Erbgut: Wird die Evolution umgeschrieben?
Kevin Peterson schnappt sich einen Stift und kritzelt einen Stammbaum aufs Papiertischtuch einer Bar in Hanover, New Hampshire. Er zeichnet auf dem Kopf, damit ich die gängige Lehrmeinung zur Entstehungsgeschichte der höheren Säugetiere besser verstehen kann. Erst einmal zieht er eine Linie für die Elefanten, die sich vor etwa 90 Millionen Jahren vom Rest abgezweigt haben. Dann die Hunde, gefolgt von den Primaten (einschließlich der Menschen) und schließlich die Nagetiere – das alles geschah in einer fantastischen Zeitspanne von nur 20 Millionen Jahren. Dieser Stammbaum basiert auf unzähligen genomischen und morphologischen Daten und ist unter Paläontologen allgemein akzeptiert. Nach Petersons Meinung ist er aber völlig falsch.
Der Molekularpaläobiologe vom Dartmouth College hat in den letzten Jahren den Stammbaum völlig umgestellt, nachdem er eine Methode entwickelt hatte, mit der er die Verzweigungen im Evolutionsbaum neu bestimmen konnte. So hat er anhand kleinster Moleküle, den so genannten microRNAs, ein völlig neues Abstammungsdiagramm für die höheren Säugetiere entworfen, in dem die Menschen den Elefanten näher sind als den Nagetieren. "Ich habe Tausende von microRNA-Genen angeschaut, aber kein einziges belegt den alten Stammbaum," sagt er. Die neue Technik "verändert einfach alles, was wir bisher über die Evolution der Säugetiere zu wissen glaubten".
Ursprünglich wollte er natürlich nicht die Lehrbücher umschreiben. Der sanftmütige, aber doch sehr direkte Mann aus Montana hat sich einen Namen gemacht, als er die Entstehung des bilateralen Körperbauplans von vor mehr als 500 Millionen Jahren aufklärte. Besonders interessieren ihn die wirbellosen Tiere im Meer, und diesen etwas ungewöhnlichen Zweig im Stammbaum der Tiere wollte er auch weiterhin erforschen. Aber eine zufällige Untersuchung von microRNAs in den mikroskopisch kleinen Rotiferen änderte alles, und er verbrachte seine Zeit damit, diese Regulatormoleküle in allen möglichen Lebewesen von Insekten bis Seeigeln zu bestimmen. Dabei fand er dann Unstimmigkeiten auf allen Ebenen des Stammbaums.
So schaffte er sich viele Kritiker, aber auch viele Unterstützer. "Peterson und seine Kollegen konnten zeigen, wie sich mittels microRNA-Analyse die Verwandtschaft zwischen den großen Tiergruppen bestimmen lassen," meint Derek Briggs, der Direktor des Yale Paebody Museum of Natural History in New Haven in Connecticut. Mit den Analysen bei Säugetieren setzen Peterson und seine Kollegen aus aller Welt viel aufs Spiel. "Wenn wir das nicht schaffen, wird jegliches Vertrauen [von Phylogenetikern] in die microRNAs verloren sein," fürchtet der Paläobiologe Philip Donoghue von der University of Bristol in Großbritannien, der sich Peterson angeschlossen hat. Und dabei steht eigentlich mehr auf dem Spiel als nur die Methode der microRNAs. "Das könnte das Ende all unserer Karrieren bedeuten", fügt er hinzu.
Fossilienfund als Vierjähriger
Wenn Peterson am Ende gar die Forschungsrichtung wechselt, wird das nicht die erste Veränderung in seinem Leben sein. In den frühen 1990ern arbeitete er nachts in einer Transportfirma in seiner Heimatstadt Helena in Montana, entlud Lastwagen und dachte über sein weiteres Leben nach. Er hatte zuletzt die medizinische Zwischenprüfung am Liberal Arts College in Montana bestanden, doch Arzt wollte er nicht werden. Als er dann eines Tages in der Scheune seiner Eltern rumkramte, entdeckte er seinen ersten Fossilienfund, den er als Vierjähriger aufgehoben hatte. Es war etwas aus der Klasse der Crinoide, ein Haarstern oder eine Seelilie, etwa in der Größe eines Knopfes. "Sofort war mit klar, was ich machen wollte," erzählt er. "Eine Woche später meldete ich mich an der Uni an."
