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Coronavirus-Pandemie: Wo stecken sich bloß alle mit Covid-19 an?

Schon wieder tausende Infektionen. Was ist da los? Sind alle unvorsichtig in Bahn und Bus? Auf der Arbeit? In Bars? Es gibt eindeutig Situationen, die Sars-CoV-2 gelegen kommen.
Alle Superspreading-Events haben vergleichbare Umstände: geschlossene Räume, viele Menschen ohne Mund-Nasen-Schutz auf engem Raum, keine kontrollierte Ventilation.

Die Zahl der mit Sars-CoV-2 Infizierten steigt bundesweit. In immer mehr Landkreisen kommen die Gesundheitsämter bei der Kontaktverfolgung nicht mehr hinterher. Diese Entwicklung beschränkt sich längst nicht mehr nur auf Ballungsgebiete. Unter den Top Ten der Sieben-Tages-Inzidenzen finden sich gleich drei Landkreise mit geringer Bevölkerungsdichte. Von den Gesundheitsbehörden und der Politik wird diese Entwicklung in Stadt und Land mit größeren Ausbrüchen erklärt, aber auch mit einem neuen »diffusen Infektionsgeschehen«.

Doch wo und wie stecken sich die Menschen eigentlich mit Covid-19 an? Das Robert Koch-Institut hat in seinem Situationsbericht vom Dienstag eine Analyse der Infektionsumfelder veröffentlicht, die seit Beginn der Pandemie identifiziert werden konnten. Balkendiagramme zeigen Orte und Kontexte, in denen sich Menschen mit Covid-19 infiziert haben.

Die Datenlage ist jedoch dünner, als sie aussieht. Erstens sind laut dem Situationsbericht nur Ausbrüche mit fünf oder mehr Infizierten aufgeführt. Zweitens konnten seit Beginn der Pandemie gerade einmal 25 Prozent aller bestätigten Infektionen einem Infektionsumfeld zugeordnet werden.

Was die Daten sagen – und was nicht

Unter den dokumentierten Ansteckungsorten dominieren zunehmend private Haushalte, Alten- und Pflegeheime, Arbeitsplätze und »Freizeit«. Vertraut man den Zahlen, dann spielen Flüchtlingsheime, Wohnstätten, Verkehrsmittel und zwölf weitere mögliche Umfelder dagegen seit Monaten eine untergeordnete Rolle. Auf der Pressekonferenz des RKI am Donnerstag zog der Leiter der Behörde Lothar Wieler aus den Daten einige Schlüsse: Die Anzahl der Ausbrüche in privaten Haushalten nehme deutlich zu. Infektionen in Verkehrsmitteln spielten dagegen keine große Rolle. In Hotels kämen Ansteckungen ebenfalls sehr selten vor.

Wie viele Menschen haben sich neu angesteckt? |

Die Daten geben aber keine Auskunft darüber, wie genau private Haushalte, Arbeitsplätze und andere Orte zu Infektionsumfeldern werden. Um das herauszufinden, lohnt der Blick auf jene Regionen, in denen das Coronavirus heute am heftigsten wütet. Zum Beispiel in Vechta. Der Ort in der niedersächsischen Tiefebene zwischen Bremen und Osnabrück hat eine Bevölkerungsdichte von gerade 175 Menschen pro Quadratkilometer. Vechta liegt damit klar »auf dem Land«. Dennoch gehört der Landkreis mit derzeit 138 Fällen pro 100 000 Einwohnern in sieben Tagen (Stand vom 22. Oktober) zu den am stärksten betroffenen Kreisen Deutschlands. Wie und wo stecken sich die Leute hier an?

»Angetrieben wird das Infektionsgeschehen bei uns ganz klar von Familien und Familienveranstaltungen«, sagt Frank Hammersen, stellvertretender Leiter des Gesundheitsamts Vechta. Es habe da zum Beispiel eine Beerdigung mit bis zu 500 Gästen gegeben, bei der sich mindestens 30 Teilnehmer infizierten. Die Trauerfeier in geschlossenen Räumen habe sich über drei Tage gezogen. »Dabei wurden Hygienemaßnahmen wie Masken oder Lüften nach unserer Kenntnis nicht beachtet«, sagt Hammersen. Neben solch großen Veranstaltungen spielten aber auch große Familien selbst eine Rolle. »Wir haben hier einige Fälle, in denen ein Infizierter sechs oder sieben Familienmitglieder infiziert hat.«

Arbeitsplätze spielen eine geringere Rolle

Ausbrüche am Arbeitsplatz sind in Vechta eher die Ausnahme. »Es gab da einen Fall bei einem Paketauslieferer, wo zwei Mitarbeiter in einem Wagen saßen und einer den anderen angesteckt hat.« Und bei den gelegentlichen Fällen in Schlachtbetrieben sei oft nicht klar, ob die Ansteckung im Schlachthof selbst stattgefunden habe oder im privaten Umfeld, wo sich viele der Mitarbeiter in der Freizeit begegnen.

