Taxonomie: Wie viele Arten gibt es wirklich?
Sie sind winzig, ihre Schalen messen nur wenige Millimeter, und sie leben in einem der größten und tiefsten Seen im zentralen Hochland der indonesischen Insel Sulawesi. Doch es lag weder an ihrer geringen Größe noch an der Abgelegenheit ihres Lebensraums, dass die Spezies der 2005 beschriebenen Gattung Sulawesidrobia erst jetzt von der Wissenschaft entdeckt wurden. Bisher hat sich schlicht kaum jemand für diese und andere tropische Süßwasserschnecken interessiert; ebenso wenig wie für die kleinen, beinahe durchsichtigen Garnelen der Gattung Caridina, mit denen sie gemeinsam seit Urzeiten im felsigen Brandungssaum leben. Auch von solchen Krebstierchen haben wir gleich mehrere neue Arten aus der im doppelten Sinn »lost world« der Seen von Sulawesi beschrieben. Um sie zu identifizieren, stützten wir uns nicht nur auf Unterschiede im Körperbau, sondern vor allem auf solche in bestimmten Abschnitten ihrer molekulargenetischen Bauanleitung, der Gene.
Mit diesem Verfahren lassen sich immer wieder neue Spezies aufspüren. So war es eine kleine Sensation, als im Januar 2020 von den Inseln Taliabu, Peleng und Batudaka im indonesischen Archipel östlich von Sulawesi gleich fünf unbekannte Arten sowie fünf Unterarten von Singvögeln beschrieben wurden – die höchste Zahl neu in einem Areal entdeckter Vögel seit mehr als 100 Jahren. Dabei gilt diese Tiergruppe als die wohl am besten erforschte überhaupt. 2023 beschrieb ein irisches Forscherteam anhand von DNA-Sequenzen und Gesangsaufnahmen mit Cinnyris infrenatus eine weitere bislang unbekannte Spezies tropischer Nektarvögel von den ebenfalls östlich von Sulawesi gelegenen Wakatobi-Inseln. Und von den Meratus-Bergen auf der Insel Borneo stellten Fachleute 2022 je eine neue Art der Fliegenschnäpper Cynornis und der Brillenvögel Zosterops vor. Auch diesen Neuzugängen kamen sie – neben dem Vergleich des Gefieders und von Gesangsunterschieden – vor allem durch molekulargenetische Daten auf die Spur.
Zwar sind die Zeiten vorbei, als bei fast jeder Expedition in abgelegene Regionen der Erde gleich Dutzende neuer Arten aufgespürt wurden. Doch selbst bei den gut bekannten Säugetieren werden Artenforscherinnen und -forscher gelegentlich fündig – wie 2022 in den Bergwäldern Ecuadors, wo sie fünf neue Spezies von Nebelwaldmäusen der Gattung Chilomys beschrieben. Abgesehen von morphologischen Abweichungen, etwa im Bau des Schädels, halfen hier einmal mehr genetische Studien, die bisher übersehenen Formen zu unterscheiden. Kurz zuvor hatte dasselbe Team in den ecuadorianischen Anden eine neue Art baumbewohnender Reisratten der Gattung Mindomys entdeckt. Und zuletzt trat 2017 auf einer Insel der Salomonen östlich von Neuguinea mit der immerhin gut einen halben Meter langen Riesenratte Uromys vika die seit beinahe einem Jahrzehnt erste neue Nagerart dieser Region auf.
Kreative Namen
Die Liste neu entdeckter Wirbeltiere lässt sich für Reptilien fortsetzen – darunter Geckos aus der Karibik, ein Waran aus dem Jemen, eine Zwergboa aus Ecuador und eine Natter aus dem Himalaja. Bei Amphibien tauchte gleich eine ganze Serie von Fröschen auf Borneo und Neuguinea sowie von Zwerg- und Buntfröschen aus den Regen- und Bergnebelwäldern Madagaskars auf. Dort stoßen Zoologen und Zoologinnen regelmäßig auf Dutzende unbekannter Spezies, die sie dann einfallsreich etwa Mini mum, Mini scule oder Mini ature nennen. Bei Fischen wurden sie nicht nur in der Tiefsee und den Tropen fündig, sondern ausnahmsweise sogar in Deutschland, wie das Beispiel der im brandenburgischen Stechlinsee lebenden Fontane-Maräne Coregonus fontanae zeigt – immerhin ein fingerlanger Fisch, dessen nächste Verwandte seit Langem als Speisefische beliebt sind.
