Experimente: Wissenschaft im Schneckentempo
400 Jahre Flecken zählen
Seit das Teleskop vor mehr als 400 Jahren erfunden wurde, erfassen Astronomen das Auftreten von Sonnenflecken. Sogar Galileo zeichnete seine Daten auf. Die frühen Beobachter wussten allerdings noch nichts über den Aufbau oder die Struktur der dunklen Flecken auf unserem Zentralgestirn – ebenso wenig wie über die dafür verantwortlichen Magnetfelder. Das änderte sich erst 1848, als der Schweizer Astronom Rudolf Wolf begann, systematisch die Sonne zu beobachten. Er entwickelte eine Formel, mit der bis heute die Sonnenflecken-Relativzahl – auch bekannt als Wolf'sche Relativzahl – berechnet wird. Mit ihrer Hilfe lässt sich ermitteln, wie sich die Sonnenaktivität im Lauf der Zeit ändert.
2011 wurde Frédéric Clette Direktor des Solar Influence Data Analysis Center am Königlichen Observatorium Belgiens in Uccle. Das Zentrum erfasst Sonnenfleckenzählungen von mehr als 500 Beobachtern seit 1700, indem es deren Fotografien und Zeichnungen der Sonnenoberfläche auswertet.
Diese Daten seien von unschätzbarem Wert, um die Sonnenaktivität der Erde vorherzusagen, sagt Leif Svalgaard, Solarphysiker an der Stanford University in Kalifornien. Die Aktivität schwankt in einem etwa elfjährigen Rhythmus, und der Strom aus geladenen Teilchen, den die Sonnenflecken ins All jagen, beeinträchtigt Satelliten und elektronische Geräte auf der Erde. Die detaillierten Aufzeichnungen helfen Forschern zu verstehen, warum dieser Zyklus auftritt, und verfeinern Vorhersagen besonders starker Ereignisse. "Je weiter die Daten zurückreichen, desto besser können wir unsere Theorien überprüfen", so Svalgaard. Rund 200 Veröffentlichungen pro Jahr zitieren die Sonnenfleckendaten – darunter auch Forschungsbereiche, die über die Solarphysik hinausreichen wie zu Erdmagnetismus, Klima- oder Atmosphärenforschung.
Guter Wille bildet allerdings die Basis dieser Forschungsarbeit. Jeden Monat sammelt das belgische Zentrum die Sonnenfleckenzahlen von rund 90 Beobachtern ein. Zwei Drittel davon sind Amateure, deren kleine optische Teleskope nicht viel stärker sind als ihre Vorläufer vor 200 Jahren. Und obwohl es ein vom International Council for Science in Paris anerkanntes Weltdatenzentrum ist, erhält die Einrichtung keine Unterstützung von dieser Organisation. Clette arbeitet zusammen mit einer einzigen Teilzeitkraft daran, die Datenbasis zu erhalten – neben seiner Nachtarbeit als Astronom am Königlichen Observatorium.
Immer noch sei es aber faszinierend, mit Kollegen aus Hunderten von Jahren "zusammenzuarbeiten", so Clette. Obwohl beispielsweise Galileos Arbeiten zu den Sonnenflecken eher lückenhaft waren – er war mehr "mit Planeten und anderen Dingen" beschäftigt –, seien die Zeichnungen doch detailliert genug, um Informationen über die magnetische Struktur der Sonnenfleckengruppen abzuleiten und die Stärke und die Neigung des solaren Dipolfelds zu ermitteln.
Darüberhinaus fühlt er sich jedoch vor allem der Vorausschau seiner Vorgänger verpflichtet. Akribisch haben sie aufgezeichnet, was sie sahen – immer mit dem Hintergedanken, dass dies eines Tages nutzen könnte. "Das ist ein fundamentaler Pfeiler der Wissenschaft", sagt Clette: "Man sorgt sich nicht, was letztendlich dabei herauskommt."
170 Jahre einen verwirrenden Giganten beobachten
Der Vesuv ist ständig aktiv, doch alle paar tausend Jahre explodiert der Vulkan auf spektakuläre Weise – letztmals im Jahr 79 n.Chr., als er die Stadt Pompeji versengte. Und vor 3800 Jahren hüllte er das gesamte Gebiet, auf dem sich heute Neapel befindet, in heißes Gas und Gestein. Das Osservatorio Vesuviano – die älteste vulkanologische Forschungsstation der Welt – überwacht ihren unfreundlichen Nachbarn seit 1841 und zeichnet jeden seismischen Rülpser des Vulkans auf, um eventuell nahende Risiken frühzeitig zu erkennen.
