Familienplanung: Wo die Pandemie Babys verhinderte
Als wegen der Coronavirus-Pandemie ganze Länder heruntergefahren wurden und Millionen Menschen im Haus bleiben mussten, spekulierten Medien über einen möglichen Babyboom. Der blieb allerdings aus, und in einigen Ländern geschah anscheinend sogar das Gegenteil. Während der Krise sanken die Geburtenraten in gleich mehreren Staaten signifikant, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt.
Eine Gruppe um Arnstein Aassve, Professor für Sozial- und Politikwissenschaften an der Universität Bocconi in Italien, betrachtete dafür die Geburtenraten in 22 wohlhabenden Staaten von 2016 bis 2021. Dabei stellten die Fachleute fest, dass in den Monaten um den Jahreswechsel 2020/21 die Geburtenrate in sieben Ländern im Vergleich zu den anderen Jahren statistisch signifikant sank.
Die stärksten Rückgänge hatten Ungarn mit 8,5 Prozent, Italien mit 9,1 Prozent, Spanien mit 8,4 Prozent und Portugal mit 6,6 Prozent weniger Geburten. Deutschland dagegen gehört zu einer Gruppe von neun Staaten, in denen die Geburtenrate rechnerisch sogar stieg – allerdings ist, anders als bei den sinkenden Geburtenraten, keiner der Anstiege statistisch signifikant. Deswegen, und weil Fachleute mit einem Rückgang durch die Pandemie rechneten, fokussiert sich die Analyse auf die sieben Staaten mit sinkenden Zahlen. Die Ergebnisse erschienen am Montag in »PNAS«.
Wie eine Pandemie die Geburtenrate drückt
Wie viele Kinder geboren werden, schwankt im Jahresverlauf recht stark, und in einigen Ländern waren die Geburtenraten schon vor der Pandemie jahrelang gesunken. Aber neun Monate nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO am 30. Januar 2020 den internationalen Gesundheitsnotfall erklärte, waren die Rückgänge in einigen Ländern besonders drastisch. »Wir sind sehr zuversichtlich, dass der Effekt in diesen Ländern real ist«, sagt Aassve. »Auch wenn sie schon vorher einen leichten Abwärtstrend hatten, sind wir recht sicher, dass wir dort die Auswirkungen der Pandemie sehen.«
Aassve vertritt die Hypothese, dass die Unsicherheit rund um die Pandemie und ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage von Familien diese dazu bewegen, geplanten Nachwuchs aufzuschieben. »Die Menschen verstehen nicht wirklich, was es mit der Krankheit auf sich hat – die Situation ist völlig neu für sie. Viele von ihnen stellen fest, dass ihre beruflichen Aussichten schlechter werden, und das berührt auch ihr Einkommen«, sagt er. »Man verzichtet dann vielleicht nicht völlig aufs Kinderkriegen, aber zumindest würde man es aufschieben, bis die Zeiten wieder besser zu werden scheinen.«
Die Befunde sind keine Überraschung für die demografische Fachwelt. Geburteneinbrüche kennt man von katastrophalen Ereignissen wie der Finanzkrise von 2008 oder auch der Grippepandemie 1918. »Wegen der allgemeinen Geschichte von Katastrophen haben wir auf jeden Fall sinkende Geburtenraten durch die Pandemie erwartet«, sagt Philip Cohen, Professor für Sozialwissenschaften an der University of Maryland, der an der Studie nicht mitarbeitete. »Es war aber unklar, wie sich das wirklich auswirken würde. Darum ist es wirklich wichtig und interessant, dass wir jetzt diese Ergebnisse bekommen.«
Die Fachleute untersuchten in ihrer Analyse jedoch ausschließlich Staaten mit hohem Einkommen, weil in diesen bessere Daten vorliegen. Außerdem haben dort mehr Familien Zugang zu Verhütung, und Frauen haben meist mehr Entscheidungsspielraum, wenn es um Kinderwunsch geht. Dadurch sind durch die Pandemie beeinflusste Entscheidungen für und gegen Kinder in der Geburtenrate deutlicher zu erkennen.
Soziale Sicherheit ist gut für Familien
Cohens eigene Forschung, kürzlich publiziert in einer noch nicht begutachteten Vorabveröffentlichung, zeigte, dass in den US-Bundesstaaten Ohio und Florida die Geburtenrate während der Pandemie sank. Er fand zudem stärkere Rückgänge in Landkreisen, in denen die Infektionszahlen höher waren und die Mobilität der Bevölkerung niedriger war. Laut der Studie von Aassve dagegen zeigen die Daten für die USA keinen signifikanten Rückgang. Allerdings erfasse die Untersuchung in den USA – anders als in den meisten anderen Ländern – nur Daten bis Dezember 2020, merkt Cohen an. Zahlen aus dem Jahr 2021 zeigten einen größeren Abfall der Geburtenrate.
Ob sich die Geburtenrate in solchen Ländern über die nächsten Monate hinweg erholt, ist noch unklar. Erste Daten zeigen Anstiege durch Schwangerschaften nach Juni 2020, in der Folge der abflauenden ersten Welle in den Ländern, die im Frühling hart getroffen wurden. Doch die folgenden Wellen könnten Paare wiederum davon abgehalten haben, Kinder zu kriegen. Dafür sind aber noch keine Statistiken verfügbar.
Welche Folgen es auf lange Sicht hat, wenn die Menschen in der Pandemie weniger Kinder kriegen, ist derzeit reine Spekulation, sagt Aassve. Das Phänomen könne unter Umständen einen Wirtschaftsboom auslösen, wie die Goldenen 20er Jahre nach der Pandemie von 1918. Oder es könnte zu einer Zwei-Klassen-Erholung kommen, in der Familien, die unter der Pandemie wirtschaftliche Einbußen hatten, weniger Kinder kriegen, während jene, die profitierten, nun mit höherer Wahrscheinlichkeit Nachwuchs bekommen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass es nur eine kleine demografische Delle ist, die langfristig keine Auswirkungen auf die Bevölkerung hat.
Ohnehin ist die Geburtenrate keineswegs überall gesunken. In einigen Ländern, darunter neben Deutschland auch die Schweiz, die Niederlande, Schweden und Finnland, wurden womöglich sogar etwas mehr Kinder geboren als im langjährigen Mittel. Bisher allerdings ist keiner der positiven Trends statistisch signifikant, so dass die Daten für eine Interpretation nicht ausreichen. Alle Staaten in dieser Kategorie haben jedoch ein recht gutes soziales Netz, das die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abfederte – so verhinderte in Deutschland Kurzarbeit viele pandemiebedingte Kündigungen. Solche Maßnahmen könnten die wirtschaftliche Unsicherheit abgemildert haben, so dass weniger Menschen ihren Kinderwunsch aufschieben mussten.
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