Direkt zum Inhalt

Zahnspangen: Notwendige Behandlung oder Überversorgung?

In der kieferorthopädischen Praxis kollidieren bisweilen medizinische Notwendigkeiten mit den Geschäftsinteressen der Dienstleister. Es braucht mehr Forschung zu den Zielen und Erfolgen der Zahnregulierung in Deutschland.
Kleiner Junge mit Zahnspange beim Zahnarzt
Laut dem Barmer »Zahnreport« nahmen bundesweit 54,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 8 bis 17 Jahren eine kieferorthopädische Behandlung in Anspruch.

Mehr als jedes zweite Kind bekommt in Deutschland heutzutage eine Zahnspange. Bei manchen beginnt die kieferorthopädische Behandlung mit einer losen Variante – je nach individueller Zahnentwicklung zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr. Häufig folgt dann eine festsitzende Spange: Mit Hilfe von so genannten Brackets, die auf jeden Zahn geklebt werden, und einem Draht, der permanent Druck auf die Zähne ausübt, soll das Gebiss in Idealposition gebracht werden.

»Primäre Aufgabe der Kieferorthopädie ist die präventive und korrektive Behandlung und Beseitigung von Fehlfunktionen sowie von Zahn- und Kieferfehlstellungen mit Krankheitswert«, steht im Begleittext zur Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie, die das Institut der Deutschen Zahnärzte vor zwei Jahren veröffentlichte. Genau hier setzen Kritik und Zweifel von Verbraucherverbänden und vereinzelt auch von Fachkollegen an: Welche Fehlstellungen haben tatsächlich einen Krankheitswert? Wo spielen Geschäftsinteressen der Leistungsanbieter eine Rolle, die auf womöglich uninformierte und unsichere Patientenfamilien treffen?

»Bei den kieferorthopädischen Leistungen und den Zahnspangen gibt es definitiv einen Missstand«, sagt Stefan Schwartze, SPD, Patientenbeauftragter der Bundesregierung. Viele Menschen bekämen Leistungen aufgeredet, die für eine sinnvolle medizinische Behandlung gar nicht notwendig seien, zum Teil würden diese sogar aggressiv beworben.

Haben deutsche Kinder besonders schiefe Zähne?

»Wer internationale Vergleiche betrachtet, gewinnt schnell den Eindruck, deutsche Kinder haben die schiefsten Zähne der Welt«, schreiben Johannes Edelhoff, Markus Grill und Palina Milling, die für den NDR, den WDR und die »Süddeutsche Zeitung« zum Thema recherchierten. Während im Nachbarland Dänemark etwa 29 Prozent der Kinder, in Schweden 30 Prozent und in Norwegen 35 Prozent eine Zahnspange tragen würden, »bekommen hierzulande schätzungsweise 66 Prozent eine Spange verpasst.«

Warum nun also tragen in Deutschland so viele Kinder eine Zahnspange? »Wegen mangelnder Aufklärung«, sagt Hans-Werner Bertelsen, Zahnarzt in Bremen. Alle Zähne erscheinen zunächst schief, wenn sie aus dem Kiefer in die Mundhöhle durchbrechen, sagt Bertelsen. »Mit der Zeit wachsen sich rund 90 Prozent der Zähne aber gerade, zum Beispiel durch den Druck der Lippen und der Zunge.«

Die meisten Kieferorthopäden würden bei jeglichem Schiefstand der Zähne auf eine Regulierung drängen. »Die Eltern vertrauen dem Arzt, denn wenn der sagt, eine Behandlung sei erforderlich, muss es ja richtig sein«, so Bertelsen. Zahnspangen, vor allem die festsitzenden, brächten den Kieferorthopäden viel Umsatz. Aber: »Wir haben ein absolutes Overtreatment. In den meisten Fällen ist die Zahnregulierung völlig überflüssig«, sagt der Zahnarzt.

»Bei den kieferorthopädischen Leistungen und den Zahnspangen gibt es definitiv einen Missstand«Stefan Schwartze, SPD

Robert Fuhrmann, Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Kieferorthopädie am Universitätsklinikum Halle/Saale, ist vollkommen anderer Ansicht. Laut dem aktuellen Zahnreport der Barmer Krankenkasse gibt es zwar in manchen Bundesländern eine Über-, in anderen aber auch eine Unterversorgung – zum Beispiel bei Jungen in Sachsen-Anhalt. Dort gebe es schlicht zu wenig kieferorthopädische Praxen. Der Grund: »Niemand will sich hier niederlassen. Kieferorthopäden sind Unternehmer. Ein Unternehmer geht dahin, wo Gewinne zu erwarten sind«, argumentiert Fuhrmann. In Sachsen-Anhalt kein leichtes Unterfangen: Der Anteil Privatversicherter sei gering, außerdem »wollen die Leute nicht gerne zuzahlen«.