Während die Inventur der Natur bei Wirbeltieren nahezu komplett erscheint und die Zahl neu beschriebener Arten im Verlauf der vergangenen beiden Jahrhunderte – mit Ausnahme der Amphibien – bereits deutlich zurückging, gilt dies keineswegs für die Mehrzahl der Organismen. Denn weiterhin werden fast alle bisher unbekannten Spezies unter den Wirbellosen entdeckt: bei Krebsen und Krabben, Spinnen und Stabschrecken sowie bei den zahllosen Faltern, Fliegen, Wespen oder Käfern – jenen »little things that run the world«, wie sie der 2021 verstorbene Biodiversitätsforscher und Ameisenexperte Edward Wilson auf Grund ihrer enormen ökologischen Bedeutung nannte. Meist wirken diese Tiere weniger spektakulär, aber kreative Zoosystematiker versuchen inzwischen ihren Neuentdeckungen durch berühmte Namenspaten größere mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen: etwa mit Neuzugängen unter den Spinnen wie Heteropoda davidbowie und Thunberga greta, mit der Ameise Zasphinctus obamai oder einer unscheinbaren Motte namens Neopalpa donaldtrumpi. Unsere Arbeitsgruppe benannte fünf der von uns auf Sulawesi gefundenen Seeschnecken nach bedeutenden Forschern, die sich mit Themen des Anthropozäns befassen, darunter dem Nobelpreisträger Paul Crutzen und eben Edward Wilson.
Fast alle bisher unbekannten Spezies werden unter den Wirbellosen entdeckt
Dennoch: Was unsere Kenntnis der Artenvielfalt angeht, vor allem unser Wissen um Biodiversität allgemein sowie deren Verteilung und Funktionalität gerade bei den zahllosen Wirbellosen, sind wir kaum besser informiert als einst die Europäer des Mittelalters, die vor den Expeditionen von Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci in die so genannte Neue Welt nichts von der globalen Geografie ahnten. Längst aber gestaltet sich die Entdeckung der Biodiversität als Wettlauf gegen die Zeit; unentwegt verschwinden Arten und sterben aus, bevor sie überhaupt gefunden und beschrieben werden. Für Artenforscher ist es, als ob sie durch eine brennende Bibliothek liefen und versuchten, wenigstens noch ein paar Titel der Bücher zu notieren, bevor diese ein Raub der Flammen werden.
Nicht nur eine Frage der Arten
Dabei ist die Sache mit der biologischen Vielfalt noch komplizierter. Die Grundfragen der Biologie lauten: Welche Lebewesen bewohnen die Erde? Warum gibt es so viele verschiedene Arten? Und was bewirken sie? Biologische Spezies repräsentieren gleichsam die Atome der Evolution, die basalen und wichtigsten Einheiten des biologischen Geschehens unseres Planeten.
Auf den einfachsten Nenner gebracht, umfasst die Vielfalt der Arten – die biologische Diversität – die Summe aller lebenden Organismen, ob einzellig oder vielzellig organisiert, also aller Bakterien, Protisten, Pilze, Pflanzen und Tiere. In der breitesten Definition ist Biodiversität synonym mit der Gesamtheit des irdischen Lebens. Konkret verstehen wir darunter die natürliche Vielfalt auf drei verschiedenen Organisationsniveaus: von den Genen über Arten bis hin zu ganzen Ökosystemen. Es ist somit nicht nur die Palette aller Organismen mit ihrer Vielgestaltigkeit an Bauplänen gemeint, die eigentliche Artendiversität; vielmehr geht es gleichfalls um erbliche Unterschiedlichkeit innerhalb einer Gruppe von Lebewesen, sprich um die genetische Diversität, sowie schließlich um die Vielfalt ganzer Lebensräume. Daher beeinflusst es durchaus erheblich unser Verständnis vom Ausmaß, aber auch vom gegenwärtig drohenden Verlust der Biodiversität, wenn wir nicht bloß Arten an sich betrachten, sondern ebenso die Erbfaktoren und die Lebensräume, die mehr ausmachen als nur die Summe der sie aufbauenden Spezies. Dabei stellen die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Organismen in den Ökosystemen, die funktionelle Diversität, eine wichtige – und erst in Ansätzen verstandene – Komponente des Lebendigen dar.
Dennoch stehen weiterhin die Arten bei der Frage nach biologischer Vielfalt am häufigsten im Fokus, und Biodiversität wird meist anhand der Artenzahl an einem gegebenen Platz zu einer bestimmten Zeit beurteilt. Etliche Menschen gehen davon aus, dass Biosystematiker – die Vermessungsingenieure der biologischen Vielfalt – ihre Arbeit längst erledigt hätten; schließlich gibt es ihre wissenschaftliche Disziplin seit mehr als zwei Jahrhunderten und gilt vielen als altmodisch und geradezu verstaubt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Taxonomen fangen als Artendetektive gerade erst richtig an, und neue Techniken führen zu einer Renaissance oder gar Revolution der Biosystematik.
