Wirtschaftskrise: Was uns Angst macht
Marina I. kann nachts nicht schlafen – aus Angst um ihren Arbeitsplatz. Seit fünf Jahren arbeitet sie in einer alteingesessenen Gaststätte, und eigentlich mag sie den Job. Seit einem Jahr aber läuft der Laden schlechter. Junge Leute sind in die Gegend gezogen, andere Restaurants haben in der Nähe aufgemacht. Marina I. glaubt, dass die Gaststätte nicht mehr mithalten kann, doch der Chef will alles beim Alten belassen. »Ich fürchte, dass bald keiner mehr kommt und wir ganz zumachen müssen«, sagt sie. »Meine Sorge, dass ich bald gar keinen Job mehr habe, wächst von Tag zu Tag.« Sie denkt an die Miete, an ihre zwei Kinder, mit denen sie schon in den vergangenen Jahren nicht in den Urlaub fahren konnte, weil das Geld knapp war. Sie sorgt sich um ihre Existenz.
Was Marina I. um den Schlaf bringt, kann jederzeit und überall passieren. Meist aber wächst die Sorge um den Job in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, wenn Unternehmen Gehälter und Stellen kürzen. Bei Jobverlust und Arbeitslosigkeit drohen den Betroffenen ein niedriges oder gar kein Einkommen und ein sinkender Lebensstandard, in manchen Fällen hohe Schulden, Privatinsolvenz oder sogar Obdachlosigkeit. Gleichzeitig fallen die täglichen Routinen und Sinn stiftenden Tätigkeiten, Kontakte und Anerkennung weg. Finanzkrisen wie zuletzt die globale Rezession von 2007 bis 2009 haben deshalb einen tief greifenden und nachhaltigen Einfluss auf das Leben vieler Menschen. Forscher konnten in den vergangenen Jahren zeigen, dass jede Rezession Spuren in der menschlichen Psyche hinterlässt – nicht nur bei jenen, die unmittelbar betroffen sind.
Das Beispiel von Marina I. stammt aus einem Gutachten, das die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) im Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017 veröffentlicht hat. Forscher um die Psychologin Renate Rau von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hatten zusammengetragen, welche Arbeitsbelastungen die Gesundheit nachweislich beeinträchtigen können, sowohl die körperliche als auch die psychische. Die Wissenschaftler werteten dafür vor allem Übersichtsarbeiten wie Metaanalysen und Reviews aus. Sie fanden einen deutlichen Zusammenhang zwischen einem unsicheren Arbeitsplatz und gesundheitlichen Problemen. Wer um seinen Job fürchtet, leidet dem Gutachten zufolge häufiger unter Stress, Symptomen von Angststörungen oder Depressionen. Auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen steigt demnach. »Je größer die subjektiv erlebte Arbeitsplatzunsicherheit ist, desto ausgeprägter sind die Symptome psychischer Erkrankungen«, fassen die Forscher zusammen.
»Akademiker halten Unsicherheit in der Regel besser aus als Fachkräfte mit Berufsausbildung«
Katharina Klug, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Die Psychologin Katharina Klug von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg beschäftigt sich damit, was genau sich hinter dem etwas sperrigen Begriff Arbeitsplatzunsicherheit verbirgt. Was schürt diese Angst? Wen trifft sie? Und warum belastet die Angst um den Arbeitsplatz schon dann, wenn man den Job noch hat? Die Antworten sind nicht banal. Nicht jeder unsichere Arbeitsplatz führt zu Arbeitsplatzunsicherheit und andersherum. Klug unterscheidet deshalb zwei Arten der Unsicherheit. Objektive Unsicherheit liegt vor, wenn ein Arbeitsvertrag befristet und der Verlust von Job und Einkommen eine realistische Option ist. Unter subjektiver Unsicherheit versteht man dagegen, wie sehr ein Mensch sich um seinen Job sorgt – unabhängig davon, wie gefährdet dieser tatsächlich ist.
Ergebnisse früherer Studien hatten bereits darauf hingewiesen, dass subjektive Unsicherheit vermutlich bedeutsamer für die psychische Gesundheit ist, sagt die Psychologin. Das bestätigte sich in ihren eigenen Analysen. Sie durchsuchte für Deutschland repräsentative Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel zwischen 2002 und 2014, darunter die Jahre der großen Finanzkrise. Mehr als 1500 Berufseinsteiger im Alter von 18 bis 30 Jahren waren darunter.