Fuhrmann bezweifelt, dass die genannten Prozentangaben im Ländervergleich zur Zahnspangenhäufigkeit überhaupt vergleichbar sind: »Bei solchen Zahlen muss man sich immer fragen: Sprechen wir von der gleichen Altersgruppe, der gleichen Klientel? Oder handelt es sich bei den Angaben um eine vorselektionierte Gruppe?«

Den Vorwurf, Kieferorthopäden würden womöglich die gesellschaftlich hohen ästhetischen Ansprüche an äußere Merkmale, nicht nur strahlend weiße, sondern auch gerade Zähne, ausnutzen, weist Fuhrmann ab. Die Basis jeder Behandlung sei immer die medizinische Notwendigkeit: »Das Behandlungsziel ist, möglichst ideale, funktionale Verhältnisse zu schaffen.« Funktion und Ästhetik seien untrennbar miteinander verbunden: »Das, was gut funktioniert, sieht auch gut aus«, sagt Fuhrmann.

Regionale Unterschiede machen hellhörig

Über- oder Unterversorgung? Ein genauerer Blick auf den Barmer »Zahnreport«, der im Juni 2024 veröffentlicht wurde, hilft weiter. Dafür analysierten Fachleute unter der Leitung von Michael Walter, Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik an der Medizinischen Fakultät der TU Dresden, die Abrechnungsdaten von rund 53 000 Versicherten, die zu Beginn der Datenanalyse im Jahr 2013 acht Jahre alt waren. Insgesamt umfasste der Zeitraum der bundesweiten Untersuchung zehn Jahre.

Laut den Ergebnissen nahmen bundesweit 54,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 8 bis 17 Jahren eine kieferorthopädische Behandlung in Anspruch. Die Studienautoren sehen den Wert mit Blick auf die »6. Deutsche Mundgesundheitsstudie« noch im erwartbaren Bereich: Hier war bei Acht- und Neunjährigen ein Behandlungsbedarf bei 40,4 Prozent der Kinder ermittelt worden, 10 Prozent wiesen ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, 25,5 Prozent stark ausgeprägte und 5 Prozent extrem stark ausgeprägte Fehlstellungen, die eine medizinische Behandlung entweder erforderlich, dringend erforderlich oder unbedingt erforderlich erscheinen ließen.

Zahnheilkunde im Wandel der Zeit

Die negativen Auswirkungen von ausgeprägten Zahn- und Kieferanomalien kennt man schon lange. Der griechische Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) erwähnte sie in seinem Werk. Der antike römische Dichter Ovid betonte mehrere hundert Jahre später den Reiz schöner Zähne. Doch das Instrumentarium zur Korrektur von Fehlstellungen war rustikal. Bis weit in die Neuzeit hinein rückte man schiefen Zähnen und einem Raummangel im Kiefer mit Zange und Feile zu Leibe: Um Platz zu schaffen, wurden Zähne kurzerhand abgefeilt oder gezogen.

Der französische Zahnarzt Pierre Fauchard (1678–1761) gilt als Begründer der modernen Zahnheilkunde in Europa. In seinem »Traktat von den Zähnen« berichtet Fauchard auch von »krummen, übel sitzenden Zähnen« und »von den Instrumenten und Mitteln, welche bei der Operation dienlich sind, da man die Zähne gerade richtet und da man sie wieder fest macht«. So entwickelte er das »Bandeau«: eines der ersten kieferorthopädischen Geräte, bestehend aus einem hufeisenförmigen Metallbogen, an dem er die Zähne mit Bindfäden fixierte, um ihre Ausrichtung zu korrigieren. Sein Landsmann Pierre Auzeby empfahl dagegen kleine quellende Holzkeile, um die Zähne in die gewünschte Richtung zu bewegen.

Der US-amerikanische Zahnarzt Edward Angle (1855–1930) war wohl schließlich der Erste, der sich dem Thema »Zahnfehlstellungen« systematisch widmete. Er entwickelte ein Klassifikationssystem für Fehlbisse, das bis heute Anwendung findet, und mehrere Apparaturen, darunter die Brackets.

Hellhörig machen aber regionale Unterschiede. In Bremen unterzogen sich 46 Prozent, in Bayern dagegen 60 Prozent einer kieferorthopädischen Behandlung. Michael Walter drückt es in seinem Statement zur Studie vorsichtig aus: »Die bei Mädchen ermittelten 65 Prozent in Bayern und 63 Prozent in Baden-Württemberg ordnen wir bereits in einen Grenzbereich ein, in dem eine richtlinienbezogene Übertherapie nicht mehr sicher ausgeschlossen werden kann.«

Die meisten Eltern zahlen aus eigener Tasche zu

Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen allen Kindern bis zum 18. Lebensjahr eine Zahnspange, wenn es der medizinische Befund erfordert. Laut älteren Zahlen aus dem Jahr 2016 lassen sich rund 85 Prozent der Eltern jedoch auf außervertragliche Leistungen ein, deren Kosten sie selbst begleichen. Der durchschnittliche Betrag für diese Zuzahlungen liegt bei rund 1200 Euro. Für nahezu alle Zusatzleistungen fehlten robuste wissenschaftliche Daten, die einen zusätzlichen Nutzen bestätigten, schrieben der Kieferorthopäde Alexander Spassov und seine Kollegen im »Gesundheitsmonitor« 2016.