Taxonomen fangen als Artendetektive gerade erst richtig mit der Arbeit an
Tatsächlich leben wir auf einem in biologischer Hinsicht noch immer weitgehend unbekannten und unerforschten Planeten, den der Mensch allerdings schneller als jemals zuvor verändert. Lange war nicht einmal die Größenordnung der Anzahl aller auf der Erde lebenden Organismen bekannt. Weder wusste man, wie viele Spezies an Tieren, Pflanzen und Pilzen oder gar an Bakterien und Viren existieren, noch, wie viele schon entdeckt und benannt worden sind. Zoologen und Botaniker haben schlicht versäumt mitzuzählen, und es gab keine verpflichtende Registratur für Neubeschreibungen. Solch eine Art Melderegister für biologische Neuzugänge schlagen Experten zwar seit Langem vor, doch umgesetzt wurde dieses Megaprojekt der Biodiversität bisher nicht.
Eine lange Tradition
Keine Frage: Taxonomie, die oft etwas abschätzig betrachtete Beinchen- und Borstenzählerei oder Blütenbeschau, blickt auf eine lange Tradition zurück. Als Erster bilanzierte Aristoteles (384–322 v. Chr.), der griechische Begründer der Naturkunde und zugleich einer der großen Denker des Abendlandes, in seiner Schrift »Historia animalium« anhand der Tierwelt der östlichen Ägäis noch recht überschaubar rund 580 Arten.
Knapp zwei Jahrtausende später war die Biosystematik kaum weiter, als 1735 der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) in der ersten Auflage seines Werkes »Systema Naturae« gerade einmal 549 Tierspezies aufführt, die er erstmals konsequent mit einem zweiteiligen Namen aus Gattung und Art bezeichnete. Zwar korrigierte der Gründervater der biologischen Systematik in seiner 1758 erschienenen zehnten Auflage die Zahl nach oben und verzeichnete nun immerhin neben knapp 4300 Tierarten weitere rund 6000 Pflanzenspezies. Dies stellte zusammen ein Vielfaches dessen dar, was man zuvor angenommen hatte, umfasst aber ebenfalls nur einen Bruchteil der wirklichen Mannigfaltigkeit auf der Erde. Linné und etliche Generationen von Naturforschern und -forscherinnen nach ihm ahnten nicht einmal im Ansatz, welchen Umfang die Biodiversität wirklich aufweist. Vielleicht noch erstaunlicher erscheint es, dass es bis in unsere Tage gedauert hat, bis sich die Biologie dessen wirklich bewusst wurde. Obgleich Systematiker ständig neue Arten beschrieben, stellte lange keiner die eigentlich naheliegenden Fragen nach dem Ausmaß der Artenfülle sowie wie viele und welche eigentlich jedes Jahr weltweit erfasst wurden.
Die wahre Dimension der überbordenden Fülle des Lebens auf unserem Planeten blieb lange ignoriert
So besaß niemand einen Überblick oder warf überhaupt die Frage nach der Artenzahl auf. Zwar veränderten Naturforscher, darunter bedeutende wie Alfred Russel Wallace (1823–1913) und Charles Darwin (1809–1882), mit Neubeschreibungen die Grundlage unserer Sicht auf die Natur. Doch so viele Spezies auch gesucht, gefunden und beschrieben wurden – die wahre Dimension der überbordenden Fülle des Lebens auf unserem Planeten blieb lange ignoriert.
Als etwas weitsichtiger erwies sich am Ende des 19. Jahrhunderts der Museumsdirektor Karl August Möbius (1825–1908): Anlässlich des Umzugs der zoologischen Sammlung von der Berliner Universität in das damals neu gebaute Museum für Naturkunde versuchte er, den Platzbedarf abzuschätzen, und ermittelte überschlägig für einzelne Gruppen, wie viele Tierarten bereits beschrieben und hinterlegt wurden. Allerdings blieb auch seine Hochrechnung von nicht einmal einer halben Million Spezies weit hinter der Realität zurück.
Grobe Abschätzungen
Zu einer regelrechten Obsession, die diversen Lebensformen zu kartieren, zu ordnen und zu vergleichen, avanciert die Artenfrage erst seit Neuestem – nicht zuletzt aus der Not heraus. Denn am Anfang des Erhalts der für uns ebenfalls lebenswichtigen biologischen Vielfalt steht deren Erfassung. So wurde in den 1980er Jahren nicht nur der Begriff der Biodiversität geprägt, sondern es begann auch ein neues Kapitel der Erforschung der Artenvielfalt. Allerdings gehen die Schätzungen über die Gesamtzahl aller Spezies auf der Erde noch immer weit auseinander.