Schon bald nahm er am Doktorandenprogramm des Departments of Earth and Space Sciences an der University of California in Los Angeles teil. Er arbeitete hier bei den Entwicklungsgenetikern Eric Davidson und Andrew Cameron am California Institute of Technology in Pasadena. Im Laufe seiner Arbeit als Doktorand und Postdoktorand entwickelten die drei Forscher eine provokante Hypothese. So sollten die Vorfahren der heutigen Tiere larvenähnliche Kreaturen mit ein paar undifferenzierten Zellen gewesen sein. Aus diesen sollten sich dann all die Körpertypen gebildet haben, die während der kambrischen Explosion entstanden. Die Idee stand damals unter Beschuss der gesamten Gemeinde von Evolutions- und Entwicklungsbiologen.
Ein paar Jahre nachdem er im Jahr 2000 sein eigenes Labor in Dartmouth gegründet hatte, wollte Peterson die alte Hypothese überprüfen und stieß dabei auf die microRNAs. Diese waren im Jahr 1993 von Victor Ambros entdeckt worden, der inzwischen an der University of Massachusetts Medical School in Worcester arbeitet. Die kurzen, haarnadelförmigen Moleküle binden an Boten-RNA und verhindern so die Proteinsynthese. Wie ein Forscherteam mit Davidson dabei zeigen konnte, ist die micro-RNA let7 in Tierstämmen mit bilateralem Körperbau, nicht aber in einfacheren Organismen wie Quallen und Schwämmen vorhanden. Micro-RNAs könnten damit der Schlüssel zur komplexeren Morphologie sein.
Schlüssel zum komplexen Körperbau
Peterson schloss sich mit dem damaligen Doktoranden von Ambros in Darmouth zusammen und beide begannen nach let7 und einer Handvoll anderer microRNAs in relativ einfachen Wirbellosen, einschließlich der Rotiferen, und in komplexeren Lebewesen zu suchen. Dabei fanden sie ein eindeutiges Muster: Je weiter ein Tier vom Hauptstamm des Evolutionsbaums entfernt war, desto mehr microRNAs hatte es angehäuft. Die beiden Forscher merkten langsam, dass diese Moleküle "einen brandneuen Weg in der Abstammungsgeschichte eröffneten. Hiermit konnten ein paar seltene genomische Eigenschaften untersucht werden, die niemand vorher betrachtet hatte", kommentiert Peterson.
"Das könnte das Ende all unserer Karrieren bedeuten"
Philip Donoghue
Die von Peterson und Sempere entdeckten microRNAs sind anders, als die typischerweise von Biologen genutzten Merkmale zur Verwandtschaftsbestimmung. DNA-Bindungsstellen beispielsweise mutieren kontinuierlich. MicroRNAs dagegen sind entweder da oder nicht, so dass ihre Interpretation keiner komplexen Sequenzierungs- und Alignment-Analysen bedarf. Sind sie erst einmal vorhanden, bleiben sie normalerweise funktionell und über Hunderte von Millionen Jahren bestehen. Laut Peterson "hat sich keine andere Genfamilie so entwickelt". Außerdem finden sich diese kleinen Moleküle in spezifischen Geweben und tragen dort zur Regulation der Entwicklung einzelner Organe bei. Sie könnten also gut an den morphologischen Veränderungen über die geologische Zeit hinweg beteiligt gewesen sein.
Wie Petersons Daten zeigen, sind in den 600 Millionen Jahren der Tierevolution genau 778 microRNA-Familien entstanden und nur 48 verloren gegangen. Für phylogenetische Detektive sind das einfach zu verfolgende Spuren. Laut Eugene Berezikov, die als Genetikerin microRNAs am Hubrecht Institute in Utrecht in den Niederlande untersucht, geben microRNAs eindeutigere Antworten auf die Fragen der Evolution als andere molekulare Marker, allein schon "weil die Analyse viel simpler ist".