So oder so: Erkannt würden all diese Infektionsumfelder nur, weil die Infizierten bereits von einem Kontakt zu einem bestätigten Fall wüssten oder einen klaren Verdacht hätten, wo es zur Ansteckung gekommen sein könnte. Bei den anderen lässt sich der Ansteckungsort meist überhaupt nicht feststellen. Hammersen spricht von einem Anteil von 15 bis 20 Prozent. »Da fragen wir uns dann schon: War das vielleicht doch im Geschäft oder an der Bushaltestelle oder im Bus oder im Zug?«

»Wir haben hier einige Fälle, in denen ein Infizierter sechs oder sieben Familienmitglieder infiziert hat«Frank Hammersen

Im Situationsbericht des RKI zu den Infektionsumfeldern werden Schulen nicht explizit aufgeführt. Im »Epidemiologischen Bulletin 38«, in dem das RKI Ende September eine erste Analyse zu den Infektionsumfeldern veröffentlichte, fallen sie unter die Kategorie »Ausbildungsstätte«. Damals (mit Datenstand vom 11. August) zählte das RKI unter den insgesamt 7864 Ausbrüchen 31 in Schulen. 61 Prozent dieser Schul-Cluster hatten aber nur zwei bis vier Ansteckungen, die maximale Größe lag bei 20 bis 49 Infizierten in einer Schule.

Schul-Daten lassen Fragen offen

In den aktuellen Daten des RKI kommen kleinere Ausbrüche mit weniger als fünf Infizierten nicht vor. Und größere Ausbrüche spielen wie in den Daten aus dem Bulletin vom September kaum eine Rolle. Allerdings berichtet Hammersen, dass in Vechta Tests von Kontaktpersonen nach Schulausbrüchen und bei Reihentests in Schlachthöfen, in denen viele junge Menschen arbeiteten, einen hohen Anteil asymptomatischer Infizierter ergeben hätten. »Da hatten wir teilweise bis zu 85 Prozent Asymptomatische«, sagt er. Schulen könnten in der Ausbruchsstatistik also durchaus unterrepräsentiert sein.

Ähnlich unklar wirkt die Lage derzeit am anderen Ende des demografischen Spektrums. Mit 7146 Menschen pro Quadratkilometer hat der Berliner Bezirk Neukölln die drittgrößte Bevölkerungsdichte Deutschlands, wenn man die Bezirke wie Landkreise betrachtet. Die Sieben-Tages-Inzidenz liegt hier aktuell (Stand vom 22. Oktober) bei 215 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern.

»Für weit über 70 Prozent der Fälle finden wir keinen identifizierbaren Infektionsherd mehr«, sagt Nicolai Savaskan, Leiter des Gesundheitsamts Neukölln. Und wie in Vechta sehe man zunehmend Infektionen, deren Quelle gar nicht nachvollziehbar ist. »Man kann jetzt davon ausgehen, dass sich das Virus breit in der Bevölkerung verteilt hat und sich jetzt symptomatisch und asymptomatisch weiterverbreitet.« Das sei der wesentliche Unterschied zur Situation im März, als die meisten Infektionen von klar erkennbaren Clustern ausgingen. Dass in Neukölln vor allem Infektionsumfelder in privaten Haushalten beobachtet werden, bedeute daher nicht, dass das aktuelle Infektionsgeschehen auch in erster Linie über die Haushalte laufe, sagt Savaskan.

Ansteckungsketten sind nicht mehr nachvollziehbar

Wo aber stecken sich die Menschen in Neukölln dann an? Wie in den RKI-Daten zu den Infektionsumfeldern angedeutet, konnte im Bezirk Neukölln seit Beginn der Pandemie kein einziger Ausbruch im öffentlichen Nahverkehr ermittelt werden. Das hält Savaskan auch für plausibel: »Wenn alle Beteiligten einen Mund-Nasen-Schutz tragen, sind sie ja schon per Definition keinem erhöhten Risiko ausgesetzt.«

Aus den großen identifizierbaren Ausbrüchen konnten Savaskans Mitarbeiter bisher eine Reihe von Beobachtungen ziehen. Wie etwa der Fall eines Infizierten mit Symptomen, der für mehrere Stunden ohne Mundschutz in einer Bar saß. Von den 120 Kontaktpersonen in dieser Bar wurden nach dem Besuch knapp 80 positiv auf Covid-19 getestet.

