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Biomechanik: Zarte Häute fein verpackt

Das Problem kennt jeder vom Stadtplan oder der Straßenkarte: Einmal falsch zusammengelegt, lässt sich das Papier beim nächsten Gebrauch kaum ohne Risse und Knitter auffalten. Was uns ärgert, wäre für Laubbäume und Insekten fatal. Damit deren frische Blätter und zarte Flügel beim Sprießen und Schlüpfen keinen Schaden nehmen, bedient die Natur sich einer ganz besonderen Variante des Origami.
Natur-Origami
Den Malerhut und das Papierschiffchen kann jedes Kind. Vielleicht wissen Sie sogar, wie man einen Trinkbecher oder einen Kranich aus einem quadratischen Blatt Papier zaubert. Wahre Meister der japanischen Falttechnik Origami schaffen in über hundert Schritten Kunstwerke wie Drachen, Insekten, Dinosaurier und geflügelte Pferde, die sich keineswegs hinter den billigen Plastiktierchen aus der Spielwarenabteilung verstecken müssen.

Aber vermutlich ahnten bislang selbst diese Experten der filigranen Faltung nicht, dass lange vor dem Menschen die Natur selbst Origami entwickelt hat. Allerdings kam es ihr weniger auf Ästhetik an als vielmehr auf eine Möglichkeit, große flächige Strukturen auf kleinstem Raum zu verpacken und bei Bedarf gefahrlos zu entfalten.

Vor diesem Problem stehen Bäume und Insekten, wenn sie in Knospen neue Blätter bilden oder sich als Larven Flügel wachsen lassen. Solange nicht alles fertig ist und der Frühling sich zeigt, bleiben die zarten Gebilde komprimiert in der schützenden Hülle. Ist es dann so weit, sie zu entfalten, dürfen sie dabei erstens nicht beschädigt werden, und zweitens soll der Vorgang denkbar wenig Energie kosten. Anforderungen, mit denen sich übrigens auch Weltraum-Ingenieure konfrontiert sehen, wenn sie Sonnensegel zur Energieversorgung von Satelliten entwerfen.

Für die biologischen Systeme haben nun Lakshminarayanan Mahadevan von der Harvard-Universität und Sergio Rica von der Universidad de Chile in Santiago eine verblüffend einfache Lösung gefunden. Alles, was dazu nötig ist, sind zwei fest verbundene, aufeinanderliegende Schichten mit unterschiedlichen Eigenschaften. Die Lage, welche später das Blatt oder den Flügel bilden soll, muss dünn und elastisch, dabei jedoch etwas steif sein. Sie sitzt auf einem dickeren, weichen Trägermaterial.

Lässt man nun den natürlichen Entfaltungsprozess rückwärts laufen, indem man dem Gebilde Wasser entzieht, so schrumpelt es auf besondere Weise zusammen: Zunächst gibt es über die gesamte Fläche verteilt kleine Hügelchen, später richten diese sich entlang größerer Knicke aus. Von oben betrachtet zeigt sich ein Zickzack-Muster.

Miura-Ori-Muster | Miura-Ori-Muster in unterschiedlichen Systemen. (A) Beim Papier sorgen die regelmäßigen Knicke dafür, dass die gesamte Struktur mit einer Bewegung zusammen- oder auseinandergefaltet wird. (B) Ein Blatt entfaltet sich, sobald es die Knospe verlässt. (C) Trocknet Gelatine ein, schrumpelt ihre Oberfläche ebenfalls im Zickzack-Muster. (D) Die Simulation im Computer zeigt, dass sich der Vorgang mathematisch beschreiben lässt.
Diese besondere Faltung wird Miura-Ori-Muster genannt und hat einen riesigen Vorteil, den die Hersteller mancher Landkarten bereits nutzen: Mit einer einzigen Bewegung kann man das ganze Blatt auseinanderziehen oder zusammenschieben – ohne Risse oder Verknüllen. Mathematisch lässt sich das mit der etwas komplizierten Newell-Whitehead-Segel-Gleichung beschreiben und im Computer simulieren. Tatsächlich entstehen dabei Bilder, die verblüffend einem frischen Blatt ähneln.

Einen Unterschied zwischen mathematischer Theorie und biologischer Praxis gibt es allerdings: Echte Blätter und Flügel sitzen nicht mehr auf dem dicken Trägermaterial. Um sie abzulösen, begehen die verbindenden Zellen womöglich Selbstmord, meinen Mahadevan und Rica. Fließen Wasser beziehungsweise Körperflüssigkeit in das Gewebe, entfaltet sich die Struktur nicht nur, es entstehen auch mechanische Spannungen. Die könnten in den Zellen das natürliche Selbstmordprogramm starten und so die Verbindungen kappen. Insgesamt ein recht simples Modell ohne komplizierte Steuerung und vertrackte Mechanismen, aber dennoch mit einem eindrucksvollen Resultat. Eben Origami von seiner besten Seite.

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