Krebsforschung: Wissenschaftler kämpfen um die Wette
Auf die Plätze. Fertig. Los! Nur: Es starten keine Sportler. Stattdessen stürzen sich Wissenschaftler auf einen Datensatz mit Informationen von fast 2000 Brustkrebspatientinnen, der mit dem Startschuss, vulgo mit etwas Tastaturgeklapper und einigen Mausklicks, online gestellt wurde.
Die Forscher sind bei der "Breast Cancer Prognosis Challenge" angetreten, einem Wettkampf um das beste Modell für Brustkrebsprognosen. Das Ziel der Challenge: innerhalb von sechs Monaten Modelle zu entwickeln, mit denen sich genauer als je zuvor vorhersagen lässt, wie lange Patientinnen ihre Brustkrebsdiagnose überleben. Die Wettkampfregeln: Jedes Team darf so viele Tests einreichen, wie es mag, aber maximal fünf Modelle pro Team kommen in die Endrunde. Jeder Teilnehmer muss seinen kompletten Modellkode veröffentlichen. Und jeder Mitstreiter soll sich ruhig etwas beim Kode von anderen abschauen und damit sein eigenes Modell verbessern.
Es klingt erst einmal etwas bizarr. Immerhin gibt es in der Forschung Konkurrenz – um Gelder, um die erste Veröffentlichung, ums Renommee. Und nun sollen Wissenschaftler gegeneinander antreten, aber zugleich ihre Taktik austauschen? "Ja, genau", sagt Initiator Stephen H. Friend von SAGE Bionetworks. "Es ist eben eine Challenge, kein Contest. Es geht nicht darum, der Beste zu sein, sondern die beste Lösung für ein Problem zu finden." Das mag spitzfindig klingen. Was Friend meint, ist: Es gibt nicht das eine Ziel und jeder soll schnellstens dort ankommen – sondern alle haben gleich viel Zeit und sollen möglichst weit kommen.
"Es geht nicht darum, der Beste zu sein, sondern die beste Lösung für ein Problem zu finden"
Stephen Friend
Das Problem, das die Herausgeforderten angehen sollen, betrifft Frauen in der ganzen Welt: Wenn sie die Diagnose Brustkrebs erhalten, dann möchten sie wissen, wie lange sie noch zu leben haben. Ärzte hantieren mit klinischen Daten ihrer Patientin und mit ihren eigenen Erfahrungswerten – und manchmal auch mit "MammaPrint" oder "Oncotype Dx". Das sind Tests, die anhand von Genexpressionsanalysen eine Prognose abgeben, wie aggressiv der Brustkrebs sein kann. So ließ sich die Schauspielerin Angelina Jolie die Brustdrüsen vorsorglich entfernen, weil ihre Gene ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit Brustkrebs vorhergesagt hätten.
Die Krux ist nur: "Diese Prognosetests wurden vor rund zehn Jahren entwickelt und seitdem nicht wirklich verbessert", sagt Friend. Der Biochemiker hat selbst einen der Vorläufer mitentwickelt. Deswegen fragte er sich: Könnte vielleicht eine Challenge viele verschiedene Forschergruppen dazu motivieren, sich des Problems anzunehmen? Wäre solch eine Challenge fruchtbarer als der übliche "Mach's-alleine"-Ansatz?
Gemeinsam zum Ziel
Friend wandte sich an die Organisation "Dialogue for Reverse Engineering Assessments and Methods", kurz DREAM. Diese führt seit dem Jahr 2006 Wettbewerbe mit systembiologischen Herausforderungen durch. Für die Breast Cancer Prognosis Challenge wurde eine eigene Plattform im World Wide Web geschaffen: Hier konnten die Wettkämpfer Daten herunterladen, ihre Modelle einstellen, die Kodes der anderen lesen, mit den Mitstreitern diskutieren. "Es war ermutigend zu sehen, dass Teilnehmer sowohl von den besser funktionierenden als auch von den schlechter funktionierenden Modellen gelernt haben", schreibt Friend mit Kollegen in einer Auswertung der Challenge [1].
Einmal haben die Organisatoren getestet, ob man die Wettkämpfer mit Geldgeschenken gewissermaßen dopen könnte: Ein Teilnehmer sollte 500 US-Dollar bekommen, wenn er in sein Modell einen Teil des Kodes von einem Mitbewerber einbaue und die neue Prognose dann an die Spitze der Rangliste gelange. Außerdem sollte auch der Entwickler des abgekupferten Modells 500 US-Dollar bekommen. "In weniger als 24 Stunden brachte ein Teilnehmer eine neue Bestmarke zu Stande", erzählt Schiedsrichter Friend. "Dabei wurde der rechnerische Ansatz des vorherigen Modells mit klinischen Erkenntnissen kombiniert." Es blieb aber ein Einzelfall. Geld als Lockmittel wurde also nicht verachtet, aber es war auch nicht der alles entscheidende Ansporn.
"Die Wissenschaftler waren prinzipiell großzügig", erzählt Friend. "Sie opferten ihre Freizeit für die Challenge. Sie wollten Ideen austauschen. Nicht Geld verdienen." Zumal eh kein Preisgeld ausgelobt worden war: Als Siegprämie winkte eine Publikation in einem Schwesterblatt von "Science".
354 Teams aus 35 Ländern nahmen die Herausforderung an. Mehr als 1700 Modelle zur Brustkrebsprognose wurden in sechs Monaten entwickelt. In insgesamt drei Runden konnten die Wissenschaftler ihre Modelle erstellen und nach Testläufen die Kodes verfeinern. Am 21. Januar 2013 war die Zeit schließlich abgelaufen. Nun kamen 83 Modelle in die Endrunde: Sie alle wurden mit einem komplett neuen Datensatz von 180 Brustkrebspatientinnen getestet.
