Zähneknirschen: Die Kiefer-Hirn-Connection
Das böse Erwachen kommt bei der Zahnärztin. »Da wird aber ganz schön geknirscht«, sagt sie während meines Vorsorgetermins und klingt vorwurfsvoll. Zähneknirschen – ich? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wieso weiß ich nichts davon? Sehr einfach, wie mir meine Zahnärztin erklärt: weil ich dabei schlafe, wie so manch andere. Laut einer systematischen Literaturanalyse arbeiten rund 13 Prozent der Erwachsenen nächtens kräftig mit ihren Kiefern. Bis zu 31 Prozent tun dies sogar tagsüber ohne dabei etwas zu essen.
Anhand der Abriebspuren an den Zähnen rekonstruiert die Ärztin, wie ich nachts meine Kiefer bewege. Die Bewegung, zu der sie mich anleitet, fühlt sich erstaunlich vertraut an. Damit ich die Zähne nicht weiter abschmirgele, bekomme ich eine Schiene für den Unterkiefer. Fortan soll ich also mit Plastik im Mund schlafen. Keine schöne Vorstellung. Um mich aufzumuntern, erzählt die Zahnärztin, manche Menschen trügen sogar freiwillig Zahnschienen. Damit ließe sich unter anderem die Leistung beim Sport steigern. Als ambitionierte Hobbysportlerin werde ich hellhörig. Wie soll das denn funktionieren? Gibt es eine bislang unbekannte Verbindung zwischen Zähnen, Gehirn und Muskulatur? Lässt sich die Kraft des Kiefers am Ende positiv nutzen? Immerhin kann beim Zähneknirschen das Zehnfache der normalen Kaukraft wirken.
Die Recherche ergibt: Es ist mal wieder kompliziert. Man muss mindestens drei Arten von Zahnschienen unterscheiden. Gleich vorweg: Das Exemplar, das ich bekommen habe – durchsichtig, relativ weich und biegsam –, macht mich sicherlich nicht leistungsfähiger, selbst wenn ich es beim Sport tragen würde. Vermutlich wird mich die Schiene auch nicht vom Zähneknirschen abhalten. Wozu taugt das Ding dann überhaupt? »Die klassische Knirscherschiene ist im Grunde nur ein Verschleißschutz«, sagt Rainer Hahn, Leiter eines zahnärztlichen Versorgungszentrums in Tübingen. Man verpasst den Zähnen einen weichen Überzug, damit sie trotz der nächtlichen Kieferaktivität heil bleiben.
Viele Menschen knirschen, pressen oder hacken tagsüber mit den Zähnen, ohne es zu merken
Fachleute sprechen übrigens nicht von Zähneknirschen, sondern von Bruxismus. Das umfasst nicht nur das Über- und Aneinandergleiten der Zähne, also das klassische Knirschen; damit ist ebenfalls ein krampfhaftes Zusammenpressen der Kiefer gemeint. Und dann gibt es noch die Schmatzer oder Hacker. »Sie arbeiten in rhythmischen Bewegungen mit ihren Zähnen«, berichtet die Zahnärztin Ingrid Peroz von der Berliner Charité. Unter Bruxismus fällt ebenso das Anspannen der Kiefermuskulatur, ohne dass die Zähne überhaupt in Kontakt kommen.
Einige Menschen knirschen, pressen oder hacken tagsüber mit den Zähnen, ohne es zu merken. Andere drücken die Zunge gegen die Zähne oder ziehen die Wange nach innen und kauen darauf herum. »Bei manchen Patienten ist die Schleimhaut schon ganz weiß«, erzählt Peroz. Es bildet sich eine Hornschicht. »Definitionsgemäß ist Bruxismus eigentlich nur eine Aktivität der Kaumuskulatur«, sagt die Oberärztin weiter. Mit Kolleginnen und Kollegen hat sie die aktuelle Leitlinie zu dem Thema verfasst. Demnach ist Bruxismus zunächst nicht als Krankheit zu werten – es sei denn, er führt zu einer extremen Abnutzung der Zähne oder hängt mit Erkrankungen zusammen, beispielsweise einer Schlafapnoe.
Manche Menschen beanspruchen ihre Kiefermuskulatur so stark, dass sie den Mund kaum mehr öffnen können. Der ganze Kopf tut ihnen weh oder das Kiefergelenk knackt. »Das kann sehr schmerzhaft sein«, sagt Zahnarzt Hahn. In solchen Fällen spricht man von einer »craniomandibulären Dysfunktion«. Zwar gilt Bruxismus als Risikofaktor, doch längst nicht jeder Knirscher oder jede Knirscherin entwickelt ein derartiges Krankheitsbild. Etwa 10 Prozent der Allgemeinbevölkerung haben es; bis zu 80 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Bei Bruxismus ist das nicht der Fall, Männer und Frauen knirschen gleichermaßen.
