Glashandwerk: Zerbrechliches Gold
Mir persönlich ist Glasgeschirr lieber (als solches aus korinthischer Bronze), jedenfalls stinkt es nicht!", poltert der neureiche Gastgeber in "Das Gastmahl des Trimalchio". Titus Petronius Arbiter, Satiriker des 1. Jahrhunderts n. Chr., ließ seine Romanfigur ein ums andere Mal gegen die Etikette verstoßen – in diesem Fall aber auch trefflich eine Qualität des Werkstoffs Glas loben.
Glas ist eines der ältesten synthetisch hergestellten Produkte der Menschheitsgeschichte. Es entsteht bei hohen Temperaturen von 1200 bis 1400 Grad Celsius. Dann nämlich schmilzt die Mischung aus Quarzsand, Natron als Flussmittel zur Senkung des Schmelzpunkts und Kalk zur Stabilisierung der Glasmasse. Bereits im späten 3. Jahrtausend v. Chr. verarbeiteten mesopotamische Handwerker den "Kunststoff" zu Perlen und Schmuck. Die Ägypter stellten kleine Gefäße daraus her: Dafür wickelten sie noch heiße, zähflüssige Glasfäden von unterschiedlicher Farbe um einen massiven Tonkern, der durch die vorherige Zugabe von Pflanzenmaterial nach dem Erkalten des Glases leicht herausgekratzt werden konnte.
Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. verstanden sich griechische Glasmacher dann auf die Herstellung größerer Behältnisse wie Schalen oder Schüsseln: Ein heißer Glasfladen wurde über eine halbrund gewölbte Tonform gelegt und senkte sich langsam darauf ab. Anschließend schliffen und polierten die Handwerker das erkaltete Gefäß und schnitten gelegentlich einen Dekor in die Oberfläche.
Pfiffige Erfindung
Mit dieser Technik ließ sich allerdings nur eine eingeschränkte Palette von Gefäßformen fertigen. Zudem beanspruchte die Herstellung viel Zeit. Im 1. Jahrhundert v. Chr. änderte sich dies entscheidend. Glashandwerkern im heutigen Syrien, Israel oder Palästina gelang eine technische Revolution, von der Künstler auch heute noch profitieren: die Erfindung der Glasmacherpfeife – vermutlich ein zirka ein bis anderthalb Meter langes Metallrohr, mit dessen Ende ein heißer, zäher Glasklumpen aufgenommen wurde. Anschließend blies der Glasmacher das "Külbel" wie eine Seifenblase auf, drückte, zog und zwickte es mit Zange und Schere, bis es die gewünschte Form angenommen hatte. Eine der womöglich ältesten Werkstätten, in der die neue Kunstfertigkeit praktiziert wurde, legten Archäologen 1971 im jüdischen Viertel der Altstadt von Jerusalem frei. Geblasenes Glas entstand dort bereits im frühen 1. Jahrhundert v. Chr.
Die Technik verbreitete sich schnell im gesamten Imperium – wenige Jahrzehnte vor der Zeitenwende hatte das junge Handwerk Italien erreicht. Bald begann man auch, das Glas in Hohlformen aus gebranntem Ton einzublasen, um Gefäße gleicher Art und Größe in Serie herzustellen. Solche Model bestanden oft aus mehreren Teilen, an deren Innenseiten üppige Muster eingeschnitten waren, die sich auf die Glasmasse übertrugen. Mit dieser Methode war dem Formenspektrum der Gefäße kaum Grenzen gesetzt: So fanden Archäologen Becher, Krüge, Schüsseln, Flaschen oder kleine Amphoren verziert mit Rillen, Buckeln, Rauten, Ranken, Kreisen und Figuren – sogar Gefäße in Gestalt von Früchten oder menschlichen Köpfen. Dass die Handwerker des 1. Jahrhunderts n. Chr. diese Produkte mit einer guten Portion Stolz auf den Markt brachten, lassen Signaturen auf den Behältern vermuten, denen öfter der Zusatz "hat es gemacht" folgte – auch wenn nicht ganz auszuschließen ist, dass damit nicht der Glasbläser selbst, sondern der Werkstattbesitzer gemeint war.
Im Lauf der römischen Kaiserzeit erweiterten die Handwerker ihr Repertoire beträchtlich. Gläserne Parfümflakons, Spiegelscheiben, Haarnadeln oder Reibstäbe für Salben zählten bald zum alltäglichen Kosmetikzubehör. Ein Teil des antiken Hausrats, wie Lampen, Tintenfässchen, Löffel oder Messergriffe, konnten ebenfalls aus Glas bestehen – bis hin zu bunten Spiel- und Zählsteinen. Glaswürfelchen verwendeten Künstler auch für ihre prächtigen Mosaike.