Ob jemand einen befristeten oder unbefristeten Vertrag hatte, machte demnach keinen bedeutsamen Unterschied für die psychische Gesundheit. Stieg aber mit der Zeit die Angst um den Arbeitsplatz, also die subjektive Unsicherheit, dann ging es mit der mentalen Verfassung bergab.
Dieser Zusammenhang war zudem stärker bei älteren Arbeitnehmern, die oft schon Familie und damit Verantwortung für mehrere Personen hatten – und bei Fachkräften. »Akademiker halten Unsicherheit in der Regel besser aus als Fachkräfte mit Berufsausbildung«, sagt Katharina Klug. »Und das, obwohl sie viel häufiger befristet und damit objektiv unsicherer in ihre Jobs starten.« Sie vermutet, dass Akademiker auf ihre höhere fachliche Flexibilität setzen und sich deshalb nicht so schnell bedroht fühlen. Möglich sei auch, dass Jobsicherheit für sie nicht den wichtigsten Wert im Arbeitsleben darstelle. Das könne bei Fachkräften anders sein.
»Arbeitsplatzunsicherheit wird als unvorhersehbar und unkontrollierbar erlebt«
Katharina Klug
Eine Tendenz zu hoher subjektiver Unsicherheit kann also teils den persönlichen Eigenschaften und Voraussetzungen geschuldet sein, teils aber auch den Umständen, etwa in Zeiten einer Rezession. Wie dramatisch die Effekte dieser Unsicherheit sind, zeigt eine Untersuchung von Tae Jun Kim und Olaf von dem Knesebeck vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Forscher durchforsteten 20 Studien und verglichen, was der psychischen Gesundheit mehr schadet: arbeitslos zu sein oder Angst um den Arbeitsplatz zu haben. Das Ergebnis: Beide erhöhten die Wahrscheinlichkeit für depressive Symptome deutlich – die Angst sogar ein klein bisschen mehr.
»Arbeitsplatzunsicherheit wird als unvorhersehbar und unkontrollierbar erlebt«, sagt Katharina Klug. »Das macht sie so schlimm.« Man erlebe sich selbst als nicht handlungsfähig, fühle sich ohnmächtig und den Umständen ausgeliefert. Ob man seinen Job wirklich verliert oder nur Angst davor hat, mag zwar praktisch einen großen Unterschied machen, nicht aber für die Psyche.
Die meisten wissenschaftlichen Studien gibt es bisher allerdings zu den Folgen von tatsächlichem Jobverlust und Arbeitslosigkeit. Die Befunde sind erschreckend und in allen Ländern, die dazu Studien durchgeführt haben, ähnlich. Wer arbeitslos ist, leidet zum Beispiel häufiger unter einem geringen Selbstwertgefühl, unter starkem Stress, Kopf- oder Rückenschmerzen sowie Symptomen von Angststörungen und Depressionen.
Die Krise ist noch Jahre später spürbar
Das zeigte unter anderem eine große Metaanalyse von Karsten Paul und Klaus Moser von der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie fassten die Ergebnisse aus 324 internationalen Studien zusammen und belegten: Während 16 Prozent der Menschen in Arbeit unter psychischen Problemen litten, waren es unter den Arbeitslosen 34 Prozent – mehr als doppelt so viele. Auch hier waren Fachkräfte stärker betroffen als Akademiker, außerdem Männer etwas mehr als Frauen. Je länger die Arbeitslosigkeit andauerte und je weniger finanzielle und psychologische Unterstützung der Staat leistete, desto stärker war der negative Effekt auf die Psyche.
Dieser kann sehr weit gehen, bis hin zu Suizidgedanken und tatsächlichem Suizid. Deren Zahlen steigen weltweit in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, schreiben Psychiater von der University of Oxford in einer Übersichtsarbeit. Der Zusammenhang zwischen einer Rezession, einer höheren Zahl von Arbeitslosen und dem Anstieg der Suizidrate sei gut belegt, vor allem bei jüngeren Männern. Dass es auch einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und dem allgemeinen Risiko zu sterben gibt, haben Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung für Deutschland berechnet: Arbeitslosigkeit verdoppelt hier zu Lande das Sterberisiko, fanden sie anhand eines Datensatzes der Deutschen Rentenversicherung heraus, der 27 Millionen Versicherte umfasst.