Zähneknirschen als Antistressprogramm
Die Ursachen von Bruxismus, so heißt es in der Leitlinie, seien »multifaktoriell und teils unbekannt«. Während man früher vermutete, es hänge mit der Zahnstellung zusammen, tippt man heute eher auf Stress, Angst- und Schlafstörungen. Ebenso können genetische Faktoren, ein Mangel an bestimmten Neurotransmittern sowie Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsum eine Rolle spielen. Auch wenn Krankenkassen immer mehr Knirscherschienen verschreiben, sei Zähneknirschen kein modernes Problem, sagt Expertin Peroz. Schon bei den Neandertalern fände man abgenutzte Zähne, die auf eine starke Aktivität der Kaumuskulatur hinwiesen. Inwieweit sie auch geknirscht haben, könne man zwar nicht sagen. Doch dass Emotionen Einfluss auf die Kaumuskulatur haben, sei sicherlich in der Evolution angelegt.
»Dieses evolutionäre Muster ist in jedem von uns, auch in Tieren. Das haben wir seit Millionen Jahren«, stimmt ihr Tübinger Kollege Hahn zu. Gefühle wie Wut oder Aggression lösen häufig eine starke Kieferanspannung aus, der Unterkiefer wird in Eckzahnposition nach vorne geschoben. Verantwortlich dafür ist ein Nervengeflecht namens Formatio reticularis, das den Hirnstamm bis zum Rückenmark durchzieht. Es reguliert Emotionen, die Motorik und andere lebenswichtige Funktionen. Diese Nerven sind eng mit der Kiefermuskulatur verschaltet.
Forschende haben herausgefunden, dass aggressives Beißen unter anderem den Pegel des Stresshormons Noradrenalin sinken lässt. Mit den Zähnen zu knirschen, könnte demnach helfen, Stress zu bewältigen. Weil das Signal dazu aus dem Gehirn kommt, ist es schwer, dagegen anzukämpfen. »Eine kausale Therapie mit Knirscherschienen gibt es nicht«, sagt Hahn.
Das heißt aber nicht, dass man mit Zahnschienen keinerlei Einfluss auf die Kiefermuskulatur nehmen kann. In der Zahnwurzelhaut liegen hochempfindliche Sensoren: Die Ruffini-Körperchen registrieren jede Faser, jedes noch so kleine Körnchen zwischen unseren Zähnen und melden es ans Gehirn. Dieses schickt dann wiederum ein Signal an die Muskulatur. Dafür hat Hahn ein Beispiel parat: »Stellen Sie sich vor, Sie beißen auf einen Kirschkern. Ihr Kiefer lässt sofort los.« Die Ruffini-Körperchen werden also sehr wohl merken, dass ich eine Knirscherschiene im Mund habe. Infolgedessen signalisiert das Gehirn den Kiefermuskeln: »Ihr müsst anders arbeiten.« Schließlich ist der Abstand zwischen den Kiefern plötzlich geringer. »Das kann im ersten Moment zu einer Entspannung führen«, sagt Peroz. Hat sich ein Patient jedoch an die Schiene gewöhnt, knirscht er in der Regel weiter wie bisher. Immerhin sind die Zähne dabei geschützt.
Nur für Härtefälle: Therapieschienen
Eine zweite Art von Zahnschienen wirkt gezielt auf die Rezeptoren des Zahnhalteapparats. Derlei Therapieschienen seien auf den ersten Blick gar nicht so leicht von gewöhnlichen Knirscherschienen zu unterscheiden, sagt Oliver Ahlers. Der Spezialist für Funktionsdiagnostik und -therapie betreibt eine Praxis in Hamburg-Eppendorf. Gegenüber liegt das Universitätsklinikum, wo er als Privatdozent lehrt und forscht. Meist sind Therapieschienen zwar ebenfalls durchsichtig, sie bestehen aber aus anderen Materialien und werden anders hergestellt. Und, das Wichtigste: »Sie beruhen auf dezidierter Diagnostik«, erklärt Ahlers. Während für eine Knirscherschiene einfache Abformungen genügen, sind zur Anfertigung einer Therapieschiene spezielle Untersuchungen notwendig.
Das Ergebnis: »Ein komplexes, neuromuskuläres Reflexmustertool«, sagt Hahn, der ebenfalls solche Schienen anpasst. »Je nachdem, wie ich diese forme, kann ich die Ruffini-Körperchen im jeweils gegenüberliegenden Kiefer auf unterschiedliche Art und Weise ansprechen«, erklärt der Zahnmediziner. Man könne die Aufbisspunkte eher hart oder weich gestalten. Stimuliert man alle Rezeptoren zur selben Zeit, entspannt sich die Muskulatur, die Beschwerden lassen nach. Weil sie sich mit der Zeit abnutzen, muss ein Zahnarzt die Punkte aber regelmäßig messen und nacharbeiten.
