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Zukunft der Menschheit: Wir Methusalems

Die Menschheit wird nicht nur größer, sie wird auch älter. Das hat Auswirkungen auf die Gesellschaften dieser Erde, aber möglicherweise ebenso auf unsere Einstellung gegenüber dem Alter selbst. Teil 2 der Serie "Zukunft der Menschheit".
Alter Mann
Wer heute ein Kind zur Welt bringt, schenkt ihm ein langes Leben. Ein Mädchen etwa, das 2009 geboren wurde, erreicht voraussichtlich ein Alter von 83 Jahren alt, ein Junge eines von 77. Etwa die Hälfte der heute Zweijährigen indes, berechnete eine Studie, könnte sogar einhundert Jahre alt werden. Allein in Großbritannien werden nach Angaben des Department for Work and Pensions 2050 etwa 250 000 Menschen Geburtstage mit zwei Nullen feiern. "Der König wird sehr beschäftigt damit sein, Glückwunschkarten zu verschicken", ulkt John Benyon, Forschungsdirektor des Institute of Lifelong Learning an der University of Leicester.

Gesellschaft 3.0 | Bevölkerungswachstum, Ernährung, Überalterung, Immigration und Integration: Wir leben in einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen. Spektrum der Wissenschaft und spektrumdirekt stellen im Heft und online aktuelle Forschungsansätze zu den wichtigsten Herausforderungen vor.
Die Menschheit wächst also nicht nur, sie wird auch immer älter. Im Jahr 1950, haben die Vereinten Nationen errechnet, gab es etwa 200 Millionen Menschen weltweit, die über 60 Jahre alt waren. Im Jahr 2000 war ihre Zahl auf 600 Millionen gestiegen. Und 2050 könnten gar mehr als 2 Milliarden Menschen dieses Alter erreichen. Jedes Jahr wächst die Zahl der Alten auf der Welt um zwei Prozent, und unter ihnen nimmt die Zahl der sehr alten Menschen von 85 Jahren aufwärts am stärksten zu. Die Folge: Obwohl die Menschheit als Ganzes weiterhin rasant wächst, nimmt doch der prozentuale Anteil der Alten in ihr immer weiter zu. Allein in den entwickelten Ländern steigt die Lebenserwartung jedes Jahr um weitere drei Monate.

Europa altert früher

Der Trend verläuft jedoch regional stark unterschiedlich: "Als eine der ersten Regionen wird Europa altern", sagt Vegard Skirbekk, Leiter des Age and Cohort Change Project des International Institute for Applied Systems Analysis in Wien. Bis 2030, denken Experten wie er, wird die Hälfte der europäischen Bevölkerung 50 Jahre und älter sein. Die Prognosen für Deutschland sehen ähnlich aus: Bei uns wird der Anteil der über 60-Jährigen bis 2050 bei 37 Prozent liegen – derzeit sind knapp ein Viertel der Deutschen älter als 60.

Auch Asien steht vor einem Wandel: Ein Fünftel aller Menschen über 65 Jahren weltweit lebt heute in China. Im Land selbst stellen die Älteren derzeit zwar nur rund neun Prozent. Experten gehen allerdings davon aus, dass ihr Anteil bis 2050 auf fast ein Viertel der Landesbevölkerung hochschnellen wird. Und auch wenn in den Entwicklungsländern mit derzeit gerade einmal acht Prozent nur wenige alte Menschen leben, wird auch ihre Zahl Prognosen zufolge in wenigen Jahrzehnten auf ähnliche Anteile anwachsen wie bei uns.

Die Ursachen des längeren Lebens sind so einfach wie bestechend: Zum einen ging die Kindersterblichkeit zurück, Krankheiten können heute besser behandelt werden. Zum anderen ernähren wir uns besser, leben gesünder und müssen weniger hart arbeiten. Die Folge: Das Alter, in dem wir tödliche Krankheiten entwickeln, rückt immer weiter nach hinten. Manche Forscher wie James Vaupel, Direktor am Rostocker Max-Planck-Institut für demographische Forschung, glauben gar, dass es gar kein biologisches Höchstalter gibt und wir – theoretisch zumindest – auch 120 Jahre oder älter werden könnten. Der Traum des ewigen Lebens – wir waren ihm wohl noch nie so nah wie heute.

