Johann Christian Woyzeck: Von True Crime zur Weltliteratur
Dicht an dicht standen etwa 5000 Schaulustige an einem warmen, sonnigen Freitag – den 27. August 1824 – auf dem Marktplatz. Auch an den Fenstern der umstehenden Häuser und sogar neben den Schornsteinen drängte sich das Volk. Und hätte die Stadt Leipzig es nicht explizit verboten, wären wahrscheinlich noch die Dächer abgedeckt worden, um im Dachgestühl Platz für Tribünen zu schaffen. Auch Kinder waren auf den Beinen, die Schulen hatten eigens für den großen Tag geschlossen. Unter den Honoratioren und Stadtbediensteten waren Tickets für das Rathaus verteilt worden – mit freiem Blick auf das Schafott.
Alle wollten zuschauen, wie der Scharfrichter Johann Andreas Körzinger einen Mörder mit dem Schwert vom Leben zum Tod beförderte.
Öffentliche Hinrichtungen waren selten geworden in der Stadt. »Seit vier und dreißig Jahren sahe sich unsere Obrigkeit nicht in die traurige Notwendigkeit versetzt, ihr Strafamt auf eine Schauder erweckende Weise ausüben zu müssen, und nach einem so langen Zeitraume wird das nun durch einen tiefgesunkenen Verbrecher bewirkt, der, verarmt an religiösen Grundsätzen und reinen menschlichen Gefühlen, unter der Gewalt böser Leidenschaften erlag und mit verwildertem Geist und Herzen eine That beging, die seine Ausscheidung aus der menschlichen Gesellschaft unerlaßbar machte«, schrieb das »Leipziger Tageblatt« mit Blick auf das schaurige Spektakel.
Der angesprochene Delinquent hatte drei Jahre zuvor seine Geliebte erstochen. Nun ging er gefasst und »mit viel Ruhe allein auf das Schafott, kniete nieder und betete laut und mit viel Umstand, band sich das Halstuch selbst ab, setzte sich auf den Stuhl und rückte ihn zurecht und schnell und mit großer Geschicklichkeit hieb ihm der Scharfrichter den Kopf ab, sodaß er noch auf dem breidten Schwerdte saß, bis der Scharfrichter das Schwerdt wendete und er herabfiel«, notierte der anwesende Lehrer, Musiker – und Dichter des Weihnachtsklassikers »O Tannenbaum« – Ernst Anschütz in sein Tagebuch. »Das Blut strömte nicht hoch empor; sogleich öffnete sich eine Fallthür, wo der Körper, der noch ohne eine Bewegung gemacht zu haben auf dem Stuhle saß, hinabgestürzt wurde; sogleich war er unten in einen Sarg gelegt und mit Wache auf die Anatomie getragen.«
Während Kopf und Leib des Hingerichteten der Naturwissenschaft zur Verfügung gestellt wurden, ging sein Name in die Literaturgeschichte ein: Johann Christian Woyzeck. Denn etwa zehn Jahre später griff der junge Dichter Georg Büchner den Kriminalfall in seinem Sozialdrama »Woyzeck« auf. Auf Grund von Büchners frühem Tod im Februar 1837 blieb es allerdings unvollendet, wurde erst rund 40 Jahre später veröffentlicht und erstmals 1913 auf die Bühne gebracht. Heute gilt es als Werk von Weltrang, es zählt zu den meistgespielten Stücken auf nationalen und internationalen Bühnen; Generationen von Schülerinnen und Schülern haben sich durch den sozialkritischen Stoff gearbeitet. Das Fragment über den Soldaten Woyzeck, der aus Eifersucht seine Geliebte ersticht, ist deshalb immer noch so populär, weil es zeitlose Fragen aufwirft: Was bringt einen Menschen dazu, eine solche Gewalttat zu verüben? Welche Rolle spielen dabei Gesellschaft und soziale Stellung? Und ab wann schränken psychische Beeinträchtigungen die Schuldfähigkeit ein?
Leben am Rand
Diese Fragen berührten auch das Leben des realen Vorbilds. Der 1780 in Leipzig geborene Johann Christian Woyzeck wuchs unter ärmlichen Bedingungen auf. Seine Mutter starb an der Schwindsucht, als er acht Jahre alt war – der Vater folgte fünf Jahre später. Das Waisenkind trat in seine Fußstapfen und begann eine Ausbildung als Perückenmacher. Eine unglückliche Wahl: Gepuderte Ersatzhaare kamen Ende des 18. Jahrhunderts langsam aus der Mode; der Beruf versprach kein geregeltes Einkommen mehr. Nach einigen Anstellungen als Bediensteter oder Friseur in Dessau, Berlin, Breslau und Wittenberg ließ er sich 1807 von einem niederländischen Regiment in Lübeck rekrutieren. Mehr als zehn Jahre diente er in der Folge in verschiedenen Armeen von Schweden bis Frankreich. Er kämpfte an unterschiedlichsten Fronten, wurde gefangen genommen, lief auch mal davon. Stationiert in Stralsund, wurde er Vater, verließ aber Frau und Kind. Ende 1818 kehrte der inzwischen vom preußischen Heer Entlassene in seine Heimatstadt zurück. Er war nun 38 Jahre alt.