Nachdem der Insektenforscher Terry Erwin (1940–2020) einen einzigen Urwaldbaum in Panama mit einem Insektengift eingenebelt und allein die herabfallenden Käfer gezählt hat, schloss er 1982 durch eine gewagte Hochrechnung darauf, dass auf der Erde bis zu 30 Millionen Gliederfüßerarten leben müssten. Sein nur zweiseitiger Aufsatz in einem eher unbekannten Journal zählt heute zu den meistzitierten – wenngleich nicht unbedingt meistgelesenen – Arbeiten des Fachs und entfachte die Debatte neu.
Wie man Arten zählt
Die allermeisten Organismen der Erde sind weder erkannt noch benannt und die wenigsten der neu beschriebenen näher untersucht. Zwar können wir näherungsweise sagen, dass inzwischen etwa 80 oder 90 Prozent aller Blütenpflanzen und 95 Prozent aller Vögel bekannt sein dürften. Aber die Mehrzahl der tierischen Organismen, allen voran Insekten und andere Wirbellose, gilt es noch immer zu entdecken. Auch dürften weniger als zehn Prozent aller Pilze und ebenso aller Mikroorganismen (Bakterien und anderer einzelliger Lebewesen) erfasst sein. Unser Wissen zur Biologie und Biodiversität basiert daher im Wesentlichen auf Vögeln und Säugetieren sowie einigen Gefäßpflanzen.
Zudem gehen die Schätzungen zur Artenvielfalt weit auseinander. 2011 versuchten Meeresökologen um Camilo Mora die noch zu erwartenden unbekannten Arten grob zu quantifizieren: Anhand des historischen Verlaufs sämtlicher Neubeschreibungen seit 1758, dem Beginn der zoologischen Nomenklatur, extrapolierten die Forscher den zukünftigen Zuwachs der einzelnen Kategorien des hierarchisch gestuften linnéschen Ordnungssystems wie Stamm, Klasse, Ordnung, Familie und Gattung und schlossen damit auf eine Vielzahl unentdeckter Spezies in der Größenordnung einer Zehnerpotenz. Von den so angenommenen 8,7 (plus/minus 1,3) Millionen Arten dürften 6,5 Millionen an Land und 2,2 Millionen in den Ozeanen leben; von ihnen wären 86 beziehungsweise 91 Prozent noch unbeschrieben.
Auch wenn seine Aufsehen erregende Extrapolation inzwischen als zu hoch gegriffen erscheint und fast alle Biodiversitätsforscher von deutlich weniger Arten ausgehen, stellt die Biodiversität der Erde ein ungeheures Füllhorn der Natur dar, dessen Boden bislang nicht zu erkennen ist. Forscher um Camilo Mora, heute an der University of Hawaii, halten die seitdem vielfach genannte Zahl von gut acht bis neun Millionen Eukaryotenarten (Eukaryoten sind Lebewesen mit einem echten Zellkern) für wahrscheinlich (siehe »Wie man Arten zählt«). 2013 kamen Mark Costello, damals an der neuseeländischen University of Auckland, und seine Kollegen nach Datenbankanalysen auf fünf (plus/minus drei) Millionen Spezies. In jedem Fall existiert eine unglaubliche Artenfülle nicht nur von Wirbeltieren wie Vögeln, Säugern, Reptilien und Fischen, sondern vor allem von Käfern und Schmetterlingen, Mücken und Bienen bis hin zu Weichtieren, Würmern und anderen Wirbellosen. Allein von den bisher bekannten Arten auf die wahre Biodiversität zu schließen, ähnelt also etwa der Annahme, bereits nach dem Besuch einiger Imbissstände die kulinarischen Genüsse der Welt zu kennen.
Wie groß ist das bereits vorhandene Inventar?
Dass unser Planet noch immer ein höchst unbekannter Ort ist, legt nicht nur das Ausmaß unserer Unkenntnis über die tatsächliche Artenfülle nahe. Hinzu kommen die Schwierigkeiten, die wir bereits mit der an sich einfachen Frage haben, wie viele Arten von Tieren und Pflanzen, von Pilzen und anderen Lebewesen schon beschrieben sind. Es gibt weder einen vollständigen Katalog noch eine einheitliche Datenbank. Je nach Organismengruppe und Abschätzung der Gesamtzahl dürften es zumindest bei den Tieren kaum mehr als ein Viertel aller Arten sein – insgesamt zwischen anderthalb und zwei Millionen (siehe »Buchführung«). Bei den Pilzen, dem mit geschätzten zwei bis vier Millionen Spezies nach den Tieren zweitgrößten Organismenreich der Erde, ist der Anteil der bisher erfassten 120 000 Arten mit etwa drei bis sechs Prozent noch kleiner. Die Zahl der Pflanzenarten dürfte nach einschlägigen Abschätzungen wohl zwischen 220 000 und 450 000 liegen; hier sind bereits um die 80 oder gar 90 Prozent bekannt. Allerdings sind sich Botaniker nicht einmal bei den gut erforschten Bäumen sicher. Ihre jüngsten Hochrechnungen gehen davon aus, dass es weltweit über 73 000 Baumarten gibt, von denen indes mehr als 9000 (immerhin zwölf Prozent) noch unbekannt sein dürften; knapp die Hälfte davon wachsen vermutlich am Fuß der Anden sowie im Amazonasbecken.
