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Zelluläre Archäologie: Zeitbombe mal anders

Den Mensch macht vieles zum Menschen - zum Beispiel auch das geniale Zusammenspiel von so rund 1014 einzigartigen Einzelbausteinen, den verschiedenen Zellen unseres Körpers. Alle stammen sie aus einer Eizelle, alle entwickeln ihr ganz eigenes Schicksal im Körper - und keine wird so alt wie wir selbst als Zellkollektiv. Welche Zellen aber sind lang, welche nur ganz kurz Teil des Ganzen?
C-14-Gehalt verrät Alter von Gehirnzellen
Wenn Guinness-Rekord-Ermittler den menschlichen Körper nach verwertbaren Höchstwerten durchforsten, gäbe es einiges Spektakuläres aufzuschreiben. Zum Beispiel in der Disziplin "Lebensdauer von Einzelzellen": Die derzeitige Rekordhalterin, ihr Betätigungsfeld liegt im Knochen, schafft so um die 30 Jahre zu leben, wo bei anderen flüchtigen Gesellen schon nach eineinhalb Tagen endgültig Schluss ist.

Verschiedene Zellen erfüllen in unserem Körper verschiedene Aufgaben eben auch verschieden lang, bevor sie zum alten Eisen gezählt und ausgemustert werden. Geschieht dies, ist das nicht weiter schlimm. Vielmehr sollten wir uns ganz generell jeden Tag ein wenig runderneuert fühlen, denn unser ganzer Körper ist einem stetigen Wandel des Vergehens und Entstehens seiner Zellen ausgesetzt – auch wenn es bei der einen oder anderen mal etwas länger dauert.

Ganz generell? Moment – hier kommt die Ausnahmeausrüstung des Menschen, sein Gehirn. Hirnneuronen, so dachte man, zählen zum exklusiven Klub der Zellen, die niemals ersetzt werden können: Ihre Zahl ist von Geburt an festgeschrieben, von hier an kann es nur noch bergab gehen. Neubildungen der Gehirnzellen, so das Dogma bis vor nicht allzu langer Zeit, finden nicht statt.

Aber wie es mit Dogmen eben so ist: Irgendwann kratzt etwas an ihnen. Auch Gehirnzellen können sich neu bilden, meint man mittlerweile sagen zu können. Womit nun aber die nächsten Fragen auftauchen: Warum bilden sich Gehirnzellen, wann, und wen ersetzen sie möglicherweise? Wie lange machen es dann Gehirnzellen, bevor sie ausgetauscht werden müssen? Letztere Frage glaubt Kirsty Spalding und ihre Kollegen vom schwedischen Karolinska-Institut mit Hilfe von Atombombentests beantworten zu können.

Doch, da stand wirklich Atombombentests. Genau gesagt, nutzen die Forscher eine nicht wieder gut zu machende Sünde aus den tiefsten Zeiten des Kalten Krieges: Die überirdischen Kernwaffen-Explosionen, welche die Atommächte in den 1950er Jahren zu militärischen Testzwecken durchgeführt haben, bevor sie sich das unverantwortliche Tun 1963 dann selber per Atomteststopp-Vertrag verboten. Schaden für die Umwelt war indes schon angerichtet: Genau in jener kalt-kriegerischen Phase stiegen die Konzentrationen des sonst sehr seltenen Kohlenstoffisotops C-14 in Folge der das Isotop freisetzenden Atomtests in der Atmosphäre extrem stark an.

C-14 ist für altersinteressierte Wissenschaftler natürlich kein Unbekannter: Der radioaktive Kohlenstoff entsteht seit Urzeiten kontinuierlich neu in der Atmosphäre, alle 5730 Jahre zerfällt die Hälfte des Nachschubs wieder. Organismen, die zu Lebzeiten das Isotop aufnehmen und in ihre Zellen einbauen, enthalten das umwelttypische Verhältnis von C-14 zu C-12 – bis sich anlässlich ihres Todes alles ändert. C-14 zerfällt radioaktiv und verändert die im Tod nicht mehr stetig von außen aufgefrischte Kohlenstoffmischung, an der man dann den Zeitpunkt des Ablebens und das Alter der Organismenreste bestimmen kann.

Ganz ähnliches, nur in anderen Zeitdimensionen, praktizierten jetzt auch die schwedischen Forscher um Spalding. Seit dem extremen, bombentestbedingten C-14 Anstieg bis 1963 verschwindet das Isotop recht flott wieder aus der Umwelt – alle elf Jahre sorgt nämlich nicht radioaktiver Zerfall, sondern allmähliche Verdünnung in Ozeanen und Biosphäre für ein stetes Absinken der unnatürlich hohen Isotopenkonzentration um jeweils 50 Prozent. Daraus lässt sich eine komfortable Eichgerade der charakteristischen Kohlenstoff-Isotopenverhältnisse des letzten halben Jahrhunderts erstellen, die sich etwa in Baumringen bewährt, wie Spelding und Kollegen zeigten: Jeder Ring und enthält die in der jeweiligen Gegend jahrestypische Mischung der beim damaligen Wachstum eingebauten Kohlenstoffisotope.

Und Bäume sind letztlich auch nur Menschen, schlussfolgerten die Wissenschaftler, bevor sie die Methodik ein wenig für den Hausgebrauch der Neuroforscher umfeilten. Zunächst isolierten sie aus verschiedenen lebenden menschlichen Zellen DNA – und damit jenes Molekül der Zelle, welches als einziges kohlenstoffhaltiges Molekül nicht ständig um-, sondern nur zu Beginn des Zelllebens einmal aufgebaut wird. Dabei bekommt das Erbgut also die charakteristische Isotopenmischung mit. Und diese verrät sie den Forschern dann bei Analysen per hochempfindlicher Beschleuniger-Massenspektrometrie.

Das klappt soweit ganz gut, berichten die Wissenschaftler: Kurzlebige Zellen enthalten nur das typische Gemisch der jüngsten Vergangenheit, Zellen des Eingeweidetrakts dagegen ein Isotopengemenge, welches belegt, dass sie rund elf Jahre alt werden können. Die Lebenserwartung von Skelettmuskeln betrug dagegen etwa 15 Jahre. Und Gehirnzellen?

Zellen der grauen Substanz des Kleinhirns, so die Ergebnisse, waren stets fast genauso alt wie die Personen, die als Probenspender hergehalten hatten, die der Großhirnrinde dagegen durchschnittlich nur etwas jünger. Zu den jüngsten Dogma-stürzenden Erkenntnissen, nach denen bei erwachsenen Ratten ganze Neuronen in der Großhirnrinde neu entstehen können – also eine "adulte Neurogenese" stattfindet – passt der C-14-Befund am Menschen also nicht so recht. Das bestätigten auch genauere Analysen der Neuronen im Hinterhauptslappen erwachsener Menschen – gerade dort vermuteten Forscher die Neurogenese jüngst auch beim Menschen. Die Kohlenstoffisotope aber belegen, dass auch hier die Nervenzellen stets etwa das Alter des Menschen selbst haben.

Zumindest in dieser Hirnregion also ist adulte Neurogenese wohl auszuschließen. Lernen und Neuronenneubildung müssen im Übrigen nichts miteinander zu tun haben. Im Gegenteil, so eine nun wieder Wind in die Segel bekommende Theorie: Aus einem vorhandenen unspezifischen Gestrüpp von Nervenzellen formt Sinneserfahrung eher durch Aus-, statt durch Aufforsten neue Kenntnisse.

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