Antiker Technologietransfer: Assyrische Rüstung gelangte bis nach Fernost
In einer Nekropole unweit der nordwestchinesischen Stadt Turfan hat sich eine 2700 Jahre alte Lederrüstung erstaunlich gut erhalten. »Der Fund aus Yanghai ist einzigartig«, sagt Patrick Wertmann von der Universität Zürich, der zusammen mit weiteren Forschenden den Körperpanzer untersuchte. Es sei das bislang älteste vollständig erhaltene Exemplar eines ledernen Schuppenpanzers in Eurasien, aber auch der einzige seiner Art im damaligen chinesischen Gebiet. Darstellungen von vergleichbaren Rüstungen kennen Archäologen aus dem neuassyrischen Reich, das rund 4500 Kilometer entfernt im Vorderen Orient lag. Offenbar war der Panzer, der für einen Bogenschützen zu Pferd gefertigt wurde, von dort bis nach Yanghai gelangt – und damit auch eine Rüstungstechnologie.
Archäologen fanden das Stück 2013 in dem Grab eines Mannes. Nach Auskunft der Beigaben war er ein Reiterkrieger. Die Rüstung selbst stammt aus dem Zeitraum zwischen 786 und 543 v. Chr., wie eine 14C-Datierung ergab.
Zuletzt hat Wertmann den Fund zusammen mit Kolleginnen und Kollegen analysiert und die Ergebnisse im Fachblatt »Quaternary International« veröffentlicht. Die Arbeitsgruppe zählte an dem Panzer fast 5500 überlappende Lederschuppen, die mit Riemen fein säuberlich zusammengeschnürt und auf ein Futter aus Leinenstoff genäht wurden. Die Rüstung dürfte einst vier bis fünf Kilogramm gewogen haben. In ihrer Form ähnelte sie einer Schürze: Brust, Bauch und Hüftbereich waren vollständig bedeckt, während zwei breite Bänder um die Taille lagen und die Schulterklappen am Rücken über Kreuz liefen. »So war die Vorderseite geschützt, während der obere Rückenbereich und die Arme größtmögliche Bewegungsfreiheit hatten«, erklärt Wertmann. Im Hüftbereich war der Lederpanzer so geformt, dass der Träger bequem in einen Sattel steigen konnte. Offenbar war der Panzer für einen Bogenschützen zu Pferd konzipiert.
Eine Rüstung für alle Körpergrößen
»Wir haben jede Schuppe genau untersucht«, berichtet der Archäologe weiter. »Die Schuppen sind untereinander so identisch, sie scheinen in Serie produziert worden zu sein.« Vermutlich wurden sie aus einem drei Millimeter dicken Rindsleder ausgestanzt. Zudem ließ sich die Rüstung passgenau anlegen, unabhängig von der Statur des Trägers. »Es ist eine leichte, sehr effektive Schutzwaffe in einer einheitlichen Größe, die allen passte – [gemacht] für die Soldaten eines sehr gut organisierten Heeres«, heißt es in der Studie der Forscher. Es ist bekannt, dass das neuassyrische Reich, welches im 9. Jahrhundert v. Chr. zur herrschenden Macht im Vorderen Orient aufstieg, für seine Truppenteile standardisierte Ausrüstungen entwickelte.
Das Exemplar aus Yanghai ist allerdings nicht das einzige, das vollständig erhalten ist. Im Metropolitan Museum of Art in New York wird ein Schuppenpanzer aus Leder unbekannter Herkunft aufbewahrt. Er ist ähnlich konstruiert und gemäß einer 14C-Datierung genauso alt wie der Panzer aus Yanghai. Das Stück ist jedoch robuster aufgebaut. Daraus folgern die Forschenden, dass die Rüstung aus Nordwestchina vermutlich für einen Reiter bestimmt war, die in New York für einen Fußsoldaten.
Auf welchem Weg kam der Schuppenpanzer nach China?
Wie nun die assyrische Rüstung nach Yanghai gelangte, darüber können die Wissenschaftler nur spekulieren. Der Besitzer könnte als fremder Soldat im Dienst der Assyrer gestanden haben oder der Schuppenpanzer kam als Beutegut nach China. Vielleicht handelte es sich auch um ein Geschenk. Sicher ist hingegen, dass die Technologie seiner Herstellung im chinesischen Raum damals unbekannt war. Das schließen Wertmann und seine Kollegen daraus, dass keine vergleichbaren Funde oder Darstellungen in China vorliegen. Erst in den Jahrhunderten danach tauchen ähnlich konstruierte Rüstungen auf, etwa an den berühmten Terrakottasoldaten im Grab des ersten chinesischen Kaisers Qin Shi Huang (259–210 v. Chr.) bei Xi'an. Die vorderasiatische Rüstungstechnologie war offenbar über Jahrhunderte allmählich in der Schutzbewaffnung des Fernen Ostens aufgegangen.
Dass sich der Lederpanzer überhaupt so gut erhalten hat, hängt mit den Umweltbedingungen in Yanghai zusammen. »Es ist dort extrem trocken. Dadurch haben sich sehr viele Objekte aus organischem Material erhalten«, sagt Patrick Wertmann. »Der Fundplatz bei Turfan ist eine wahre Schatzkammer.« 2020 identifizierten Wertmann und seine Kollegen bereits drei Bälle aus Leder, die ebenfalls in den Gräbern von Reitern beigegeben worden waren.
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