Ab hier begann seine Odyssee durch die Gosse. Woyzeck hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, leimte Pappbehälter zusammen, arbeitete bei einem Buchbinder oder kolorierte Kupferschnitte. Zwischendurch erlebte er immer wieder Phasen ohne Einkommen, in denen er hungerte, ziellos umherstreifte, in den Straßen oder vor der Stadt herumlungerte und bettelte. Sein Leben stand beispielgebend für den so genannten Pauperismus: Um die Wende zum 19. Jahrhundert gab es ein rasantes Bevölkerungswachstum, mit dem die vorindustrielle Wirtschaft nicht Schritt hielt. Die Folgen waren Massenarbeitslosigkeit und Verarmung, insbesondere in den Städten.
Die Gerichtsgutachten im Mordfall geben Einblick in Woyzecks damalige Geistesverfassung: Er wurde depressiv, versuchte, sich das Leben zu nehmen. Alkohol wurde sein ständiger Begleiter. Regelmäßig wechselte Woyzeck in dieser Zeit die Unterkunft – entweder weil er mit der Mietzahlung im Rückstand oder weil er aus anderen Gründen bei seinen Vermietern in Ungnade gefallen war. Zeitweilig schlief er auf der Straße. Hin und wieder landete er im Arrest, da er gestohlen hatte oder handgreiflich geworden war – auch gegenüber Johanna Christiane Woost.
Verbrechen und Strafe
Sein späteres Mordopfer hatte Woyzeck bereits als Jugendlicher kennen gelernt – sie war die Stieftochter seines Lehrherrn, fünf Jahre älter und schon damals verheiratet. Die inzwischen Verwitwete besorgte ihm nach seiner Rückkehr nach Leipzig eine Unterkunft, zahlte die erste Miete. »Keineswegs schön« sei sie gewesen, gab er später zu Protokoll. Trotzdem sei man sich nähergekommen, habe eine Affäre begonnen und eigentlich auch heiraten wollen. Doch seine Armut habe dem im Weg gestanden. Als wie verbindlich »die Woostin« – wie das Opfer in offiziellen Papieren auch genannt wurde – die gemeinsame Beziehung betrachtete, ist nicht überliefert. Von einem glücklichen Paar kann jedoch keine Rede sein. Sie habe ihn belogen, er sie geschlagen – vielleicht hielt die Witwe den Kontakt zu Woyzeck nur aus Angst aufrecht. Woyzeck war früher schon durch Gewalt gegen Frauen aufgefallen.
Auch am 2. Juni 1821 waren beide verabredet. Doch Woost traf sich mit einem anderen Soldaten. Am Abend begegnete Woyzeck ihr auf der Straße und begleitete sie nach Hause. Als die beiden gegen 21.30 Uhr Woosts Wohnung in der Leipziger Sandgasse erreichten, sie ihn aber vor der Haustür abwies, fiel er über sie her und brachte ihr »sieben Wunden bei, an denen sie nach wenigen Minuten ihren Geist aufgab«, wie es in einem späteren Gutachten heißt. Zum Tod führte offenbar eine »penetrirende Brustwunde, welche die erste Zwischenrippenschlagader zerschnitten« hatte. Woyzeck flüchtete vom Tatort, wurde aber kurz darauf gestellt. Er stritt nichts ab und trug auch noch die Stichwaffe bei sich. Erst am Nachmittag hatte er an einer abgebrochenen Degenklinge einen Griff anbringen lassen.
Alles deutete auf einen kurzen Prozess hin: ein geständiger Täter, ein klares Motiv, eine vorhandene Tatwaffe. Doch es kamen Zweifel an Woyzecks Zurechnungsfähigkeit auf.
