmos des Romans geschaffen und über die Erkenntnis, dass jedes Zeitalter Spuren an Notre-Dame hinterlassen hat. In dem Kirchenbau manifestiert sich der Fortgang der französischen Kultur. Auch Macron feierte in seinen Reden die Kathedrale als Zentrum der französischen Kultur, als einen Ort, an dem das Volk Siege und Seuchen, Kriege, Krönungen und Katastrophen erlebte. So sollte es auch dieses Mal sein. Fünf Jahre setzte er an für eine Renovierung, aus der Notre-Dame noch schöner hervorgehen sollte, »plus belle encore«. Es war nichts anderes als eine Wette – zu einem Zeitpunkt, als noch keiner ermessen konnte, wie groß der Schaden wirklich war.
Die Renovierung wurde zum Wettlauf gegen die Zeit. Geld war schnell aufgetrieben, mehr als 846 Millionen Euro kamen zusammen, zum größten Teil Schenkungen privater Spender. Fachleute aus der ganzen Welt boten noch in der Nacht auf den 16. April 2019 Unterstützung an. Trotzdem sah es nicht gut aus. Der Dachstuhl war ausgebrannt, die verkohlten Balken waren herabgefallen und hatten die Bodenplatten durchschlagen. Sie lagen im Schutt wie die Reste eines gigantischen Scheiterhaufens. Die Mauern hatten sich mit Löschwasser vollgesogen und waren dadurch viel schwerer als zuvor. Zu allem Übel regnete es durch das klaffende Loch, das der Vierungsturm ins Dach geschlagen hatte. Mehr als 200 Tonnen giftiges Blei der geschmolzenen Dachbleche hingen an den Wänden wie ein erstarrter Wasserfall und hatten sich in pulverisierter Form an jedem Fenster und in jeder Ritze abgesetzt. Kaum war das Nötigste abgesichert, unterbrach der Corona-Lockdown die Arbeiten.
Eine Chance für die Forschung
Die veranschlagten fünf Jahre setzten nicht nur die Restauratoren unter enormen Druck, sondern sie markierten auch ein Zeitfenster, in dem Fachleute zum ersten Mal Notre-Dame vom Dach bis unter die Bodenplatten erforschen konnten. Denn die wohl berühmteste Kathedrale der Welt war im Grunde eine große Unbekannte. Sie zu untersuchen war praktisch unmöglich. Entweder platzte sie vor Touristen oder die Gläubigen feierten eine Messe – oder beides.
So waren die Wände und Fenster über die Jahrhunderte verrußt und verstaubt. Schon vor dem Brand war die Kathedrale in keinem guten Zustand. Vor allem die Bauelemente aus dem 19. Jahrhundert zeigten Verfallsspuren. Gerade hatte man das Dach eingerüstet, weil der Vierungsturm renoviert werden sollte, und Arbeiter hatten die Figuren der Apostel schon von einem der Hauptportale herabgehoben. Eigentlich war noch mehr fällig, aber die Lage glich Hugos Beschreibungen: Man werkelte hier ein bisschen und da ein bisschen – mehr war bei laufendem Betrieb nicht möglich. Und die Kirche zu schließen war undenkbar. Nun lag sie da in Schutt und Asche. Das war ein Unglück, aber auch eine Gelegenheit.
An der Restaurierung von Notre-Dame waren insgesamt etwa 2000 Menschen aus verschiedenen Fachbereichen beteiligt. Dazu gehörten Archäologen, Architekten, Kunsthistoriker, Steinmetze, Goldschmiede, Glasmaler, Zimmerleute und Akustiker. Beim Messen, Reinigen und Digitalisieren stellten viele von ihnen fest, dass sie erst die Geheimnisse des Mittelalters ergründen mussten, um die Kirche annähernd so solide wieder in Stand zu setzen, wie sie fast 900 Jahre gehalten hatte. Nur war das Wissen aus frühen Bauphasen nicht dokumentiert. Aus dem Mittelalter gab es keinen Bauplan, man wusste nicht einmal, wer im 12. Jahrhundert an der Planung und am Bau beteiligt war. Die Arbeiten von Viollet-le-Duc hingegen ließen sich leicht nachvollziehen. Doch das half nicht viel, da die Elemente aus dem 19. Jahrhundert weniger ausgehalten hatten als die mittelalterlichen Architekturteile und Skulpturen.