Zudem kann das Tragen der Schiene die Position der Kiefer und somit den Biss verändern. Das stört möglicherweise das Zusammenspiel von Zähnen und vorhandenen Kronen, Brücken oder Implantaten; unter Umständen müssen Zähne und Zahnersatz abgeschliffen oder neu angefertigt werden. Manchmal muss ein Kieferorthopäde eingreifen. Weil damit neue Behandlungen nötig werden könenn, fertige man eine Therapieschiene niemals leichtfertig an, sondern nur, wenn jemand starke und anhaltende Beschwerden habe, sagt Hahn.
Therapien gegen Zähneknirschen
Derzeit ist keine allgemein wirksame Heilmethode bekannt. Es gibt lediglich eine Reihe von Ansätzen, die in manchen Fällen zum Erfolg führen. Sie wurden aber meist nur an einer kleinen Gruppe und über relativ kurze Zeiträume getestet. Dazu zählen:
• Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung oder autogenes Training
• Kognitive Verhaltenstherapie
• Biofeedback (die Spannung der Kiefermuskulatur wird gemessen und über ein Geräusch zurückgemeldet)
• Injektionen von Botox in die Kiefermuskulatur (Off-label-Anwendung, wird in der Leitlinie nicht empfohlen)
Quelle: Leitlinie zum Bruxismus
Anders sieht es mit Sportzahnschienen aus. Sie sollen die Leistung von gesunden Athletinnen und Athleten verbessern. Mehr Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer und eine verbesserte Koordination – das und noch mehr versprechen Hersteller so genannter »Performance-Zahnschienen«. Diese bieten wohlgemerkt keinen Schutz vor Zahnschäden durch Schläge etwa beim Boxen, dafür braucht es zusätzlichen Schutz. Die ebenfalls durchsichtigen, harten Sportschienen seien quasi eine Weiterentwicklung der Therapieschienen, sagt Hahn. Er arbeitet mit einem Unternehmen, das unter anderem Funktionszahnschienen herstellt. Über die Ruffini-Körperchen sende man wiederum Signale ans Gehirn, erklärt der Zahnmediziner. Statt einer Entspannung der Muskulatur wolle man nun aber erreichen, dass bestimmte Bewegungsmuster schneller abgerufen werden. Diese seien ebenfalls im Stammhirn abgespeichert, sagt Hahn. Die Folge: »Die Bewegung wird symmetrischer, und man kann seine Kraft effektiver nutzen.«
Mehr Leistung dank Zahnschiene?
Die deutlichsten Effekte lassen sich Hahn zufolge bei Sportarten erzielen, in denen viel Koordination gefordert ist. Laut einer Studie aus Südkorea schlagen Profigolfer mit Zahnschiene schneller, weiter und präziser. Auch Kraftsportler, Läufer, Sportschützen oder Ballsportler zeigten mit Schiene im Mund zum Teil bessere Leistungen. Insgesamt ist die Studienlage uneindeutig, die Stichproben sind meist überschaubar. Forschende der Universität Frankfurt ließen beispielsweise 20 junge Freizeitläufer an sich vorbeitraben – einmal mit, einmal ohne Zahnschiene. Mit Hilfe spezieller Kameras analysierten sie deren Bewegungsmuster und kamen zu dem Schluss: Mit Schiene läuft es sich symmetrischer. Das könne helfen, das Verletzungsrisiko zu verringern oder die Leistung zu verbessern.
Eine Untersuchung aus Portugal konnte hingegen keine signifikanten Unterschiede feststellen. Den spezialisierten Zahnarzt Ahlers wundert das nicht: »Wenn Sie Studien zu ein und derselben Frage heraussuchen, werden Sie diametral entgegengesetzte Ergebnisse finden.« Zwar kommt das auch in anderen Forschungsbereichen vor, hier fällt es jedoch besonders auf. Eine italienische Studie weist darauf hin, dass Menschen sehr unterschiedlich auf die Schienen reagieren können; daher seien individuelle Untersuchungen erforderlich.
Ein Grund dafür: Laufen ist ein komplexer Bewegungsablauf. Zahlreiche Faktoren können Einfluss darauf nehmen. »Mit neuen Schuhen laufen Sie beispielsweise anders«, führt Peroz an. Jede und jeder hat persönliche Asymmetrien oder Schwachstellen. Und je weiter man sich physisch vom Kiefergelenk entfernt, desto mehr potenzielle Störfaktoren kommen hinzu. Die Zahnärztin bezweifelt, ob die Studienergebnisse stets im Zusammenhang mit dem Tragen einer Zahnschiene stehen.