Die Folgen sind drastisch, und sie beschränken sich nicht nur auf die Zeit der tatsächlichen Wirtschaftskrise, sondern können sie sogar überdauern. Das legt eine kürzlich im Journal »Clinical Psychological Science« veröffentlichte Studie nahe. Die US-Psychologen Miriam Forbes und Robert Krueger verglichen die mentale Verfassung von mehr als 2500 Befragten vor der großen Finanzkrise mit der nach dem Ende der Rezession. Arbeitsplatzunsicherheit, Einkommenseinbußen oder Sorgen um ein Dach über dem Kopf führten mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Symptomen von Depressionen, Angststörungen und auch Drogenmissbrauch – und das bis zu vier Jahre nach dem Ende der Finanzkrise.
Der Partner leidet mit
Betroffen sind nicht nur die, die um ihren eigenen Lebensunterhalt fürchten. Der Wirtschaftsforscher Jan Markus von der Universität Hamburg beschäftigt sich unter anderem damit, was Jobverlust und Arbeitslosigkeit für die Partner der Betroffenen bedeuten. Er selbst war noch nie arbeitslos, das Ende seines Wirtschaftsstudiums fiel aber in die globale Finanzkrise zwischen 2007 und 2009. Während er mit seiner Doktorarbeit begann, suchten viele seiner ehemaligen Kommilitonen einen Job. Oft ohne Erfolg, trotz guter Noten. »Wer keinen Job findet oder ihn verliert, beginnt, vieles an sich und seinem Leben in Frage zu stellen«, sagt er. Das gehe enorm zu Lasten der Lebenszufriedenheit. Wie er heute weiß: nicht nur der eigenen.
Untersuchungen hatten bereits gezeigt, dass Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, ungesünder leben, häufiger rauchen und sich öfter scheiden lassen als andere. Markus wollte wissen, ob etwaige Partner auch psychisch mitbetroffen sind. Das sind sie, und sogar in vergleichbarem Ausmaß, wie Markus' Analyse des Sozio-oekonomischen Panels am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigte. Wurde jemand auf Grund einer Betriebsschließung plötzlich arbeitslos, stieg das Risiko einer psychischen Erkrankung für ihn und seinen Partner nahezu gleich stark. Dies zeige, so der Forscher, dass Arbeitslosigkeit neben den Betroffenen selbst auch das Umfeld erheblich beeinträchtigt. Bei der Planung von Arbeitsmarkt- und Bildungsmaßnahmen sollte man diesen Effekt berücksichtigen, sagt er. Sonst würde man die entstehenden Kosten systematisch unterschätzen.
Auch wenn die drohenden Folgen einer Rezession überwältigend erscheinen: Man steht ihr nicht machtlos gegenüber. Ergebnisse aus aller Welt zeigen, dass die Psyche zwar stets auf ähnliche Weise leidet, doch wie stark, hängt von den Umständen ab. Das finanzielle Sicherheitsnetz etwa ist in Deutschland dank Arbeitslosengeld nicht so löchrig wie andernorts, und auch Bildungsmaßnahmen können mögliche Folgen abfedern, wie die Metaanalyse von Karsten Paul und Klaus Moser zeigt. Außerdem mindere jede wahrgenommene Handlungsoption das Gefühl, der Situation ausgeliefert zu sein. Und dem Risikofaktor Wirtschaftskrise stehen noch individuelle Schutzfaktoren entgegen, darunter ein gesunder Lebensstil, eine lösungsorientierte Grundhaltung und soziale Unterstützung.
Marina I., die sich um ihren Job im Restaurant sorgte, hat gehandelt. Sie sprach mit einer Bekannten, die in einer PR-Agentur arbeitet. Zusammen überzeugten sie den Chef von kleinen Änderungen am Unternehmenskonzept: Sie entstaubten das Interieur, renovierten den Eingangsbereich, schalteten Anzeigen in der alternativen Stadtteilzeitung. Noch ist offen, ob das reicht. Aber Marina I. kann mittlerweile wieder etwas besser schlafen.
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