Made in Mittelalter: Äußerst solide
Eine Arbeitsgruppe um den Kunsthistoriker Yves Gallet von der Université Bordeaux-Montaigne, den Materialwissenschaftler Jean-Michel Mechling von der Université de Lorraine und Fachleute des Laboratoire de recherche des monuments historiques (LRMH), des staatlichen Labors für Denkmalschutz, untersuchten und verglichen das Baumaterial aus der Gotik mit dem von 1845, angefangen bei den Gewölben, die das Haupt- und Querschiff der Kirche überspannen und in denen seit dem Brand empfindliche Lücken klafften. Wie sich zeigte, hatten die neuzeitlichen Baumeister ein anderes Gestein genutzt als ihre Kollegen des 12. und 13. Jahrhunderts, auch weil die älteren Steinbrüche bereits erschöpft waren.
Die Forscher analysierten zudem das Mörtelgemisch, das die Steine der Gewölbebögen zusammenhielt. Es erwies sich als extrem stabil und zugleich flexibel. Dadurch konnte das Mauerwerk über Jahrhunderte Erschütterungen, Stürme oder Temperaturschwankungen überstehen, ohne dass die Blöcke selbst rissig wurden – das Bauwerk bewegte sich förmlich entlang der vermörtelten Fugen. In der Hoffnung, dass die nun rekonstruierten Partien der Kirche ebenso widerstandsfähig sein werden, verwendeten die Restauratoren einen Mörtel, der den alten Mixturen nachempfunden ist.
Der Mörtelgemisch barg nicht die einzige Überraschung in Sachen Bautechnik. Da der Sturz des Vierungsturms große Löcher in das Gewölbe des Kirchenschiffs gerissen hatte, konnten Forscher zum ersten Mal exakt dessen Dicke messen. Wie Yves Gallet in einer Dokumentation auf »ARTE« erklärt, war das Gewölbe viel dünner gebaut worden als bei früheren Kirchen in Frankreich. Gar nur halb so dick, etwa 12 bis 15 Zentimeter. Doch gerade weil die Gewölbedecken so filigran gearbeitet wurden und dadurch leicht genug waren, konnte die Kirche so hoch errichtet werden. Die Gotik, mit ihrem Versuch, hohe, lichtdurchflutete Räume zu schaffen und den Gläubigen ein Abbild des Himmels zu suggerieren, erreichte mit Notre-Dame einen ihrer Höhepunkte. Die mittelalterlichen Baumeister errichteten in ihrer Zeit mit mehr als 32 Metern das höchste Kirchenschiff der Welt. Nach den Untersuchungen weiß man heute besser, wie das funktionierte.
Zudem lastet das Gewölbe offenbar nicht vollständig auf den Grundmauern und den äußeren Strebepfeilern. Wie die Untersuchungen an der Brandruine ergaben, ist nur der obere Teil der Gewölbe tatsächlich freitragend. Der untere Bereich ist fest mit den Mauern verbunden. Aus diesem Grund waren 2019 nur die oberen Gewölbepartien herabgestürzt, da der Rest massives Mauerwerk ist.
Als sie vom Dach aus die Mauern untersuchten, entdeckten Forscher um Maxime L’Héritier vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris einen weiteren Trick: Eisenklammern hielten mehrere Steine zusammen und gaben der Konstruktion eine höhere Stabilität. Es scheint gerade so, als seien die Mauern getackert. Dass die alten Bauleute in solchem Ausmaß Metall verbauten, war vollkommen unbekannt. Und keiner hatte zuvor mit derart viel Eisen als Konstruktionselement hantiert wie die Bauhütte von Notre-Dame de Paris: Schon in den ersten Bauphasen der Kathedrale, bald nach 1160, hatten die Arbeiter Metallklammern in die Steinblöcke versenkt.
Auch die chemische Analyse des Metalls lieferte eine Überraschung: Die Klammern bestehen aus Eisen unterschiedlicher Herkunft. Mindestens sechs verschiedene Metalltypen konnten die Fachleute unterscheiden. Das lässt Rückschlüsse auf ein ausgefeiltes Handelsnetz zu. Der Handel mit Eisen und die Rolle der Schmiede beim Bau von Kathedralen muss heute neu bewertet werden.
Der Bau der Kathedrale war von langer Hand geplant
Unter den mittelalterlichen Bauleuten waren aber nicht nur die Schmiede wichtiger als gedacht, sondern auch Forstleute spielten eine bedeutende Rolle. Als sich das Feuer 2019 durch den Dachstuhl fraß, der als »la forêt« (Wald) bekannt war, weil er aus dem Holz tausender Eichen bestand, sah es so aus, als sei die Kathedrale verloren. Irgendwo im Dach muss der erste Funke geflogen sein. Ob eine Zigarette oder ein Kurzschluss den Brand auslöste, ist noch immer nicht geklärt. Aus versicherungstechnischen Gründen, so erzählt man sich in Paris, soll es ein Kurzschluss gewesen sein – menschliches Fehlverhalten ist nicht versichert. Woher der Funke auch immer kam, er fiel in den »Wald« und ließ ihn lichterloh brennen.