Im Vergleich dazu haben die zoologischen Neuzugänge vor allem bei Säugetieren, aber auch bei Vögeln und Reptilien eher Seltenheitswert. Mit Ausnahme der Amphibien und Fische gelten Wirbeltiere heute als fast vollständig erfasst, sowohl auf Gattungs- wie wohl auch weitgehend auf Artniveau. Zuletzt wurden neue Säugerspezies beinahe ausschließlich unter den kleineren terrestrischen Vertretern sowie einigen Meerestieren ausgemacht. Und bei den Vögeln – immerhin der einzigen Tiergruppe, für die Systematiker regelmäßig eine aktuelle Übersicht der neu entdeckten Arten herausgeben – hat sich die Inventarliste weltweit in den vergangenen Jahrzehnten gerade einmal um 0,05 Prozent verlängert.
Sicherlich die größten Lücken tun sich bei den Wirbellosen auf. Bei Insekten sind zwar bereits um die 850 000 Arten erfasst, doch müssen weltweit vermutlich noch zwischen 80 und 95 Prozent beschrieben werden. Allein die Zahl der Käfer oder parasitischen Wespen schätzen Fachleute auf rund eine Million, obgleich von Käfern und Hautflügeln (zu denen Wespen zählen) kaum mehr als 350 000 beziehungsweise 150 000 Arten weltweit beschrieben sind. Ähnlich sieht es bei Weichtieren wie Schnecken und Muscheln aus, bei denen zu rund 80 000 bisher erfassten Spezies möglicherweise noch einmal bis zu 120 000 weitere unbeschriebene Arten hinzukommen könnten.
Schatzkammern draußen und drinnen
Fündig werden die Artenentdecker am häufigsten in den letzten biologischen Schatzkammern der Erde, etwa in abgeschotteten oder entlegenen Regionen Indochinas, auf Neuguinea oder Madagaskar, in den tropischen Regenwäldern Zentralafrikas oder Amazoniens sowie in den Tiefen der Weltmeere. In Südamerika gibt es nicht nur die mit Abstand größte Artenvielfalt bei Tieren wie bei Pflanzen; dort werden auch die meisten der neu zu entdeckenden Arten vermutet.
Selbst in den Naturkundemuseen und Herbarien der Welt verbergen sich viele noch unbeschriebene Organismen
Selbst in den Naturkundemuseen und Herbarien der Welt verbergen sich viele noch unbeschriebene Organismen. Denn meist konnten Taxonomen neue Arten nicht so schnell katalogisieren, wie sie gefunden werden. Daher liegen die Neuentdeckungen oft jahrelang unbearbeitet und unerkannt in den Museumssammlungen, in Schubladen und Schrankregalen voller mit Alkohol gefüllter Gefäße. Im Schnitt vergehen vom Fundzeitpunkt an gerechnet 21 Jahre, bevor sich ihrer jemand annimmt und sie als eigenständige Art identifiziert. Auch bei Pflanzen wurden nur 16 Prozent der in den vergangenen fünf Jahrzehnten neu hinzugekommenen Spezies anhand von Exemplaren beschrieben, die weniger als fünf Jahre zuvor gesammelt worden waren – 84 Prozent hatten also deutlich länger in den Herbarien gelagert, und bei einem Viertel entdeckte man die Arten erst nach mehr als einem halben Jahrhundert. Demnach dürften von den schätzungsweise 70 000 noch zu beschreibenden Pflanzenspezies etwa die Hälfte bereits in den weltweit verstreuten Herbarien liegen. So schlummern in den Naturkundemuseen rund um den Globus wahre biologische Schätze. Auch deshalb stellen Museen wertvolle Archive des Lebens dar, deren Bestände immens wichtig für die vollständige Erfassung und das Verständnis der Biodiversität sind.