Raus aus der Bedeutungslosigkeit
Peterson und Sempere hatten Mühe, ihre Ergebnisse zur Ansammlung regulatorischer microRNAs zu veröffentlichen. "Einer der Reviewer war sogar der Meinung, unsere Daten könnten unmöglich stimmen," erzählte Peterson. Zu guter Letzt wurde ihre Arbeit in einer sehr speziellen Zoologiezeitschrift publiziert. Mit den nachfolgenden Veröffentlichungen konnten sie aber die Skepsis einiger Reviewer endgültig überwinden und schon bald publizierte Peterson in Nature und Science. Mithilfe seiner wachsenden Bibliothek von microRNAs bestimmte er Verwandtschaften innerhalb und zwischen verschiedenen Linien von kieferlosen Fischen und Reptilien bis hin zu Fruchtfliegen und Würmern.
"Das ist ein wirklich cleverer und neuer Ansatz in der Phylogenetik", findet Peter Stadler, ein Evolutions-Bioinformatiker von der Universität Leipzig. "Ich weiß nicht ganz, warum Auftreten und Fehlen von microRNAs nicht öfter in detaillierten phylogenetischen Ansätzen untersucht werden." Noch ist nicht jeder davon überzeugt, dass microRNA-Gene anderen Daten zur Phylogenetik überlegen sind. Ein wichtiger Streitpunkt ist die Frage, ob microRNAs wirklich nur selten aus dem Genom verschwinden, was Peterson behauptet. Skeptisch ist da auch Andreas Hejnol, der die Evolution der Wirbellosen am Sars International Centre for Marine Molecular Biology in Bergen in Norwegen untersucht. "MicroRNAs verhalten sich wie andere Gene – das heißt, sie können auch verloren gehen. Die haben nichts besonders Mystisches."
"Das ist ein wirklich cleverer und neuer Ansatz in der Phylogenetik"
Peter Stadler
Der Evolutionsbiologe Travis Glenn von der University of Georgia in Athens im US-Bundesstaat Georgia stimmt ihm da zu, weil seiner Meinung nach Verluste von microRNAs unterschätzt würden. Im Mai veröffentlichte er mit seinen Kollegen einen Kommentar zu einem von Petersons Artikeln. Peterson hatte behauptet, Schildkröten stünden Eidechsen näher als Vögeln und Krokodilen, was im Gegensatz zu den meisten Erkenntnissen aus genomischen Daten steht. Dass die bisherige Sichtweise richtig ist, lässt sich nach Meinung von Glenn anhand von ultrakonservierten DNA-Elementen beweisen, die über lange Zeit in der Evolution erhalten geblieben sind.
Die Kritiker waren bisher nur eine laute Minderheit. Wenn Peterson aber mit seinen microRNA-Analysen die Leiter der Evolution hinaufklettert, wird er ein größeres Publikum haben, und die Kritik schwillt an. "Wir sind ja alle Säugetiere, da interessiert es dann auf einmal viel mehr," kommentiert er.
Den Baum hinauf
Mit seinen Arbeiten zur Phylogenese der höheren Säugetiere wollte Peterson ursprünglich nur den klassischen Stammbaum bestätigen, ihn aber nicht zu Fall bringen. Als er an seiner wachsenden Bibliothek von microRNAs arbeitete, sollten ihm Säugetiere mit ihrem gut etablierten Stammbaum nur als Kontrolle dienen. Aber die Daten passten leider nicht zusammen. Wäre der klassische Stammbaum richtig, hätte eine unvorhergesehene Menge an microRNA-Genen verloren gehen müssen, was Peterson als sehr unwahrscheinlich ansah. "Die Aussage der microRNAs ist völlig eindeutig," meint er. "Aber zusammengenommen ergibt sich aus den Daten ein völlig anderer Stammbaum, als jeder erwartet hatte."