Errichtet wurde es ursprünglich in 600 Metern Höhe an der Seite des Vulkans in ausreichendem Abstand vom Gipfel, um sicher vor ausgeworfenem Gestein zu sein. Außerdem liegt es hoch genug auf einem Gesteinsrücken, so dass Lavaströme das Gebäude nicht gefährden können. Seit seinem Bau habe es die Vulkanologie und Geologie entscheidend mitgeformt, erzählt der momentane Leiter Marcello Martini.
Sein Vorgänger und erster Direktor Macedonio Melloni etwa leistete Pionierarbeit zu den magnetischen Eigenschaften der Lava, die von entscheidender Bedeutung für spätere Studien zum Paläomagnetismus war – die Geschichte des Erdmagnetfelds lässt sich im Gestein ablesen. Der zweite Direktor, Luigi Palmieri, erfand 1856 den elektromagnetischen Seismografen: Er reagierte empfindlicher auch auf schwache Erdstöße als seine Vorläufer und ermöglichte so die Vorhersage von Vulkanausbrüchen. Unter Palmieri und nachfolgenden Leitern trug das Observatorium viel zur Entwicklung von Instrumenten bei, die bei der Überwachung von Vulkanen weltweit eingesetzt werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erarbeitete zudem Guiseppe Mercalli die bis heute gültige Skala, mit der vulkanische Aktivität klassifiziert wird.
Das Gebäude selbst spielt aber nicht mehr die gleiche Rolle. "In der frühen Phase war es wichtig, möglichst nahe am Ort des Geschehens zu sein, heute erscheint das aber nicht mehr notwendig", meint Haraldur Sigurdsson, ein Vulkanologe von der University of Rhode Island in Kingston. Meist geschieht die Überwachung nun durch ferngesteuerte Erdsensoren, die ihre Daten direkt ans Istituto Nazionale Geofisica e Vulcanologia (INGV) in Neapel übermitteln. Deshalb wandelte man das Originalobservatorium 1970 in ein Museum um.
Neben der Wissenschaft dienen die Beobachtungen auch zur Vorwarnung und zum Schutz der Bevölkerung wie 1944, als die Forscher erfolgreich vor einem Ausbruch warnten. Das neapolitanische Labor, das im 24-Stunden-Betrieb läuft, wirft zudem ein Auge auf den Vulkan Stromboli vor Siziliens Küste und den ruhenden Supervulkan der Phlegräischen Felder westlich von Neapel. Sigurdsson betont jedoch, dass die Zukunft der Vulkanologie nicht in der sensorgesteuerten Beobachtung bekannter Risikovulkane liege, sondern in der Fernerkundung. Mit ihr ließen sich aus dem All Verformungen der Erdkruste erkennen und damit bislang unerkannte Risikozonen.
170 Jahre Daten ernten
Die Betreuer von Dauerexperimenten sind darauf erpicht, ihre Arbeitsgrundlage sowohl intakt als auch relevant zu halten. Das trifft etwa auf Andrew Case zu, der 2008 einen landwirtschaftlichen Großtest erbte, bei dem seit 1843 die Wirksamkeit von mineralischen und organischen Düngern überprüft wird.
Initiiert wurde es von dem Düngemittelmagnaten John Lawes auf dessen Landsitz bei Rothamsted nördlich von London. Die Studien sollten ermitteln, wie Stickstoff, Phosphate, Kalium, Natrium, Magnesium oder Stallmist die Ernten verschiedener gängiger Feldfrüchte beeinflussen – darunter Weizen, Gerste, Leguminosen und Wurzelgemüse.
"Nach 20 bis 30 Jahren waren viele der grundlegenden Fragen über die relative Bedeutung der einzelnen Nährelemente ziemlich gut beantwortet", erzählt Macdonald, der Manager der "klassischen Experimente", die nun in Rothamsted betrieben werden. Stickstoff bewirkt demnach am meisten, gefolgt von Phosphaten. Deshalb werden die Versuche von Zeit zu Zeit erneuert, um weitere Ideen zu testen und Schritt mit den Entwicklungen der modernen Landwirtschaft zu halten. 1968 zum Beispiel wurden die langhalmigen Getreidesorten, die seit Beginn des Projekts gepflanzt worden waren, durch die ertragreicheren kurzhalmigen Varianten ersetzt, die die Bauern nun pflanzten. Bald stellte sich heraus, dass diese Hochleistungsgewächse mehr Dünger benötigten als ihre traditionellen Gegenstücke, weil sie auch mehr Nährstoffe aus dem Boden saugten. Die Landwirte mussten sich daran anpassen.