Die Diskussionen, ob das Dach im alten Stil wieder aufgebaut werden sollte, führten zu einer groß angelegten Untersuchung der Hölzer und Verarbeitungstechniken, angeführt von dem Archäologen Frédéric Epaud und der Archäobotanikerin Alexa Dufraisse vom CNRS in Paris. Anders als gedacht, hatte man die ursprünglichen Balken nicht aus alten, dicken Eichen gehauen, sondern jeder Balken besteht aus dem Stamm eines jungen Eichenbaums. Epaud fand heraus, dass die Hölzer vermutlich aus Niederwäldern geschlagen wurden. Dahinter verbirgt sich eine alte Form der Waldwirtschaft, der Stockausschlag: Bäume werden bis auf den Stumpf gefällt, aus dem dann neue Triebe und in etwa 50 bis 60 Jahren dünne, hohe Stämme wachsen. Weil sie in engem Abstand zueinander aufschießen, ist das Holz extrem astarm.
Dieses Stangenholz eignete sich besonders gut als Baumaterial für den Dachstuhl. Außerdem erwies es sich als sehr flexibel: Weil man die Stämme in ihrer Wuchsform verwendete, blieben sie biegsam und passten sich Wind und Erschütterungen an. »Besser, widerstandsfähiger kann man es nicht machen«, sagt Epaud in der ARTE-Doku. »Die Scans von Notre-Dame haben es deutlich gezeigt, das Balkenwerk hat sich verformt« über die Jahrhunderte, »die Dachbinder haben sich verbogen, elastisch reagiert, aber die Hölzer sind nicht gebrochen.« Das sei durch die spezielle Art der Waldwirtschaft und der Bearbeitung der Eichen möglich gewesen. Um etwa 2000 solcher Eichenstämme zu setzen, mussten die Bauherren der Kathedrale im 12. und 13. Jahrhundert also eng mit den Forstleuten zusammenarbeiten.
Für das Dach des 21. Jahrhunderts und den rekonstruierten Spitzturm stammt das Holz aus ganz Frankreich, zum großen Teil spendeten es private Waldbesitzer, bearbeitet wurde es nach alter Technik. Dass Frankreich anfangs für den Neubau einen Wettbewerb ausgeschrieben hatte, hielten viele für einen schlechten Scherz. Die Asche war noch nicht kalt, als Stimmen laut wurden, statt des Spitzturms ein Glaselement einzufügen, ein Feuerdenkmal, eine Terrasse oder gar ein Schwimmbad auf das Dach zu bauen. Am Ende entschied man sich für den nachgebildeten Vierungsturm, den Viollet-le-Duc entsonnen hatte. Der Architekt hatte sich am ursprünglichen Dachreiter orientiert, ließ seine Neuerung aber höher in den Himmel ragen.
Der Absturz des Vierungsturms war der Moment, in dem Paris aufschrie. Vermutlich war zuvor niemandem klar gewesen, wie sehr man an dem Türmchen hing. Als er zusammenbrach, zeigte sich zudem, mit welcher Zerstörungskraft das Feuer wütete. Kein Wunder also, dass sich heute ein Neubau von Viollet-le-Ducs Turm gen Himmel streckt und kein Planschbecken.
Das Fensterlicht der Kathedrale
Dach und Gewölbe waren nicht die einzigen Bereiche, die durch die Restaurierung neue Erkenntnisse erbrachten. So hatten erstaunlicherweise fast alle Fenster den Brand überstanden. Ruß- und bleistaubbedeckt zwar und zum Teil mit Rissen und verrutschten Bleinähten, dennoch waren die Scheiben gerettet. Etwa 1000 Quadratmeter Glasfenster wurden herausgenommen, gereinigt, untersucht und ausgebessert. Die Restaurierung von vier großen Fenstern aus dem 20. Jahrhundert übernahm die Glaswerkstatt der Kölner Dombauhütte. Gemalt hatte sie der Künstler Jacques Le Chevallier (1896–1987). Sein Werk gehört zwar nicht zu den mittelalterlichen Schätzen, barg aber dennoch Überraschungen. Offenbar war es schon einmal ausgebessert worden – mit buntem Kunststoff. Heute leuchtet an diesen Stellen wieder Glas.