Derartige Superspreading-Events waren durchgängig durch folgende Umstände charakterisiert: geschlossene Räume, viele Menschen ohne Mund-Nasen-Schutz auf engem Raum, ohne kontrollierte Ventilation, ohne Fensterlüftung. »Ob gesungen oder Alkohol getrunken wurde, war in diesen Konstellationen nicht entscheidend«, sagt Savaskan. »Es ist also nicht die Party oder das Restaurant an sich, die das Risiko birgt. Es sind die Umstände.«

»Für weit über 70 Prozent der Fälle finden wir keinen identifizierbaren Infektionsherd mehr«Nicolai Savaskan

»Man kann nach derzeitigem Wissensstand sagen, dass Menschenansammlungen in Innenräumen ohne regelmäßigen Frischluftaustausch das Charakteristikum von größeren Infektionsgeschehen sind.« Ausbrüche unter derartigen Umständen habe man in Restaurants, Bars, in Innenräumen mit Live-Musik und in Konferenzräumen entdeckt. An der frischen Luft wurde dagegen kein einziger Ausbruch dokumentiert, nicht einmal bei Feiern in Parks.

Könnte eine Clustersoftware helfen?

Solche Erkenntnisse sind für die Einschätzung des eigenen Verhaltens viel wert. Doch nach den Berichten der Amtsärzte Hammersen und Savaskan wird es mit den zunehmenden Fallzahlen immer schwieriger, etwas aus den konkreten Infektionsumfeldern zu lernen. Nicht zuletzt, weil die Mitarbeiter der Gesundheitsämter mit dem Kontaktmanagement, also der Benachrichtigung und Anleitung jener, die ein neuer Fall infiziert haben könnte, schon alle Hände voll zu tun haben.

Eine Software, die die Suche nach den Quell-Clustern erleichtern oder gar automatisch erledigen würde, steht den Miterbeitern jedenfalls nicht zur Verfügung. »Das machen die Mitarbeiter hier per Hand oder in herkömmlichen Excel-Listen«, sagt etwa Hammersen. In Neukölln gibt es zwar eine eigens geschriebene Software, mit der sich Fälle zum Beispiel nach Kategorien wie Geschlecht, Alter, Name, Ort oder Abstrichdatum filtern lassen. »Anhand solcher Kategorien haben unsere Fallermittler nach Überschneidungen gesucht, die auf Cluster hindeuten«, sagt Savaskan.

Das alles habe aber stets die Expertise der Mitarbeiter erfordert. Eine weitestgehend automatisierte Suche nach Ausbrüchen aus den Angaben der Infizierten gebe es bisher nicht. Das RKI arbeite jedoch an einer Signalerkennungssoftware, die zukünftig mit automatisierten Algorithmen hier vielleicht Abhilfe schaffen werde.

Möglicherweise kann man den Gesundheitsämtern dann mit Kontakt-Tagebüchern unter die Arme greifen, wie sie der Virologe Christian Drosten von der Charité kürzlich im »Coronavirus-Update« des NDR beschrieben hat. Ein solches Protokoll der eigenen Kontakte könne den Gesundheitsämtern dabei helfen, »vielleicht noch einmal besser Quell-Cluster zu erkennen«, sagte Drosten. Eine offizielle App, die so etwas automatisch leistet, ist derzeit nicht geplant, schreibt die Pressestelle des RKI auf Anfrage. Mit einigen Fitness-Apps, wie etwa der iOS-App Arc, die die Aufenthaltsorte der vergangenen Tage und Wochen im Hintergrund speichern, könnte man so ein Tagebuch trotzdem automatisiert erstellen lassen.

Aktive Mitarbeit der Bevölkerung ist entscheidend

Savaskan hält das für eine gute Sache. So würde es einfacher, Kontakte zu benachrichtigen, die ein Infizierter angesteckt haben könnte. »Außerdem werden die Bürger so viel aktiver in die Bekämpfung der Pandemie eingebunden«, sagt er. Die aktive Mitarbeit der Bürger, die sich in der Pandemie als handlungsfähig und selbstwirksam wahrnehmen, werde wahrscheinlich der entscheidende Faktor bei der Bekämpfung der Pandemie in den kommenden Monaten.» Wir versuchen jetzt mit unterschiedlichen Maßnahmen dieses Empowerment zu fördern«, sagt Savaskan.

Zweifelhaft ist aber, dass die Gesundheitsämter die Daten aus Kontakt-Tagebüchern für das nutzen können, wofür sie gedacht sind: um neue Quell-Cluster zu finden. »Auf die Suche nach Quell-Clustern haben wir hier nie einen Fokus gelegt«, sagt Hammersen. »Aktuell hätten wir gar nicht die Kapazitäten, bei jedem Patienten bis zu zwei Wochen in die Vergangenheit zu schauen.«

Er zweifelt auch daran, dass die Identifikation eines Infektionsumfelds noch bei der Eindämmung der Pandemie helfen kann. »Wenn wir einen Superspreader identifiziert haben, ist der längst nicht mehr infektiös.« Und die, die er angesteckt habe, hätten das Virus längst weiterverbreitet. Gegen Superspreader helfe nur eines: wenn alle ihre Kontakte deutlich reduzieren. Denn damit fallen auch die wichtigsten Infektionsumfelder weg.

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