"Rothamsted ist der Großvater der Agrarforschung", bestätigt Phil Robertson von der W.K. Kellogg Biological Station, einer ebenfalls schon lange laufenden Versuchsanlage an der Michigan State University in Hickory Corners. Die lückenlose Datenreihe sei unbezahlbar, fügt er an. So könne man in Rothamsted nicht nur langfristige ökologische und biologische Trends verfolgen – etwa die Kohlenstoffeinlagerung im Boden oder die Auswirkungen invasiver Arten –, die erst nach längerer Zeit offensichtlich werden. Die Anlage biete auch die Basis für kurzzeitige Studien wie zum Stickstoffverlust in Böden.
Das Rothamsted-Archiv bewahrt 300 000 Herbarbelege und Bodenproben auf, die seit Anbeginn gesammelt wurden. 2003 extrahierten Forscher die DNA von zwei Weizenkrankheitserregern aus Probenmaterial, das bis 1843 zurückreicht, und zeigten, dass industrielle Schwefeldioxidabgase beeinflussten, welcher davon jeweils dominierte.
Doch auch Rothamsted muss um seine Finanzierung kämpfen; momentan lebt es von einer Mischung aus Regierungsgeldern, eingeworbenen Mitteln und einer Stiftung, die Lawes kurz vor seinem Tod gegründet hat. "Als Förderer muss man sich festlegen, die Beobachtungsreihen weiter zu unterstützen, selbst wenn es zeitweilig keine aufregenden Ergebnisse zu sehen gibt", betont Robertson. Macdonald und sein Team sind auf ihre Geschichte stolz: "Manchmal denke ich an John Lawes zurück. Ich spüre eine große Verantwortung, sicherzustellen, dass die Versuche in gutem Zustand an die nächste Generation weitergereicht werden. Sie sind kein Ausstellungsstück im Museum, sondern lebendiger Teil unserer Wissenschaft."
90 Jahre die Entfaltungs des Geists beobachten
1921 begann der Psychologe Lewis Terman von der Stanford University, die Lebensgeschichte von mehr als 1500 hochbegabten Kindern zu verfolgen, die zwischen 1900 und 1925 auf die Welt gekommen waren. Identifiziert wurden sie über den Stanford-Binet-Intelligenztest, den Terman entwickelt hatte. Damit begann eine der weltweit ersten langfristigen Studien dieser Art, und sie hat sich mittlerweile zu einer der am längsten laufenden, fundierten Beobachtungsreihe der menschlichen Entwicklung ausgeweitet. Über neun Jahrzehnte begleitet sie nun das Leben, die Ausbildung, die Interessen, Fähig- und Persönlichkeiten ihrer Teilnehmer.
Als eines seiner wichtigsten Ziele wollte Terman in seiner "Genetischen Studie des Geistes" widerlegen, dass begabte Kinder krankheitsanfälliger, sozial unangepasst und prinzipiell unausgeglichen seien – eine damals durchaus allgemeine Sichtweise. Doch selbst verglichen mit den Standards seiner Zeit, war Termans Studienaufbau durchaus problematisch. Er wählte planlos aus und testete vor allem von Lehrern vorgeschlagene Kinder. Und seine Testgruppe war alles andere als repräsentativ: Mehr als 90 Prozent der Kinder waren weiß und stammten aus der Ober- und Mittelschicht . Terman ließ sogar seinen eigenen Nachwuchs teilnehmen. Außerdem beeinflusste der Forscher selbst einseitig den Ausgang seiner Studie, indem er Empfehlungsschreiben für einige seiner "Termiten" – wie die Teilnehmer bald genannt wurden – verfasste und ihnen so den Weg nach Stanford ebnete.
Terman bewies aber auch mit seinen Beobachtungen bis zur Volljährigkeit der Probanden, dass diese ebenso gesund und ausgeglichen sind wie der Durchschnitt der Bevölkerung und dass sie im Allgemeinen zu erfolgreichen, glücklichen Erwachsenen heranwachsen. Im Lauf der Zeit passten die beteiligten Forscher die Studie an, um zumindest einige der ursprünglichen Verzerrungen auszugleichen.