Vermutlich mit dem römischen Militär gelangten diese Fertigkeiten auch in die Gebiete am Rhein, wo bis dahin fast nur Armringe und Perlen aus dem fragilen Material bekannt waren. So entdeckten Forscher im Legionslager des heutigen Bonn Reste von mehreren Glasöfen aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. In der Nähe eines jener Öfen kam eine Vielzahl zerbrochener Kalksteinplatten zu Tage, die sich als Seitenwände und Böden von mehrteiligen Hohlformen herausstellten (siehe Bild). Ihrer Gestalt nach zu urteilen ließen sich mit diesen Modeln serienweise vierkantige Glasgefäße fertigen. Von anderen römischen Fundorten wie Köln, Lyon oder dem französischen Aoste sind ähnliche Teile aus Marmor, Kalkstein oder Keramik bekannt. Damit die Innenkanten der Formen saubere Fugen bildeten, hat die Bodenplatte in der Mitte eine quadratische Erhöhung – so konnte man die vier Wandteile eng an diesen Absatz anfügen. Und zwei gegenüberliegende Seitenwände stießen mit ihren Außenrändern an die Innenseite der beiden anderen an. In das Bodenteil tieften die Handwerker bisweilen noch Muster ein, zum Beispiel Quadrate, Halbkreise oder Rosetten.
Einfach gesteckt
Wie die Glasexpertin Anna-Barbara Follmann-Schulz, ehemalige Mitarbeiterin am Bonner LVR-LandesMuseum, herausfand, besitzen die Bonner Kalksteinplatten an den Randflächen mehrere Zentimeter tiefe Löcher. Auch die Böden sind unmittelbar neben dem Absatz viermal eingebohrt. Fügt man Boden- und Seitenteile zusammen, so zeigt sich, dass die jeweiligen Bohrkanäle zu den Vertiefungen in der Nachbarplatte passen. Möglicherweise ließ sich das gesamte Ensemble mit Holzstiften fixieren und die Form aufrecht hinstellen, die einst schätzungsweise acht bis neun Kilogramm wog. Bisher haben Archäologen ein solches Stecksystem nirgends sonst nachweisen können. Andernorts waren die Formen vielleicht in die Erde eingelassen, so wie es 1780 Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d'Alembert in ihrer "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonnée des sciences, des arts et des métiers" für die Flaschenproduktion des 18. Jahrhunderts dokumentierten.
Dass die römischen Glasbläser eckige Gefäße in großen Mengen produzierten, hatte vor allem praktische Gründe: So ließen sie sich dicht an dicht zusammenstellen und Platz sparend verstauen. Die Reste einer so gefüllten Holzkiste fanden sich beispielsweise in einem römischen Grabhügel nahe dem belgischen Gembloux aus der Zeit um 200 n. Chr. Übrigens wiesen solche Gefäße ein genormtes Volumen auf – zum Nutzen von Händlern und Käufern.
Mit der Glasmacherpfeife wandelte sich Glas vom Material für Prunkgeschirr zum Werkstoff für die Massenproduktion. Doch sei es in Form von schlichten Flaschen oder kunstvoll gearbeiteten Luxuswaren (siehe Kasten) – Glas genoss bei den Römern hohe Wertschätzung. Aus dem Mund des Prahlhanses Trimalchio mag es übertrieben klingen, wenn er sagt: "Wäre Glas unzerbrechlich, hätte ich es lieber als Gold!" Doch dass offenbar viele diese Ansicht teilten, lässt uns der Gelehrte Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. ahnen: "Das höchste Ansehen genießt das weiße, durchsichtige Glas, weil es die größte Ähnlichkeit mit Bergkristall hat. Seine Verwendung für Trinkgefäße hat die Metalle Silber und Gold verdrängt."
Geschliffen oder gepresst?
Im frühen 4. Jahrhundert n. Chr. hatte die Virtuosität römischer Glaskünstler einen glanzvollen Höhepunkt erreicht: In Werkstätten, die sich vermutlich in Köln, Trier, Rom und Alexandria befanden, entstanden dünnwandige Becher, um die sich – verbunden über schmale Stege – ein feingliedriges Glasnetz legt. Dass solche Diatretgläser (von "diátretos", griechisch: durchbrochen, durchbohrt) beredtes Zeugnis von der Prachtentfaltung reicher Römer in der Spätantike ablegen, darüber waren sich Archäologen schon immer einig – weniger allerdings darüber, wie die Glashandwerker diese filigranen Becher einst herstellten.
