»Wüstendrachen«: Die ältesten Bauzeichnungen der Welt
In Jordanien und Saudi-Arabien haben Archäologen zwei Felsbilder von gigantischen Tierfallen entdeckt, die möglicherweise die weltweit frühesten bisher bekannten Bauzeichnungen darstellen. Die Entdecker deuten die ungefähr 7000 bis 8000 Jahre alten Darstellungen als präzise Pläne von nahe gelegenen archäologischen Strukturen, die als »Wüstendrachen« bekannt sind. Der Name leitet sich von modernen Lenkdrachen ab, deren Form aus der Luft den Umrissen der aus Bruchsteinen angelegten Riesenfallen ähnelt. Diese bestehen jeweils aus zwei trichterförmig ausgerichteten Mauerzügen, die in einen geschlossenen Bereich mit Fallgruben münden. Die »Wüstendrachen« dienten sehr wahrscheinlich dazu, Gazellen- und Antilopenherden in die Anlagen und die dortigen Gruben zu treiben.
Doch unabhängig von der einstigen Funktion der »Wüstendrachen« bezeugen die Felsbilder, dass die Menschen der Jungsteinzeit in der Lage waren, nicht nur die riesigen Anlagen – oft größer als zwei Fußballfelder – räumlich zu konzipieren, sondern diese auch in eine zweidimensionale skalierte Darstellung zu bringen. Sie legten also eine Karte an und übertrugen die Riesenfallen so in eine Art »schriftliche Form der Kommunikation«, wie die Entdecker um Rémy Crassard im Fachblatt »PLOS ONE« schreiben. Ein ähnliches räumliches Verständnis wie das der neolithischen Jäger finde sich erst einige Jahrtausende später bei anderen Kulturen wieder, sagt der Archäologe vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Denn selbst heute noch lassen sich die »Wüstendrachen« nur aus der Luft vollständig erfassen.
»Das Erstaunliche an der Entdeckung ist, dass die Pläne maßstabsgetreu sind«, erklärt Crassard. Sie zeigen eine raffinierte Darstellungsweise der Anlagen, »die durch deren Form, Symmetrie und Dimensionen bestimmt wird«, fügt er hinzu. »Wir hatten keine Ahnung, dass die Menschen zu dieser Zeit in der Lage waren, mit solcher Genauigkeit vorzugehen.«
Kein Plan der Welt scheint älter zu sein
Aus dem Altertum sind nur wenige vergleichbare Pläne von Gebäuden oder Booten bekannt. Die meisten stammen aus dem alten Ägypten und Mesopotamien; sie sind bronzezeitlich und mehrere tausend Jahre alt. Es gibt auch ein paar steinzeitliche Bilder, die womöglich Pläne wiedergeben. Eines davon befindet sich an der Innenwand eines zirka 6600 Jahre alten Hauses in Çatalhöyük (Türkei), der möglicherweise ersten Stadt der Welt. Aber nichts davon ist so alt und präzise in der Darstellung wie die neuen Funde aus Jordanien und Saudi-Arabien, sagen die Forschenden.
Eine der beiden Zeichnungen wurde in einen etwa 80 Zentimeter langen und 32 Zentimeter breiten Stein geritzt. Archäologen fanden ihn 2015 in den Überresten eines neolithischen Lagerplatzes, die sie unweit eines »Wüstendrachen« in der jordanischen Wüste der Region Jibal al-Khashabiyeh entdeckten.
In der Nähe, am Rand eines Felsplateaus, das sich mehr als 20 Kilometer nach Süden erstreckt, liegen sieben weitere solcher Anlagen. Sie wurden nach demselben Muster erbaut: eine sternförmige Umfassung mit Gruben an den Sternspitzen und zwei davorliegenden Mauern, zwischen die Jäger eine in Panik geratene Herde hineintreiben konnten, schreibt die Forschergruppe in ihrer Studie.
Die aufgeschichteten Steine zeichnen sich auf dem Wüstenboden oft nur als Linien ab; wie Crassard anmerkt, hätten Gazellen und Antilopen sie leicht überspringen können. Doch die Mauern waren wohl genügend sichtbar, so dass die Tiere vor ihnen zurückschreckten und in die Gruben stürzten, erklärt der Archäologe. Jedes der erlegten Tiere hätte einen Menschen wohl für Wochen mit ausreichend Fleisch versorgt.
In der Steinzeit war die Region grün
Die Landschaft der Region Jibal al-Khashabiyeh ist heute eine Steinwüste, doch als die »Wüstendrachen« angelegt wurden, war es dort grüner – die Gegend habe auch jetzt noch eine erhabene Schönheit, sagt der Archäologe und Studienautor Wael Abu-Azizeh vom South Eastern Badia Archaeological Project in Jordanien. »Das Plateau grenzt an einen Paläosee – dieser bildet eine natürliche Vertiefung, in der sich in der Vorgeschichte Wasser sammelte«, sagt Abu-Azizeh.