Das Gericht ordnete ein psychiatrisches Gutachten an
Woyzeck »soll während des Sommers stets an Verstandesirrungen leiden«, berichtete eine Nürnberger Zeitung eine Woche nach der Tat. Der »radikaldemokratische« Leipziger Publizist und ausgewiesene Gegner der Todesstrafe Johann Adam Bergk hatte von einem ehemaligen Vermieter des Festgenommenen erfahren, dass Woyzeck früher an »periodischem Wahnsinn« gelitten habe. Dessen Verteidiger griff den Hinweis sogleich auf und veranlasste eine psychiatrische Untersuchung, um die Schuldfähigkeit seines Mandanten zu klären.
Das Gericht beauftragte den Stadtphysikus Johann Christian August Clarus (1774–1854) mit einem Gutachten. Dieser Amtsarzt, immerhin Medizinprofessor an der Leipziger Universität, jedoch bei Weitem kein Experte für psychische Erkrankungen, traf sich daraufhin fünfmal in der Armensünderstube im Leipziger Rathaus mit dem Angeklagten und kam nach den Gesprächen zu dem Schluss, dass zwar in der Tat deutliche »Anzeichen von moralischer Verwilderung, von Abstumpfung gegen natürliche Gefühle und von Gleichgültigkeit in Rücksicht der Gegenwart und Zukunft« zu finden seien, dass aber seine Beobachtungen »über die gegenwärtige körperliche und geistige Verfassung des Inquisiten kein Merkmal an die Hand geben, welches auf das Daseyn eines kranken, die freye Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden, Seelenzustandes zu schließen berechtige«.
Weder in den Äußerungen des Mannes noch in seinem »Wesen« fand der Physikus die Anzeichen von »Reizbarkeit des Temperaments, von Ungestüm und körperlicher Aufregung, oder von Störrigkeit, Tücke und Bosheit«. Fazit: Woyzeck sei während der Tat Herr seiner selbst gewesen.
Das Urteil lautete auf Tod durch Enthauptung
Für das Gericht wog ohnehin schwerer, dass der Angeklagte schon länger Konflikte mit dem Opfer ausgetragen hatte, dass ihm Eifersucht als Motiv unterstellt werden konnte und dass Woyzeck die Tatwaffe offenbar eigens hatte herrichten lassen – all das sprach nach Ansicht des Gerichts für einen geplanten Mord. Es verurteilte Woyzeck daraufhin am 11. Oktober 1821 zum Tod durch Enthauptung. Ein Einspruch der Verteidigung sowie ein juristisches Gutachten änderten daran ebenso wenig wie das Gnadengesuch an den sächsischen König. Friedrich August I. (1750–1827) lehnte sowohl die Umwandlung in eine Haftstrafe als auch eine Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Dabei ließ sich der Monarch auch nicht von seinem Neffen, dem späteren Thronfolger Friedrich August II., beeinflussen. Der studierte Jurist hatte sich nach reiflicher Analyse für die Begnadigung ausgesprochen.
Geheimnisvolle Stimmen sollen Woyzeck zugeflüstert haben: »Stich die Frau Woostin todt!«
Wenige Wochen vor der auf den 13. November 1822 angesetzten Urteilsvollstreckung vertraute der Delinquent jedoch einem Gefängnisgeistlichen an, dass er in der Vergangenheit häufiger Stimmen gehört und Geistererscheinungen gehabt habe. Die Verteidigung forderte daraufhin eine erneute Begutachtung ihres Klienten, und zwar durch den Spezialisten Johann Christian August Heinroth (1773–1843), Professor für Psychische Therapie an der Universität Leipzig und der Erste seiner Art in ganz Europa. Das Kriminalamt lehnte dieses Gesuch zwar ab, beauftragte aber den von Amts wegen zuständigen Professor Clarus mit einer erneuten »Exploration« und bat die Landesregierung um Wiederaufnahme des Verfahrens. Nur wenige Tage vor dem festgesetzten Hinrichtungstermin wurde der Prozess somit neu aufgerollt. Der Stadtphysikus nahm den Täter erneut in Augenschein – seiner Bitte, dabei Heinroth hinzuziehen zu dürfen, gaben die Behörden indes nicht statt.
Clarus war sich der Schwächen seines ersten Gutachtens durchaus bewusst. Ob sich der Angeklagte »von Zeit zu Zeit in einem gedankenlosen Zustande befunden« habe – das habe er nicht beurteilen können, weil er ausschließlich auf Woyzecks gegenwärtige geistige Verfassung geblickt habe. Für das zweite Gutachten griff er nun auch auf Zeugenaussagen zurück, etwa von ehemaligen Soldatenkameraden, Vermietern oder Arbeitskollegen. Clarus nahm sich zudem mehr Zeit für weitere Gespräche mit dem Angeklagten.