Die Ergebnisse der microRNA-Analysen führen auch zu einem anderen Bild vom Prototypen der höheren Säugetiere. Wenn Mäuse und Ratten an der Basis des Stammbaums stehen, traten nagerähnliche Eigenschaften, wie das kontinuierliche Nachwachsen der Schneidezähne, wahrscheinlich auch bei den ersten Säugern auf und sind erst im Laufe der Evolution zu Primaten, Elefanten, Hunden und Kühen verloren gegangen. Die Daten verschieben auch den geografischen Ursprung der höheren Säugetiere. Sie scheinen nun ihren Anfang in der nördlichen Hemisphäre genommen zu haben, wo auch die ersten Fossilien von Nagern gefunden wurden, und eben nicht auf der Südhalbkugel, was viele Wissenschaftler aufgrund von anderen Fossilien und DNA-Daten angenommen hatten.
Anfangs war Peterson schockiert über seine Ergebnisse, die bis heute immer noch nicht publiziert sind. Aber das ganze letzte Jahr hat er damit zugebracht, seinen Stammbaum anhand von Datenbanken zur Genexpression und mittels Sequenzierungen zu bestätigen. Seiner Meinung nach werden die Ergebnisse dadurch aber nur noch gestützt.
Wenn man den Verfechtern des klassischen Stammbaums glaubt, ist mit den microRNAs etwas Seltsames passiert – vielleicht große Verluste in der Linie der Säuger. "Sonst müsste ja das ganze Genom falsch sein," sagt der Säugetierpaläoontologe Robert Asher von der University of Cambridge in UK. "Das kann ich nicht ernst nehmen," kommentiert Mark Springer, ein Molekularphylogenetiker von der University of California in Riverside, der letztes Jahr den umfassendsten Gendatensatz zur Unterstützung des klassischen Säugerstammbaums publiziert hat. Wie er meint, "muss es andere Erklärungen dafür geben".
Peterson und sein Team untersuchen nun anhand des Säugergenoms, warum DNA und microRNAs zu solch unterschiedliche Stammbäume führen. "Wir wissen bisher nur, dass die Daten nicht zusammen passen," sagt der kooperierende Phylogenetiker Davide Pisani von der National University of Ireland in Maynooth. "Entweder haben sich die microRNAs der Säuger völlig anders entwickelt oder der klassische Stammbaum ist falsch. Wir wissen es einfach noch nicht." In der Hoffnung auf eine Lösung haben Donoghue und der Phylogenetiker Ziheng Yang von der University College London das ganze letzte Jahr lang DNA-Sequenzen gesammelt, inzwischen mehr als 14 600 Gene von 36 Säugerspezies. Dieser Datensatz stellt den von Springer genutzten in den Schatten. Die Forscher versuchen nun, ob sie mit dieser Masse von Daten den microRNA-generierten Stammbaum bestätigen können. Ursprung und Diversifikation der höheren Säugetiere konnten sie schon datieren, doch sie untersuchen noch, welche der Linien sich als erstes abgespaltet hat. Das ist dann der entscheidende Test für die Phylogenetik.
Peterson würde das alles gerne einfach hinter sich bringen. "Es ist schrecklich, wie das Säugerprojekt alle Kapazitäten einfach verschlingt," sagt er. "Letztlich ist es mir wirklich egal, wie viele Säugetiere miteinander verwandt sind. Wichtig ist mir, dass die Daten stimmen." Wenn der klassische Stammbaum der Säuger doch richtig ist, wäre das für Peterson keine Niederlage der microRNAs. Seiner Meinung nach würde das nur bedeuten, dass mit den microRNAs der Säugetiere irgendetwas Komisches passiert ist. "Das wären dann wirklich spannende Ergebnisse zur Evolution der microRNAs und zur Entwicklung von Regulationsnetzwerken in der Säugetierevolution."
Bevor er die Studie veröffentlicht, möchte er jetzt erst einmal möglichst gute Beweise haben. Danach will er wieder zum ruhigen Leben eines Forschers zurückkehren, der sich mit den alten Wirbellosen beschäftigt. Sollten seine Daten aber die Phylogenese der Säugetiere auf den Kopf stellen, wird das nicht nur sein Leben durcheinanderwirbeln.
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