Dieses »Regalleben« weist zudem auf einen weit verbreiteten Irrtum hin: Neue Arten werden nicht gleich beim Auffinden in der Natur erkannt, sondern meist erst nach eingehender Untersuchung und dem Vergleich mit bereits beschriebenen Spezies. Das dauert seine Zeit, auch wenn es heute dank neuer molekulargenetischer Verfahren zunehmend schneller geht. Doch ob nun in Museumssammlungen oder in den Tropen und der Tiefsee, in Bergwäldern oder Korallenriffen – auf jeden Fall harren noch Millionen Arten ihrer Entdeckung. Dabei identifizieren und inventarisieren Systematiker gegenwärtig mehr neue Tierarten als je zuvor. Beinahe täglich finden sich verstreut in den Fachjournalen einschlägige Arbeiten, die weitere Neuzugänge behandeln. Wenngleich niemand genau zu sagen vermag, wie viele Neubeschreibungen jährlich hinzukommen, dürften es weltweit zwischen 15 000 und 18 000 sein.
Ein Ende der Inventur der Natur ist nicht abzusehen
Ein Ende der Inventur der Natur ist mithin nicht abzusehen. Je nachdem, ob es nun insgesamt fünf oder mehr als acht Millionen Arten sind, bräuchten wir bei der aktuellen Entdeckungsrate mehrere hundert Jahre.
Vom Schmetterlingskescher zur Gensequenzierung
Auch deshalb ist derzeit eine regelrechte Revolution in der Taxonomie im Gang. Während lange allein körperbauliche Merkmale im Fokus standen, entwickeln Biosystematiker inzwischen innovative molekulargenetische Verfahren, die zur Turbo-Inventarisierung der Organismenwelt beitragen sollen. Die Zeiten sind vorbei, in denen Taxonomen allein mit Schmetterlingskescher oder Botanisiertrommel weltweit durch Wiesen und Wälder streiften, um sich anschließend in endlosen Museumssammlungen hinter vergilbten Monografien zu vergraben und ihre möglichen Neufunde mit bereits beschriebenen Arten zu vergleichen. Um schneller mehr Spezies aufzuspüren und zu klassifizieren, analysieren sie diese mittlerweile über DNA-Barcoding, wobei ein genetischer Fingerabdruck Arten mit Hilfe von Markergenen wie bei der Produkterkennung anhand eines Strichcodes identifiziert. Entscheidend dabei ist, dass Individuen der gleichen Spezies nahezu identische Kennsequenzen besitzen – bei Tieren etwa jene der mitochrondrialen Cytochrom-c-Oxidase –, während verschiedene Arten hier größere Unterschiede aufweisen. Durch entsprechende nationale und internationale Projekte, darunter in Deutschland die DNA-Bibliothek »German Barcode of Life« (GBOL), werden weltweit immer mehr Arten automatisiert erfasst und ihre Gensequenzen in Datenbanken hinterlegt. Das in Kanada entwickelte »Barcode of Life Data System« (BOLD) enthält inzwischen über 1,7 Millionen Barcodes von weit mehr als einer Million Spezies.
Während dabei anfangs noch einzelne Arten identifiziert wurden, liefert das auf Umwelt-DNA basierende Biodiversitätsmonitoring wesentlich radikalere Ansätze. Dabei werden aus Umweltproben, etwa aus Meereswasser oder Urwaldboden, automatisiert die Spuren der darin enthaltenen DNA ausgelesen und so sämtliche Lebewesen identifiziert. Über diese eDNA (environmental DNA) lässt sich innerhalb kürzester Zeit analysieren, welche Arten etwa von Würmern, Wanzen oder Welsen in einem bestimmten Lebensraum vorkommen (siehe Teil 2 der Serie in »Spektrum« März 2024). Das internationale Projekt BIOSCAN, das die kanadische Regierung mit umgerechnet rund 17 Millionen Euro fördert, soll durch eine solche Bestimmung von DNA-Proben die globale Artenvielfalt »in noch nie da gewesener Geschwindigkeit und Menge« erfassen und überwachen.
Diese Turbo-Taxonomie lässt sich vor allem bei so genannten hyper- oder megadiversen Gruppen einsetzen, wie etwa den artenreichen Insekten und Spinnen, wo selbst in der heimischen Fauna tausende unbekannte Spezies zu finden sind. Besondere Herausforderung für Artenentdecker stellen jene neuerdings gern als »Dark Taxa« bezeichneten Gruppen dar, bei denen definitionsgemäß bisher weniger als zehn Prozent von wahrscheinlich mehr als 1000 erwarteten Arten erfasst worden sind, die sämtlich noch keinen wissenschaftlichen Namen haben und sich bislang stattdessen lediglich mit einem genetischen Barcode begnügen müssen (siehe »Spektrum« April 2023, S. 29). Wie sehr Molekularsystematiker hier buchstäblich in taxonomische Dunkelheit starren, offenbarte 2022 eine Studie der Entomologin Caroline Chimeno von der Zoologischen Staatssammlung München am Beispiel von vier Familien der heimischen Zweiflügler (dazu gehören Fliegen und Mücken), von denen Experten bisher hier zu Lande rund 9500 Arten kannten, nun aber wenigstens weitere 1800 bis 2200 erwarten.