In dem deutlich umfangreicheren zweiten Gutachten finden sich deshalb einige Episoden, die auf die allgemeine geistige Verfasstheit Woyzecks rückschließen lassen. So gab dieser etwa an, dass er seit seiner Zeit in der Armee gedacht habe, von den Freimaurern verfolgt zu werden. Ein ehemaliges Vermieterpaar berichtete davon, ihn mehrere Nächte in der eigenen Stube schlafen gelassen zu haben, da Woyzeck meinte, in seiner Dachkammer spuke es. Er habe dort Stimmen gehört, erzählte er.
Stimmen, Sinnestäuschung, Störungen im Blutlauf
»Zur selben Zeit sey es ihm gewesen, als ob sein Herz mit einer Nadel berührt würde und er habe die dabei empfundenen Beunruhigungen dem Teufel zugeschrieben, und von ihm geglaubt, daß er ihm, als er gebetet, die Worte zugerufen habe: Da hast du den lieben Gott«, hält Clarus im Gutachten fest. Woyzeck berichtete ihm von geheimnisvollen Stimmen, die ihn in den Suizid treiben wollten und ihm kurz vor dem Mord »Stich die Frau Woostin todt!« zugeflüstert haben sollen.
Allerdings berichteten keineswegs alle Zeugen von solchen Auffälligkeiten. Clarus schrieb deutlich mehr als beim letzten Mal, aber unterm Strich lief es auf dasselbe hinaus: Es gebe keinen Grund anzunehmen, dass sich Woyzeck »zu irgend einer Zeit in seinem Leben … im Zustand einer Seelenstörung befunden« habe. Mögliche Sinnestäuschungen führte Clarus auf »Störungen im Blutlauf« zurück.
»… wobei er gedacht: Das thust du nicht, die Stimme aber erwidert habe: ›Du thust es doch‹«aus dem Gerichtsgutachten von Johann Clarus
Seiner Empfehlung, angesichts der Bedeutung des Falls doch ein Zweitgutachten einzuholen, folgte das Gericht zunächst nicht. Stattdessen bestätigte es am 4. Oktober 1823 das Todesurteil.
Ob und wie zurechnungsfähig der Delinquent war, habe dabei kaum eine Rolle gespielt, erläutern der Psychiatriehistoriker Holger Steinberg und der Literaturwissenschaftler Sebastian Schmideler in ihrer Studie »Der Fall Woyzeck – Historische Quellen, zeitgenössische Diskurse«. Im Mittelpunkt stand demnach die Frage, »ob Woyzeck die Tatwaffe mit der Absicht präpariert hatte, die Woostin zu töten«. Solchermaßen planvolles Vorgehen unterscheidet noch heute den Mord vom weniger schwer wiegenden Totschlag.
Erst einige Monate später veranlassten die Richter auf Geheiß des Königs die von Clarus geforderte Überprüfung. Doch untersuchten die Leipziger Mediziner dabei nicht noch einmal den psychischen Zustand Woyzecks, sondern prüften lediglich das Gutachten auf Richtigkeit. Fehler fanden sie dabei nicht. Zuvor scheiterte ein weiteres Gnadengesuch. Woyzecks Schicksal war besiegelt.
Der literarische Woyzeck
Seine literarische Wiederauferstehung erfolgte zwölf Jahre später in Straßburg. Dorthin war der junge Autor Georg Büchner geflohen, nachdem er durch seine Flugschrift »Der Hessische Landbote« die Obrigkeit im Großherzogtum Hessen gegen sich aufgebracht hatte und steckbrieflich gesucht worden war. Im Sommer 1836 begann er mit den Arbeiten an einem Drama, das er nie beenden und das erst nach seinem frühen Tod 1837 überhaupt den heute weltberühmten Titel »Woyzeck« erhalten sollte.
Darin ersticht der Stadtsoldat Friedrich Johann Franz Woyzeck seine Verlobte – und Mutter seines Kindes – Marie, nachdem er herausgefunden hat, dass sie ihn betrügt. Stimmen befehlen ihm den Mord, wobei die psychischen Probleme unter anderem von einem wissenschaftlichen Experiment herrühren: Um seinen Lebensunterhalt aufzubessern, heuert Woyzeck als menschliches Versuchskaninchen bei einem Doktor an, der ihn demütigt und zwingt, ausschließlich Erbsen zu essen. Mangelerscheinungen führen zu einer fortwährenden Angespanntheit. Zudem erniedrigt ihn der Hauptmann, sein militärischer Vorgesetzter.