Mit der Begründung, die Behandlung wäre schmerzärmer und kürzer, empfehlen Kieferorthopäden häufig spezielle Brackets und Bögen. Eine Metastudie, die herkömmliche mit angeblich besseren Brackets vergleicht, findet keine Beweise für einen medizinischen Mehrwert. Es sei leider oftmals eine Geschäftemacherei zu beobachten, sagt Gesa Schölgens von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen gegenüber der ARD. Aus Sicht der Verbraucherzentrale seien die Kassenleistungen ausreichend.

Lange Behandlungszeiten im europäischen Vergleich

In Deutschland liegt die durchschnittliche Therapiedauer bei 42 Monaten, in Österreich bei nur 26. Der Grund für das scheinbar schnelle Vorankommen im Nachbarland ist die Einführung einer Pauschale für die kieferorthopädische Behandlung. »Jeder Zahnarzt dort bekommt einen Festbetrag für die Gesamtbehandlung«, schreibt NDR/Panorama.

»Das Behandlungsziel ist, möglichst ideale, funktionale Verhältnisse zu schaffen«Robert Fuhrmann, Zahnmediziner

Hier zu Lande können die Fachärzte die verschiedenen Behandlungsschritte einzeln abrechnen. Wird der festen Spange eine herausnehmbare Variante vorgeschaltet, sitzen die Familien über Jahre immer wieder bei ihnen im Wartezimmer. »Ein Kieferorthopäde, der zwei Jahre mit einer herausnehmbaren Zahnspange arbeitet und anschließend weitere zwei Jahre mit einer festsitzenden, verdient deutlich mehr als ein Kollege, der später beginnt und nur mit festsitzender Spange behandelt«, zitiert das »Magazin Schule« Henning Madsen, einen Kieferorthopäden in Mannheim.

Nutzen und Risiken abwägen

Es lohnt sich also, wenn Eltern vor der Behandlung kritisch nachfragen und sich informieren. Nicht jedes Kind braucht automatisch eine Spange. Die Behandlung kann durchaus Nebenwirkungen haben. »In den Zahnzwischenräumen kann sich bei langer Tragedauer Karies bilden, weil man wegen der Drähte dort nicht gut putzen kann«, weiß Hans-Werner Bertelsen.

Normalerweise achten die Kieferorthopäden darauf. Doch manche Kinder seien besonders anfällig, was mit der individuellen »Speichelgüte« zusammenhänge. »Hat der Speichel nicht genügend Pufferkapazität, entsteht Karies in den Kontaktpunkten zwischen den Zähnen.« Bertelsen sieht in seiner zahnärztlichen Praxis auch so genannte »white spots«, Folgeschäden an der Zahnoberfläche, die durch die Verklebung der Brackets und das dafür notwendige vorherige Anätzen der Zahnoberfläche mit Phosphorsäure entstehen können.

»Mit der Zeit wachsen sich rund 90 Prozent der Zähne gerade, zum Beispiel durch den Druck der Lippen und der Zunge«Hans-Werner Bertelsen, Zahnarzt

Die möglichen Nebenwirkungen sollten sorgsam gegen den tatsächlichen Bedarf abgewogen werden. Die seit den 1970er Jahren gelieferte Begründung, Zahnfehlstellungen führten unweigerlich zu Karies, Parodontitis oder Kiefergelenkserkrankungen, wird nämlich inzwischen von vielen bezweifelt. »Heute ist das nicht mehr haltbar. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass es keinen Zusammenhang zwischen Zahnfehlstellungen und diesen Erkrankungen gibt«, sagt etwa der Kieferorthopäde Alexander Spassov.

Mehr Forschung nötig

Zu einem kritischen Urteil kamen auch die Gesundheitsforscherinnen Stefanie Seeling und Franziska Prütz vom Robert Koch-Institut im Rahmen der KIGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Zwar können Fehlstellungen der Zähne und des Kiefers mit Beeinträchtigungen der Beiß-­, Kau­-, Sprech-­ oder Atemfunktion verbunden sein, und eine kieferorthopädische Behandlung kann daher Funktionsstörungen beseitigen.

Doch hätten eben nicht alle von einer Idealstellung abweichenden Zahn- und Kieferstellungen einen Krankheitswert. »Aktuell wird der medizinische Nutzen von kieferorthopädischen Behandlungen stark diskutiert«, schrieben Seeling und Prütz schon 2018. Der Bundesrechnungshof habe in den Bemerkungen zu seinem Jahresbericht Ziel und Erfolg der Behandlungen als nur unzureichend erforscht bezeichnet und mehr Versorgungsforschung angemahnt.

Was kann man Eltern, deren Kinder ins »Zahnspangenalter« kommen, nun raten? Sie sollten sich auf jeden Fall vor dem ersten Besuch beim Kieferorthopäden gut informieren. Eine Möglichkeit bietet zum Beispiel die Website kostenfalle-zahn.de, ein Angebot der Verbraucherzentrale.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.