Die Unzulänglichkeit automatisierter Artentdeckung
Keine Frage: Wir müssen die Erfassung und Beschreibung der Biodiversität nennenswert beschleunigen. Dabei geraten derzeit allerdings meist die technischen Aspekte verschiedener Verfahren mit hochskalierter Automatisierung wie Metabarcoding oder Hochdurchsatz-Sequenzierung – also die parallele Analyse tausender Genfragmente – in den Blick. Doch die Suche nach leichteren, schnelleren und kostengünstigeren Methoden zur effizienten Bearbeitung von Sammelobjekten lässt wesentliche Aspekte einer evolutionären Systematik außer Acht. Zwar liefern moderne Verfahren massenhaft Barcodes, ob jedoch das Probenmaterial wirklich eine neue biologische Spezies repräsentiert, wird vielfach nicht näher untersucht. Molekulargenetiker ersparen sich dadurch die taxonomische Arbeit von Jahren oder Jahrzehnten, bekommen allerdings im Wesentlichen nur immer längere Sequenzen und große Zahlen. Das Metabarcoding etwa von Bodenproben oder gemischten Insektenfängen, die aus Tausenden unterschiedlicher Arten bestehen, liefern eher Vergleichszahlen zum Biomonitoring, ermöglichen jedoch kaum verlässliche Neubeschreibungen einzelner Arten und noch weniger Einsichten in die Komponenten und Funktionalitäten von Biodiversität.
Zudem stoßen Barcoding-Ansätze gerade bei den in evolutionsbiologischer Hinsicht spannenden jungen Spezies, die sich also erst vor vergleichsweise kurzer Zeit voneinander getrennt haben, schnell an ihre Grenzen. Anders als bei etablierten Vögeln und Insekten liefern sie beispielsweise bei den jungen Süßwasserschnecken der »lost world« Sulawesis nachweislich keine verlässlichen Ergebnisse über Artstatus oder phylogenetische Verwandtschaft.
Hinter der reinen Arithmetik des Artenzählens stecken grundsätzliche biologische Probleme, die letztlich damit zu tun haben, wie wir Arten erfassen und definieren. Einerseits wollen wir keine übersehen, sei sie noch so schwer zu erkennen, andererseits müssen wir überflüssige Benennungen vermeiden – beides kein triviales Problem. So tauchen in der Literatur mehr als 50 000 Namen für Fische auf, von denen aber nur rund 31 000 als valide und eigenständige Arten akzeptiert sind. In dieser Tiergruppe beträgt die taxonomische Redundanz mithin 38 Prozent; jeder dritte Name ist überflüssig, und ihre tatsächliche Biodiversität liegt demnach insgesamt niedriger.
Noch bedenklicher erscheint die Mehrfachbenennung bei vielen Mollusken. Wie unsere Studien etwa an ausgewählten Gruppen von im Süßwasser lebenden Schnecken und Muscheln zeigen, erreicht die taxonomische Redundanz hier Werte von bis zu 80 Prozent; oft gibt es sogar weit mehr als dreimal so viele Namen wie existierende Arten, was eine erhebliche Unschärfe in die Erforschung der Biodiversität bringt (siehe »Entdeckungsfehler«).
Entdeckungsfehler
Viele Arten wurden von mehreren Forschern »neu entdeckt« und sind daher mehrfach unter verschiedenen Namen in die Literatur eingegangen. So erhielt der 1857 vom dänischen Naturforscher Japetus Steenstrup (1813–1897) erstmals beschriebene Riesenkalmar Architeuthis dux anschließend noch 20 weitere Namen. Mehr als zwei Dutzend Schmetterlingsforscher vergaben für den unter Vanessa atalanta firmierenden und in seiner Zeichnung variierenden Admiral nach der 1758 durch Carl von Linné (1707–1778) erfolgten Erstbeschreibung sogar 47 verschiedene wissenschaftliche Bezeichnungen. Die Rekordhalter in Sachen Synonyme finden sich unter den Schnecken, etwa bei den knapp 70 Valvata-Verwandten, für die zusammen 210 Namen existieren. Für die 29 heute als valide angesehenen Arten der weit verbreiteten Strandschnecke Littorina wurden insgesamt 175 Namen vergeben; so bekam die Felsenstrandschnecke Littorina saxatilis 113 verschiedene taxonomische Bezeichnungen. Selbst unser gewöhnlicher Feldhase, zuerst 1778 Lepus europaeus genannt, schmückt sich mit 43 wissenschaftlichen Namen. Und auch die beiden heute unterschiedenen Arten des Gorillas wurden nach ihrer ersten Entdeckung ungefähr 20-mal unabhängig voneinander beschrieben.