Ein zweites Felsbild, das Archäologen 2015 bei einem Survey am Jebel az-Zilliyat in Saudi-Arabien fanden, erstreckt sich etwa auf 3,8 Meter Länge und 2,3 Meter Breite auf einem Sandsteinfelsen. Der Brocken liegt einige Kilometer entfernt zwischen zwei jeweils paarig angeordneten, sternförmigen »Wüstendrachen« – auch die Felszeichnung zeigt die Grundrisse zwei solcher Anlagen. Wie auf dem Plan liegen zudem die Zugänge der parallelen Riesenfallen so nahe beieinander, dass unabhängig davon, in welche Richtung die Tiere flohen, sie den Jägern wohl in die Falle gingen.
Da sich die Felsbilder nicht direkt datieren lassen – der Stein selbst ist ja sehr viel älter als die Ritzungen darauf –, bestimmten die Forschenden das Alter von Holzkohlestücken und Sedimenten, die sie bei Grabungen entnommen hatten. Die Kohle wurde mit Hilfe der 14C-Methode untersucht und die Sedimente anhand der Optisch Stimulierten Lumineszenz. So ließ sich die Steinzeichnung aus dem Lagerplatz in Jordanien auf ein ungefähres Alter von 7000 Jahren datieren, was den Radiokohlenstoffdaten aus den unweit gelegenen »Wüstendrachen« entspricht. Im Fall der Felszeichnung in Saudi-Arabien gehen die Forschenden davon aus, dass sie ungefähr 8000 Jahre alt ist – so wie die dortigen Riesenfallen.
Es liegt nahe anzunehmen, dass es sich bei den Felsbildern um eine Art Bauplan handelt. Damit wären sie die frühesten bekannten Planzeichnungen weltweit. Es könnte sich aber auch um Karten der bereits errichteten »Wüstendrachen« handeln, um an ihnen die Jagd zu organisieren. Oder, auch das vermuten die Forschenden, es waren symbolhafte Darstellungen, die bei Ritualen ihren Zweck erfüllten, erklärt Abu-Azizeh. »Diese Menschen lebten für die ›Wüstendrachen‹, aßen von den ›Wüstendrachen‹, schliefen für die ›Wüstendrachen‹ … vielleicht mussten sie deshalb die Anlagen in Abbildungen übertragen.«
Lebten die Jäger sesshaft in Siedlungen?
Abu-Azizeh weiß nicht, wie viele Jäger für eine erfolgreiche Jagd in der Anlage nötig waren. Vielleicht rückten sie mit Hunden an, und daher wurden weniger Menschen gebraucht. Das Team war zunächst auch davon ausgegangen, dass die Jäger nomadisch lebten, den Tierherden hinterherzogen und so von Falle zu Falle wanderten. Doch nun scheint es, als hätten sich die Tiere stets im ungefähr selben Gebiet aufgehalten. Die Menschen nutzten also vielleicht einige ihrer »Wüstendrachen« mehrere Monate am Stück, sagt Abu-Azizeh. Das würde auch bedeuten, dass die nahe gelegenen Lagerplätze keine temporären Camps waren, sondern länger bewohnte Siedlungen. Abu-Azizeh will dieser Frage als Nächstes nachgehen.
Inzwischen sind insgesamt 6255 »Wüstendrachen« im Nahen und Mittleren Osten dokumentiert. In manchen Regionen in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien findet sich eine Anlage pro Quadratkilometer. Die Stätten im Nahen Osten gelten als die ältesten, und es gibt Hinweise darauf, dass einige von ihnen über Jahrtausende hinweg benutzt wurden.
Archäologe Hugh Thomas von der University of Western Australia, der nicht an der neuen Studie beteiligt war, leitet in Saudi-Arabien ein Forschungsprojekt, das sich mit Mustatils befasst. Dabei handelt es sich um großflächige Ritualmonumente, die durchschnittlich 8000 Jahre alt sind. Sie befinden sich oft in denselben Gebieten wie die »Wüstendrachen«; Grabungen ergaben jedoch, dass sie keinen profanen Zwecken dienten, sondern dass dort wohl Rituale und Opferungen abgehalten wurden.
Es sind inzwischen mehr als 1000 Mustatils bekannt, alle in Saudi-Arabien. In einigen Fällen hatte man die »Wüstendrachen« vor den Mustatils erbaut, andere Male aber auch später – offenbar funktionierten die Tierfallen derart effektiv, dass immer wieder neue angelegt und über einen langen Zeitraum verwendet wurden, sagt Thomas. »Ganz ähnlich, wie wir es mit unseren Forschungen zu den Mustatils zeigen konnten, bezeugt auch die aktuelle Studie, dass die Menschen des Neolithikums schon vor 7000 Jahren in der Lage waren, monumentale Anlagen zu entwerfen und zu bauen.«
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