Netzwerkanalyse: Wieso die »Odyssee« auf wahren Begebenheiten beruhen könnte
Die Struktur menschlicher Gesellschaften trägt einen universellen Fingerabdruck, der sich mit mathematischen Methoden zwar aufspüren lässt, für Autoren aber schwer zu imitieren ist. So kommt es, dass selbst vergleichsweise realistische Figurenkonstellationen, wie etwa die des Harry-Potter- oder Herr-der-Ringe-Universums, als fiktional entlarvt werden können. Man muss dazu die Beziehungen aller Figuren untereinander mit Methoden der Netzwerkanalyse auswerten.
Doch der Test funktioniert auch andersherum: Dann legt sie nahe, dass ein vermeintlich fiktionales Werk einen historischen Kern hat. So wie nun im Fall von Homers »Odyssee«. Die Welt, in der der listenreiche Held seine zehnjährige Irrfahrt durchlebt, zeige deutliche Merkmale einer realistischen menschlichen Gesellschaft, schreibt eine Gruppe dreier Forscher im Magazin »PLoS One«. Folglich sei das Werk vermutlich eine Mischung aus fiktionalen und historischen Elementen.
Zu diesem Schluss kommen der Physiker Pedro Jeferson Miranda von der Universidade Estadual de Ponta Grossa im brasilianischen Paraná und Kollegen, nachdem sie die 1747 Verbindungen der 342 Figuren analysiert haben, die in den 24 Büchern auftauchen.
Typisch menschliche soziale Netzwerke sind, wie die Autoren auf »The Conversation« erklären, dicht verknüpft, so dass jeder mit jedem über sehr wenige Zwischenschritte verbunden ist. Zudem haben die einzelnen Teilnehmer meist eine Vielzahl von Verbindungen, die vor allem zwischen Menschen, die einander ähnlich sind, verlaufen. Es gibt in ihnen zentrale Figuren, die sich nicht entfernen lassen, ohne dass das Netz seinen Charakter ändert. Lässt man jedoch zufällig ausgewählte Figuren weg, bleibt das Netz in der Regel stabil.
Diese Eigenschaften machten Miranda und Kollegen auch in der »Odyssee« ausfindig. Damit unterscheidet es sich von anderen mythologischen Erzählungen, wie etwa dem altirischen Epos vom »Rinderraub von Cooley« oder dem »Beowulf«, die man ebenfalls in dieser Hinsicht analysiert hat. Die »Ilias«, die Geschichte vom Trojanischen Krieg, erwies sich hingegen als dasjenige Werk, dessen Figurenkonstellation am meisten Ähnlichkeiten mit der Realität aufwies.
In der »Odyssee« schälte sich das realistische Netzwerk allerdings erst dann heraus, wenn die Forscher die offenkundig fiktionalen Gestalten herausnahmen – also erst, wenn Zyklopen, Götter oder Meeresungeheuer entfernt wurden. Götter beispielsweise nähmen auf Grund ihrer Allgegenwart in einem solchen Netzwerk eine Position ein, die einfach nicht mit tatsächlich existierenden Figuren in Einklang zu bringen ist. Jetzt biete es sich an, auch andere Werke auf ihren Realismus hin abzuklopfen, meinen die Forscher – bis sich jemand die Bibel vornähme, sei es wohl nur eine Frage der Zeit.
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