Solche Entdeckungsfehler, zu denen es aus verschiedenen Gründen kommt, führen zu einer gerade bei Wirbellosen oft unterschätzten taxonomischen Redundanz von nicht selten zwei Dritteln und mehr. Das Ausmaß ist für einzelne Organismengruppen auf Grund von Bestimmungsproblemen sowie von Benennungstraditionen sehr unterschiedlich und nur schwer abzuschätzen.
Beim fabrikartigen Durchsatz von diversen Organismengruppen wird dies aber ebenso wenig beachtet wie der Umstand, dass Sequenzdifferenzen längst nicht ausreichen, um Lebewesen in Sammelproben als neue und valide Arten auszuweisen. Zudem kann es allein auf Grund einer veränderten systematischen Bewertung des Artstatus zur taxonomischen Inflation kommen. So verdoppelten US-amerikanische Ornithologen anhand molekularbiologischer Analysen über Nacht die Zahl sämtlicher Vogelarten der Erde auf rund 18 000, ohne nur eine einzige Spezies neu entdeckt zu haben. Eine andere Form von wundersamer Artenvermehrung findet sich selbst bei bekannten Säugern, vom Elefanten und der Giraffe bis hin zum Orang-Utan und dem Nebelparder, bei denen Taxonomen mittels DNA-Marker so genannte kryptische Arten enttarnten. Diese lebten bisher gleichsam inkognito irgendwo auf der Erde, ohne dass die Artdifferenzen erkannt wurden.
Ob sich hinter DNA-Differenzen echte biologische Spezies oder lediglich bloße Phantome verbergen, bleibt umstritten
Ob sich hinter DNA-Differenzen echte biologische Spezies oder lediglich bloße Phantome verbergen, bleibt umstritten. Molekulargenetische Analysen tragen einerseits gerade im Hochdurchsatz zu einer wahren Flutwelle nur vermeintlich neuer Arten bei, andererseits können sie bei sorgfältigem Einsatz maßgeblich dabei helfen, den tatsächlichen Verwandtschaftsgrad zu ermitteln.
Verwaiste Lehrstühle
Bei aller Euphorie über automatisierte Verfahren wird übersehen, dass nach wie vor das Sammeln im Feld und das Präparieren der Proben im Labor der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Biodiversitätsforschung ist, insbesondere bei Arten in schwer zugänglichen Lebensräumen, von der Tiefsee bis zur Kronenregion tropischer Regenwälder. Doch zum einen erschweren gerade dort immer striktere Vorschriften die Freilandforschung internationaler Forschungsteams. Zum anderen fehlen allerorts Biosystematiker, deren Bestimmungsarbeit häufig lediglich von Autodidakten übernommen wird, da heute nicht nur in Deutschland viele Systematiklehrstühle an den Universitäten verwaist oder umgewidmet sind. Jetzt, da es um den Erhalt der Biodiversität geht, rächt sich, dass diese Disziplin allzu lange ein Aschenputteldasein fristete.
Zwar haben sich ihre Techniken durch die Turbo-Taxonomie gewandelt, aber ob sich die Biosystematik dadurch wirklich neu erfindet, ist noch nicht ausgemacht. Und damit die vollständige Inventur der Natur tatsächlich zum globalen Großforschungsprojekt avanciert, müssen wir vor allem in die Ausbildung von Taxonominnen und Taxonomen investieren, die auch weiterhin zwischen Arktis und Amazonas nach neuen Arten jagen, um die Vielfalt der Lebewesen zu erkennen und adäquat zu benennen.
Derzeit leben wir paradoxerweise in einem wahrhaft goldenen Zeitalter der Biosystematik, in dem insgesamt mehr neue Spezies schneller entdeckt werden als jemals zuvor. Zugleich erleben wir eine menschengemachte Biodiversitätskrise sowie Bedrohungen der Biosphäre, bei der wir viele Arten durch Verlust ihres Lebensraums rascher einbüßen, als wir hoffen können, sie zu erfassen und zu beschreiben (siehe »Spektrum« Oktober 2021, S. 30). Unsere bisherige Ignoranz diesem Untergang biologischer Vielfalt gegenüber könnte sich durchaus als die größte nicht wiedergutzumachende Dummheit der Menschheit herausstellen. Denn auch wir Menschen hängen mit unserer Ernährung und Gesundheit von genau dieser Biodiversität als Ergebnis einer jahrmillionenlangen Evolution ab.
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