Doch wie das so ist mit Träumen, die in Erfüllung gehen: Eine älter werdende Gesellschaft muss auch die Folgen des langen Daseins bewältigen. Experten gehen davon aus, dass der Trend zum längeren Leben zahlreiche Veränderungen mit sich bringen wird: Und das nicht nur bei Arbeit und Rente, sondern auch in der Politik und in der Art und Weise, wie Altsein gesellschaftlich betrachtet werden wird.

Stehen die Sozialsysteme vor dem Aus?

Glaubt man den Feuilletons der letzten Jahre, steht uns durch das längere Leben Schlimmes bevor: Überalterung, Alten-Schwemme oder der Methusalem-Komplott sind nur einige Begriffe, mit denen der Trend zum längeren Leben kommentiert wurde. Eine zentrale Sorge ist die Frage der Gesundheitsversorgung. Eine Studie der Krankenkasse GEK zumindest ergab, dass jeder Zweite in Deutschland während seines Lebens pflegebedürftig werde. Und das Statistische Bundesamt schätzt, dass es in 20 Jahren doppelt so viele Pflegebedürftige geben könnte wie heute. Es ist also wahrscheinlich, dass mehr Menschen als früher Pflege benötigen werden. Doch bedeutet dies auch, dass diese Menschen, weil sie älter werden, auch ein Mehr an Pflege brauchen werden?

Alter Mann | Die Zahl der Senioren wird in den nächsten Jahrzehnten weltweit gewaltig anwachsen – und fast alle Gesellschaften treffen. Denn betroffen von der Entwicklung sind nicht nur die Länder Europas, sondern auch viele Nationen in Asien oder Südamerika. Eine Ausnahme stellen vorerst noch der arabische und der afrikanische Raum dar.
"Das muss nicht unbedingt sein", sagt Katja Patzwaldt von der Jacobs University in Bremen. Studien hätten gezeigt, dass zwar die letzten Lebensjahre oft durch Krankheiten und auch Pflege belastet würden. Doch wenn die Menschen noch älter würden, wären sie darum nicht gleichzeitig länger krank. Stattdessen würden sich die Phasen, in den sie pflegebedürftig würden, einfach nach hinten verschieben.

Mehr Alte, mehr Pflege?

Auch düstere Prognosen bezüglich Demenz und Alzheimer sehen Wissenschaftler durchaus unterschiedlich. Einerseits prognostiziert das Max-Planck-Institut für demographische Forschung, dass die Zahl der dementen Patienten in Deutschland allein auf Grund der höheren Lebenserwartung von derzeit etwa 1,2 Millionen auf etwa 2 bis 2,7 Millionen steigen wird. Gleichzeitig gehen die Forscher aber so wie andere Experten davon aus, dass die dementen Lebensphasen durchaus später auftreten könnten als bislang. Diese These wird auch durch eine Studie der Jacobs University bestärkt: Tests ergaben dabei, dass ein aktiver Lebenswandel mit körperlicher Bewegung die kognitiven Fähigkeiten von Senioren positiv beeinflussen kann.

Mediziner gehen zudem davon aus, dass heutige 60-Jährige körperlich so fit sind wie ein 55-Jähriger der vorhergehenden Generation. Und da die Alten von heute wesentlich aktiver und auch wohlhabender sind als die Senioren früherer Epochen, könnte ihr Lebenswandel auch einen positiven Effekt auf ihre späteren Gebrechen haben.

Dennoch werden sich die Gesellschaften dieser Welt durch die Zunahme der Alten wohl grundlegend ändern. In China zum Beispiel wurden bislang die meisten Senioren zu Hause gepflegt – traditionell von der Schwiegertochter. Doch wegen der rigiden Ein-Kind-Politik sinkt die Menge der Arbeitnehmer und damit der Steuerzahler, die Schwiegertöchter werden also in Zukunft eher arbeiten gehen, als Oma und Opa zu versorgen. Die chinesische Wirtschaft beginnt bereits, sich auf die neue Situation vorzubereiten: Seit einigen Jahren nimmt im Reich der Mitte die Zahl privater Seniorenheime deutlich zu.