In den 1980er Jahren begann der Psychologe George Vaillant von der Harvard Medical School in Boston Termans Daten zu nutzen, um damit seine eigene Langzeituntersuchung zur Entwicklung von Erwachsenen auszubauen. Und er fing an, die Totenscheine der "Termiten" einzusammeln. Mit Hilfe dieser Daten ermittelte der Psychologe Howard Friedman von der University of California in Riverside eines der wichtigsten Resultate der Terman-Studie: Gewissenhaftigkeit – ausgedrückt durch Besonnenheit, Beharrlichkeit und vorausschauende Planungsfähigkeit – in der Kindheit und im Erwachsenenalter ist einer der wichtigsten psychologischen Faktoren, mit denen sich die Lebenserwartung vorhersagen lasst. Wer hier gute Werte aufweist, kann im Durchschnitt mit einem sechs bis sieben Jahre längerem Leben rechnen. "Ohne eine derart lange, ganze Menschenleben umfassende Studie hätten wir dies nicht so leicht herausgefunden", sagt Friedman.
85 Jahre warten auf einen Tropfen
An seinem zweiten Arbeitstag an der University of Queensland in Brisbane im Jahr 1961 stieß der Physiker John Mainstone auf ein schrulliges kleines Projekt, das still und leise seit 34 Jahren auf einem Regal vor sich hin lief. 50 Jahre später beobachtet er es immer noch – und wartet weiterhin darauf, dessen dramatischstes Ereignis auch einmal sehen zu können.
Das Pechtropfenexperiment begann, als Thomas Parnell – der erste Physikprofessor der Universität – seinen Studenten zeigen wollte, wie unterschiedlich sich Pech verhalten kann. Ausgekühlt ist es einerseits so spröde, dass man es mit einem Hammer in zahlreiche Trümmer zerschlagen kann. Doch gleichzeitig verhält es sich auch wie eine Flüssigkeit, die durch einen Trichter fließen und an dessen Ende heruntertropfen kann – als eine Art langsamste Sanduhr der Welt. Tatsächlich tropft das Pech in ein darunter gestelltes Becherglas: mit einer Rate von einem Tropfen alle sechs bis zwölf Jahre. Mainstone schätzt vorsichtig, dass sich der neunte Tropfen irgendwann gegen Ende des Jahres ablösen könnte.
Das Experiment sprudelt nicht unbedingt über vor Entdeckungen: In den 86 Jahren Laufzeit entstand daraus genau eine fachliche Veröffentlichung, in der berechnet wurde, dass die Substanz 230 Milliarden Mal viskoser ist als Wasser. Und 2005 erhielt sie die zweifelhafte Ehre eines Ig-Nobelpreises.
Dennoch lässt sich daraus etwas Wissenschaft ziehen. Niemand konnte bislang beobachten, wie sich ein Tropfen löst – eine Webcam, die den Versuch beobachten sollte, fiel im November 2000 just in dem Moment aus, als sich der bislang letzte Pechklumpen abnabelte. Niemand weiß daher, was genau in diesen Momenten geschieht. Außerdem dauert es wohl nochmals einige Jahrzehnte, um den Einfluss der Wetterbedingungen, den Einbau der Klimaanlage im Institut oder die Erschütterungen durch Renovierungsarbeiten auf die Tropfenrate zu ermitteln.
"Der Wert des Versuchs liege ohnehin nicht in dessen wissenschaftlichem Gehalt", gibt Mainstone zu bedenken. Wichtiger sei vielmehr sein kultureller und geschichtlicher Einfluss. Er hat Bildhauer, Poeten und Schriftsteller inspiriert, sich Gedanken über das Vergehen der Zeit und das Tempo modernen Lebens zu machen. Außerdem vermittle er ein Gefühl der Dauerhaftigkeit. "Unerschütterlich ging er bislang seinen Weg, während die Welt von allerlei Aufruhr erschüttert wurde", so Mainstone. Und da sich noch sehr viel Pech im Trichter befindet, könnte der Versuch potenziell noch weitere 150 Jahre alle Unruhen ignorieren. Glücklicherweise hat der 78 Jahre alte Mainstone bereits einen jüngeren Kollegen dazu überredet, nach dem Experiment zu sehen, wenn er selbst den Weg alles Irdischen gegangen sein wird.
Der (leicht gekürzte) Artikel erschien unter dem Titel "Slow Science" in Nature 302, S. 300-303, 2013.
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