Das schmale literarische Fragment ist also keineswegs eine Nacherzählung der Leipziger Geschehnisse. Denn zusätzlich verarbeitete Büchner hier einige ähnliche Mordfälle seiner Zeit, die heute vermutlich als Femizide bezeichnet würden und in denen ebenfalls die Zurechnungsfähigkeit der Täter begutachtet worden war: So erstach der Tabakspinnergeselle Daniel Schmolling im Herbst 1817 nahe Berlin seine schwangere Geliebte Henriette Lehne. Am 15. August 1830 tötete der Webergeselle Johann Dieß auf gleiche Weise Elisabeth Reuter, mit der er ein Kind hatte.
Schmollings Prozess, für den unter anderem Büchners Literatenkollege, der Romantiker E. T. A. Hoffmann (1776–1822), ein juristisches Gutachten angefertigt hatte, endete zunächst mit einem Todesurteil, das aber in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Nach einem Mord an einem Mithäftling wurde Schmolling allerdings 1827 doch hingerichtet. Dieß hingegen erhielt 18 Jahre Zuchthaus und starb ebendort Ende Mai 1834. Seine Leiche landete in der Anatomie der Universität Gießen, wo Georg Büchner kurz darauf Medizin studierte und an anatomischen Übungen teilnahm. Möglicherweise lag der Mörder sogar vor dem späteren Autor auf dem Seziertisch.
Psychiker versus Somatiker
Auch wenn sich Büchner zu diesen Fällen nicht in Briefen oder Tagebuchaufzeichnungen äußerte, steht fest, dass er sie gekannt haben muss, hatten sie doch eine breite, öffentlich geführte Debatte über die Zurechnungsfähigkeit eines Mörders ausgelöst. Viele der Beiträge hierzu – etwa beide Clarus-Gutachten – erschienen in der »Zeitschrift für die Staatsarzneikunde« des Rechtsmedizinpioniers Adolph Christian Heinrich Henke. Ein Abonnent dieser Zeitschrift war Büchners Vater, der darin sogar einmal selbst ein ähnliches Gutachten veröffentlicht hatte.
Die Diskussion entspann sich vor allem zwischen Vertretern zweier Lager in der Psychiatrie: Während die »Psychiker« – wie Clarus und auch Heinroth – »Geisteskrankheit aus einer philosophischen und religiös-ethischen Perspektive als Krankheit der immateriellen Seele ansehen, interpretieren die ›Somatiker‹ … Geisteskrankheiten von einem eher organischen Standpunkt aus als Erkrankungen des Körpers«, fasst der Literaturwissenschaftler Olaf Schwarz in seinem Buch »Das Wirkliche und das Wahre« zusammen. Aus Sicht der Somatiker könne die Seele auf Grund ihrer Körperlosigkeit und ihres gottähnlichen Charakters gar nicht erkranken.
Die entgegengesetzten Anschauungen schlugen sich auch in der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit nieder: Für Psychiker resultierten psychische Krankheiten aus einer unmoralischen Lebensführung und oblagen somit der Verantwortung jedes Einzelnen, wahrhaft unzurechnungsfähig konnte dadurch kaum einer sein. Somatiker hingegen sahen die Ursprünge der Krankheit in einer körperlichen Krankheit und Funktionsstörung im Gehirn, folglich hatte der Erkrankte darauf ebenso wenig Einfluss wie auf die Gesundheit seines Magens oder der Nieren. Als möglicher Auslöser für eine solche »somatische« Störung wurde in jener Zeit ein Phänomen namens »Amentia occulta« viel besprochen, eine Art plötzlich auftretender Wahnsinn, von dem man annahm, dass er möglicherweise auch Affekthandlungen auslöst. Durch die Spaltung in die beiden Lager verkam die Debatte um die Zurechnungsfähigkeit des historischen Woyzeck zur Glaubensfrage.
Ob Büchner sich mit »seinem« Woyzeck auch in der Frage der Zurechnungsfähigkeit positionieren wollte, ist in der Forschung bis heute umstritten. Eine Gerichtsverhandlung kommt im Drama nicht vor. Wahrscheinlich ging es ihm »nicht nur um das Aufzeigen der psychischen Erkrankung an sich, sondern primär um den Weg hin zu dieser psychischen Erkrankung und zur möglichen Unzurechnungsfähigkeit«, schreibt die Juristin Anja Schiemann von der Universität zu Köln in ihrem Buch »Der Kriminalfall Woyzeck«. Das Drama zeige, »warum Woyzeck ist, wie er ist, und wie es zur Tat gekommen ist«. Überhaupt hat Büchner seine Rolle als Künstler eher als die eines Beschreibenden gesehen, wie er einmal selbst in einem Brief an seine Eltern festgehalten hat: »Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen.«
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