Ein ungewöhnlicher Sieger
Die finale Frage lautete: Wenn man zwei Brustkrebspatientinnen hat – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Prognosemodell richtig vorhersagt, welche von beiden länger lebt? Dieser Konkordanzindex, wie ihn die Forscher lieber nannten, ist zwar nur ein relativer Wert – und für einen akuten Fall einer Patientin, die gerade die Diagnose Brustkrebs bekommt, wenig hilfreich. In der Challenge wurde jedoch jedes Modell mit Daten von vielen Patientinnen durchgerechnet. Eine einzelne absolute Prognose war also nicht möglich. Mit einem Index hingegen konnte man für ein Modell einen einzigen Wert berechnen – und so ließen sich die verschiedenen Wettstreiter miteinander vergleichen. Die niedrigste Hürde für die Wettstreiter war dabei der Indexwert 0,5877: Das war ein Referenzwert, den Stephen Friend mit Kollegen im Vorfeld berechnet hatte, und zwar anhand von 70 riskanten Gensignaturen, die typisch für Brustkrebs sind. Zwei weitere Testmodelle der Organisatoren legten einen Referenzwert von 0,70 vor.
Der Sieger kam auf einen Wert von 0,7562. Das bedeutete: Mit 75,62-prozentiger Wahrscheinlichkeit würde die richtige Prognose erstellt, welche von zwei Brustkrebspatientinnen länger überlebt. So gut sei noch nie ein Test für die Voraussage bei Brustkrebs gewesen, berichten die Veranstalter. Das Gewinnerteam konnte sich übrigens auf dem gesamten Siegerpodest ausbreiten: Zwei weitere Versionen des Modells landeten auf Platz 2 und 3.
Das Interessante an den Siegern ist: Sie sind weder Ärzte noch im Labor aktive Krebsforscher. Das Gewinnerteam besteht aus Dimitris Anastassiou, der einst am mpeg2-Standard für digitales Fernsehen mitgetüftelt hat, und zwei seiner Doktoranden am Department of Electrical Engineering der Columbia University. Inzwischen jedoch forscht er im Bereich der Systembiologie und Bioinformatik. Die computergestützte Analyse von großen biologischen Datenmengen gehört zu seinen Schwerpunkten.
Challenge-Initiator Friend schwärmt von Anastassiou. Dabei ist der gebürtige Grieche wohl nicht der typische Challenge-Wettkämpfer. "Ich bin eine Ausnahme", sagt er selbst. "Und ich habe die Challenge sehr ernst genommen." Wegen des Patents aus seinem "früheren Leben", wie er gerne sagt, hatte er genug Geld, um zwei Doktoranden ein halbes Jahr lang in Vollzeit für die Challenge arbeiten zu lassen. "Ich selbst habe ein paar Monate lang nicht unterrichtet. Und als ich nach Griechenland geflogen bin, um in der Heimat drei Wochen Urlaub zu machen, habe ich dort auch nur an dem Programm gesessen. Schließlich bin ich eine Woche früher zurück in die USA geflogen. So konnte ich besser mit meinen Kollegen arbeiten." Außerdem hat Anastassious Team nicht unbedingt die "Weisheit der vielen" benutzt, auf die Organisator Friend so schwört. Anastassiou habe zwar mal versucht, Teile von fremden Kodes einzubauen. Aber die seien dann immer wieder rausgeworfen worden.
"Ich bin eine Ausnahme"
Dimitris Anastassiou
Anastassiou macht auch keinen Hehl daraus, dass er die Challenge nutzen wollte, um sich einen Namen in der Krebsforschung zu machen: "In der Community der Brustkrebsforscher kannte mich vorher niemand. Journals hätten mich bestimmt nichts über ein Brustkrebsprognosemodell publizieren lassen." Als Sieger war ihm eine Publikation sicher. Sie ist in der Fachzeitschrift "Science Translational Medicine" erschienen [2].
Dass die Gewinner letztlich nur auf ihre eigenen Kodes vertrauten und damit auch gewannen, stellt allerdings einen der Grundgedanken der Challenge in Frage. Ist es das falsche Konzept? "Es macht auch sicher keinen Sinn, die gesamte bioinformatische Forschung über Challenges zu organisieren. Aber am Anfang von Problemen kann ein solcher Wettkampf stimulierend sein, sich des Themas anzunehmen und bereits bestehende Algorithmen zu verbessern", sagt der Biophysiker Thomas Handorf von der Humboldt-Universität Berlin. Er beschäftigt sich mit zellulären Signalwegen und war selbst bei der Breast Cancer Prognosis Challenge dabei.
Ein anderer Deutscher hat hingegen nicht teilgenommen – obwohl er schon länger erforscht, welche genetischen Signaturen sich für Brustkrebsprognosen eignen: Peter Lichter, der Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am Deutschen Krebsforschungszentrum. Er hat von der Challenge erst nach Abpfiff erfahren: "Schade. Sonst hätten wir natürlich gerne unsere eigenen Modelle getestet und uns mit Kollegen gemessen."
Vielleicht beim nächsten Mal. Denn die Breast Cancer Prognosis Challenge war nicht der erste und auch nicht der letzte wissenschaftliche Wettkampf. DREAM und SAGE Bionetworks haben mittlerweile die Challenges für 2013 angekündigt. Eine Brustkrebs-Challenge ist auch wieder mit dabei.
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