Untrügliche Hinweise, dass sie in aufwändiger Schleifarbeit entstanden, erkannte 1930 der deutsche Archäologe Fritz Fremersdorf: An der Außenseite einiger Becher sowie an den Stegen und Kanten des Netzdekors bemerkte er Schleifspuren – offenbar hatten die spätrömischen Handwerker zunächst einen dickwandigen Rohling geblasen (siehe Grafik a) und anschließend den Gefäßrand sowie die obere Kante des Netzwerks mit einem rotierenden Schleifrädchen herausgearbeitet (b). Wie auf einer Grabstele aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. zu sehen, trieb man das fest montierte Werkzeug mit einem Fiedelbogen an. Danach tieften die Handwerker das Glasgeflecht grob ein (c) und höhlten es in monatelanger Feinarbeit aus (d und e). Spätestens seit es vor über 30 Jahren dem Künstler Josef Welzel von der Glasfachschule Hadamar in Experimenten geglückt war, Diatrete auf diese Weise herzustellen, fand die These von Fremersdorf breite Zustimmung.
"Heute spielt es keine Rolle, wenn beim Schleifen eines dickwandigen Rohlings etwa 70 bis 80 Prozent der Glasmasse in Schleifstaub verwandelt werden", bemerkte hingegen Rosemarie Lierke in den 1990er Jahren. Damals wäre solche Verschwendung undenkbar gewesen. Die Glashandwerkerin sah sich die antiken Netzbecher noch einmal genauer an und entdeckte in den dünnen Innenbechern flach gedrückte Bläschen, wie sie sowohl beim Blasen als auch Pressen von flüssigem Glas entstehen. Für Letzteres spräche aber, dass einige Diatrete innen umlaufende Kratzer aufweisen. Außerdem gäbe es an keinem Exemplar geöffnete Luftbläschen, was beim steten Abschleifen der Glaswandung zu erwarten sei. Lierkes Fazit: "Die Rohlinge müssen zweischalig gewesen sein!"
So habe der Künstler zunächst heiße Glasmasse mit Hilfe eines Pressstempels in eine Hohlform gedrückt, während diese auf einer beweglichen Scheibe rotierte (siehe Grafik 1). Anschließend setzte er einen perforierten Gipsbecher ein (2) und presste erneut Glasmasse in die Form (3 und 4), die durch die Löcher mit dem äußeren Becher verschmolz (5). Nach dem Erkalten wurden aus der äußeren Schale Netzmaschen ausgeschnitten (6), die Gipsschale dabei entfernt und die Stege zur Innenwand zurechtgeschliffen (7). Lierke ist sich sicher, dass die Herstellung eines Diatretglases mit dieser Technik nur wenige Tagen benötigt – im Experiment gelangen ihr aber nur recht grobe Gefäße, die "zeigen konnten, dass das Prinzip realistisch ist".
Neuen Schwung in die Debatte brachten Scherben eines Diatrets aus der spätantiken Nekropole unter der Kirche Saint-Laurent in Grenoble. 2010 nahm die deutsche Restauratorin Marylen Kappes vom Centre de restauration et d'études archéologiques municipal in Vienne die wenige Zentimeter großen Fragmente genauer unter die Lupe – und stellte fest: "Die Bruchstücke stammen von dem Werkstück eines Diatretglases – das einzige, das wir bislang kennen!" So besitzen alle Splitter eine aufgeraute Oberfläche, wie sie beim Bearbeiten mit der Schleifscheibe entsteht. Zudem sind auf einigen Stücken eingeritzte Linien zu erkennen: Allem Anschein nach hatte der Handwerker die Netzstruktur vorgezeichnet.
Doch war der Rohling gepresst oder aus dem Vollen geschliffen worden? Einen entscheidenden Hinweis lieferte das mit gut einem Zentimeter dickste Fragment: Daran sind ein Stück des fragilen Innenbechers sowie der obere Rand des späteren Netzwerks erhalten, der mit dem Schleifrädchen bereits mehrfach unterhöhlt wurde. "Damit steht für diese Diatretfragmente fest, dass man den Rohling nicht gepresst, sondern sukzessive abgeschliffen hat", resümiert Kappes.
Ob die römischen Glaskünstler aber immer nach derselben Methode vorgingen, bleibt ungewiss – ebenso, was der eigentliche Zweck der Netzbecher war. Trinksprüche auf manchen Gläsern deuten an, dass daraus getrunken wurde – ein Exemplar, an dem eine Aufhängung aus Bronze erhalten ist, lässt hingegen erahnen, dass es sich um eine Hängelampe handelte.
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