Auch die älteren Fenster, zum Beispiel die große Rosette hinter der Orgel, haben Fachleute intensiv untersucht und dort ebenfalls Reparaturen entdeckt, die nicht an das Original heranreichten. Die Farben der alten Gläser hatten die Jahrhunderte deutlich besser überdauert als die des 19. Jahrhunderts. Jetzt sind alle Fenster wieder am Platz, sie leuchten heller als zuvor und die Erkenntnisse über mehrere Jahrhunderte Glasmaltechnik werden die Wissenschaft noch eine Weile beschäftigen.
Die Forscherinnen und Forscher blickten in den vergangenen fünfeinhalb Jahren auch in den Untergrund von Notre-Dame. Oft finden sich unter Kirchen die Überreste ihrer Vorgänger, doch nur selten bietet sich die Gelegenheit, an diese Schichten heranzukommen. So auch in Notre-Dame, die ständig von Touristen, Messdienern und Gläubigen belagert war. Doch beim Brand hatten die herabgestürzten Dachbalken den Boden an mehreren Stellen durchschlagen und öffneten so den Untergrund der Kathedrale. Archäologen vom staatlichen Institut nationale de recherche en archéologie préventive (INRAP) begannen zu graben und zu sondieren. Mit Hilfe eines Georadars fanden sie noch im Boden verborgenes Mauerwerk und ein altes Heizungssystem. Sie suchten weiter und stießen auf dutzende Bestattungen von fast ausschließlich älteren Männern, vermutlich Geistlichen und Aristokraten. Darunter befanden sich auch zwei Bleisärge in der Vierung der Kathedrale. In die Grabbehälter führten die Wissenschaftler zunächst eine Kamera ein, deren Bilder ihnen Schädel und Knochen zeigten sowie Reste einer Einbalsamierung.
Inzwischen haben die Forscher um den Anthropologen Eric Crubézy von der Université Toulouse III beide Särge geöffnet. Wie Inschriften auf einem der beiden Bleisärge verrieten, lag darin der katholische Priester und Kanoniker Antoine de la Porte bestattet, der 1710 gestorben war. Die Identität des zweiten Toten ließ sich hingegen nicht so schnell klären – und bislang besteht nur ein begründeter Verdacht. Die Knochen, Pflanzen- und Textilreste im Sarg legen nahe, dass der Mann ein geübter Reiter war, einer reichen Adelsfamilie angehörte, jedoch an einer tuberkulösen Meningitis litt und keine 40 Jahre alt wurde. Er war zudem einige Zeit vor de la Porte beigesetzt worden. Crubézy suchte in Kirchenarchiven nach der Identität des Toten und wurde fündig: Seines Erachtens könnte es sich um den bedeutenden französischen Renaissancedichter Joachim du Bellay (1522–1560) handeln, der als versierter Reiter galt, an einer Meningitis erkrankt war und im Alter von 37 Jahren starb.
Der alte Lettner schlummerte im Boden
In Notre-Dame wurden jedoch nicht nur Menschen beigesetzt, sondern auch Kunstwerke. Beim Graben fanden die Archäologen etwa 1000 Fragmente von Skulpturen und verzierten Mauerstücken aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Vermutlich hatte man zu Beginn des 18. Jahrhunderts die alte Chorschranke abgerissen und unter den Bodenplatten vergraben. An vielen Fragmenten haftet noch die originale Farbe der Bemalung. Die Stück werden nun untersucht, digitalisiert und so weit möglich wieder zusammengefügt. So lässt sich irgendwann hoffentlich nachvollziehen, wie der Kirchenraum im Mittelalter ausgesehen hat.
Dass Notre-Dame sich im Lauf der Jahrhunderte immer wieder verändert hat, dass jede Epoche seine Spuren hinterließ, war bekannt. Wie viele Erkenntnisse Wissenschaftler im Lauf der Renovierung sammeln sollten, war trotzdem überraschend. Das neue Wissen über mittelalterliche Bautechniken, Materialien, Glasmalerei, Statik, Forstwirtschaft, Schmiedearbeiten und verschiedene Restaurierungstechniken wird noch lange interdisziplinär erforscht werden. Weit über die Neueröffnung hinaus.
Heute sieht die Kirche wieder aus wie frisch im 19. Jahrhundert restauriert. Möglich machte es ein Heer von Baumeistern und Handwerkern, die unter dem Druck einer Wette des Staatspräsidenten arbeiteten. Der Innenraum glänzt heute heller als zuvor, die Glasrosetten leuchten bunter. Vielleicht ist Notre-Dame tatsächlich »plus belle encore«.
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