Neue Wertschätzung älterer Arbeitnehmer

Auch an einem der größten Tabus unserer Zeit wird wohl gerüttelt werden: dem Zeitpunkt des Rentenbeginns. Auf die Situation, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer in Zukunft 30 oder 40 Jahre Rente beziehen könnten, sind die Sozialsysteme weder in den USA, Frankreich oder Deutschland noch China eingerichtet. Die meisten europäischen Länder reagieren auf diese Herausforderung momentan mit einer langsamen Heraufsetzung des Pensionsalters.

Doch das wird vermutlich nicht ausreichen. Wie genau die Situation gelöst werden soll, ist umstritten. Sicher ist, dass die Menschen in Zukunft wesentlich länger arbeiten werden und dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf diese Situation einstellen müssen. Dies würde auch einen Wandel in der Wahrnehmung älterer Beschäftigter zur Folge haben, die bislang auf dem Arbeitsmarkt oft Schwierigkeiten bekommen. Dies habe jedoch keine biologischen Gründe, kritisierte der Direktor für Arbeitsmarkpolitik am Institut zur Zukunft der Arbeit Hilmar Schneider vor Kurzem in der "Financial Times Deutschland", sondern sei Folge institutioneller Fehlanreize.

Altersforscher wie Katja Patzwald und Claudia Völcker-Rehage von der Jacobs University in Bremen werben schon länger für eine neue Wertschätzung der Alten. Zwar könnten sich ältere Arbeitnehmer nicht mehr so gut auf Neues einstellen. "Doch gerade in der kristallinen Intelligenz wurde in Studien bei Älteren kein Verfall festgestellt", sagt Völcker-Rehage. Die sprichwörtliche Erfahrung älterer Arbeitnehmer werde momentan schlicht verschenkt. "Bislang gelten die Lebensjahre zwischen 20 und 40 als die produktivsten", kritisiert auch Vegard Skirbekk vom International Institute for Applied Systems Analysis in Wien. Studien in Kanada hätten aber zum Beispiel gezeigt, dass nur 15 Prozent der Arbeitnehmer über 65 Jahre aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten könnten. In Zukunft müsse darum umgedacht werden.

Mehr Arbeit, mehr Macht

Und ein Wandel zeichnet sich schon ab: In Großbritannien nahm die Zahl der arbeitenden Männer im Alter von 50 bis 64 Jahren in den letzten Jahren deutlich zu: Waren 1996 rund 70 Prozent von ihnen in Arbeit, so stieg ihre Zahl bis 2009 auf 77 Prozent. Bei den Frauen in der Altersgruppe von 50 bis 59 Jahren kommen Untersuchungen zu ähnlichen Zahlen: Hier nahm die Erwerbstätigkeit von 61 auf 73 Prozent zu.

Gleichzeitig legt die Macht der Älteren deutlich zu: Im Jahr 2000 etwa waren ein Viertel der Wähler in Großbritannien im Rentenalter, 2021 werden sie ein Drittel der Wähler stellen – und damit auch an politischer Macht gewinnen. In Deutschland zeichnet sich dieser Trend ebenfalls ab:
Im Herbst soll der siebenmilliardste Mensch geboren werden. Aus diesem Anlass berichtet spektrumdirekt in einer mehrteiligen Serie über die "Zukunft der Menschheit" und ihre Chancen wie Probleme, die sich durch die wachsende Zahl an Erdenbürgern ergeben.

Die übrigen Teile der Serie finden Sie unter:
spektrumdirekt.de/zukunft-der-menschheit
Die Wochenzeitung "Die Zeit" bezeichnete vor Kurzem den VdK, den Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands, als eine der schlagkräftigsten politischen Lobbygruppen Deutschlands: "Was der ADAC für Deutschlands Autofahrer ist, ist der VdK für Deutschlands Rentner", schrieb die Journalistin Susanne Gaschke.

Die politische Macht der Alten könnte auch dazu beitragen, das Altern und unseren Umgang damit selbst zu thematisieren. Altersforscher kritisieren schon seit Längerem, dass unsere Vorstellungen und Vorurteile zum Altern mit der heutigen Lebenswelt nur noch wenig gemein haben: "Man sollte das Alter nicht als Verfall wahrnehmen", sagt Katja Patzwald, "sondern eher als eine Entwicklung."

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