Kauprobleme können sich auf die Wirbelsäule auswirken
Erwiesen ist hingegen, dass sich Probleme mit dem Kauorgan auf die Halswirbelsäule und die komplette Körperstatik auswirken können. Ahlers kennt den Grund: »Unser Körper ist eine Kombination von Funktionsketten.« Das bedeutet: Die Muskeln unseres gesamten Körpers stehen – ähnlich den Gliedern einer Kette – miteinander in Verbindung. Die Kaumuskulatur stellt das obere Ende der vorderen Funktionskette dar. Solange der Mund offen ist, ist sie unterbrochen. Beißt man jedoch die Zähne zusammen, schließt sie sich. »Sie können am Hals Muskelstränge fühlen, die sich bis zum Schlüsselbein fortsetzen«, sagt der Experte. Über diesen Kettenschluss lässt sich zusätzliche Kraft mobilisieren, die beispielsweise hilft, Lasten zu heben. Genau darauf beruht Ahlers zufolge der Effekt solcher Zahnschienen.
Das leuchtet ein. Nicht umsonst beißen wir – sprichwörtlich und intuitiv – die Zähne zusammen, wenn wir vor einer schwierigen oder anstrengenden Aufgabe stehen. Doch wie passt das zu dem Mechanismus, den sein Kollege Hahn postuliert? »Vielleicht haben wir beide Recht. Es ist durchaus denkbar, dass hier zwei Mechanismen wirken«, sagt Ahlers. Sie aufzudröseln ist kompliziert. Man müsste beispielsweise die Stoffwechselaktivität der Probandinnen und Probanden in bestimmten Hirnregionen messen, während diese – mal mit, mal ohne Zahnschiene – Sport treiben. Solche Untersuchungen gibt es noch nicht.
Sollte ich mir also eine zweite Schiene zulegen, auf die ich beim Sport beiße? Über ganz Deutschland verteilt gibt es laut Hahns Schätzung bereits 1500 bis 2000 zertifizierte Sportzahnärzte und -ärztinnen, die solche Sportzahnschienen anpassen können. Einen wesentlichen Teil davon bildet er in Tübingen selbst aus. Auch in Nürnberg gibt es ein entsprechendes Curriculum. Mindestens 200 bis 300 Euro müsse man für eine Sportzahnschiene ausgeben, sagt Hahn.
Schadet die Sportlerschiene?
Einige Profisportlerinnen und -sportler schwören darauf. Der Downhill-Mountainbiker Simon Maurer sagt beispielsweise, seine Schiene versetze ihm einen Leistungsschub, er könne damit richtig viel herausholen. »Richtig viel« bedeutet in seinem Fall: acht Sekunden. »Freizeitsportlerinnen und -sportler werden davon in der Regel nichts bemerken«, sagt Ahlers. Das könnte die Heterogenität der Studienergebnisse erklären. Vielleicht waren die Probanden und Probandinnen nicht alle trainiert genug. Bislang ist unklar, welche genauen Voraussetzungen eine Person erfüllen muss, damit eine Zahnschiene ihre sportliche Leistung steigert.
Sicher ist hingegen: Die Tools sind nicht für jede und jeden geeignet. Weil man sie lediglich zum Sport trägt, besteht zwar nicht die Gefahr, den Biss umzustellen. Dafür brauche es eine tägliche Tragedauer von mindestens acht bis zwölf Stunden, sagt Hahn. Aber: »Die Zahnschiene ermöglicht es Sporttreibenden, verstärkt die Zähne zusammenzubeißen und Last in das Kauorgan einzuleiten«, sagt Ahlers. Es ist zwar nicht erwiesen, jedoch möglich, dass dies einen Bruxismus fördert. Wer bereits Probleme mit dem Kiefergelenk hat, sollte sich zunächst behandeln lassen. Um solches Wissen unter Zahnärzten zu verbreiten, hat Ahlers kürzlich gemeinsam mit seinem Kollegen Holger Claas eine entsprechende Einteilung veröffentlicht.
Da ich kein Profi, aber Knirscherin bin, verzichte ich auf eine Sportzahnschiene. Stattdessen trage ich brav meine Knirscherschiene und versuche, Stress zu vermeiden. Übrigens stehen die Chancen gut, dass das Zähneknirschen ganz von allein aufhört: Im zweiten und dritten Lebensjahrzehnt ist es am häufigsten, danach entspannen sich offenbar viele Kiefer wieder.
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